Spiel mit Text und Bild

2016 ist das Jahr, in dem Brettspiele begannen, Geschichten zu erzählen – vor allem zwei Spiele bewegten und beschäftigten die Branche. Zum Auftakt der weltweit größten Messe für analoge Spiele – in Essen.

Der Jahreskreis für Brettspieler neigt sich dem Ende zu. Vom 13. bis 16. Oktober findet wieder die weltweit größte Messe für analoge Spiele in Essen statt. Doch bevor die rund eintausend neuen Spiele von Verlagen aus knapp einhundert Ländern ins Rampenlicht rücken, bleibt noch Zeit für einen raschen Blick zurück auf das Jahr, in dem Brettspiele begonnen haben, Geschichten zu erzählen.

Brettspiele sind eigentlich keine guten Geschichtenerzähler. Im Gegensatz zu Buch, Theater und Film kann sich der Betrachter nicht uneingeschränkt auf den Verlauf der Erzählung konzentrieren. Vielmehr gilt es, Spielmaterial erst mit Leben zu erfüllen – das Brettspiel nimmt keine Arbeit ab. Wer gewinnen möchte, muss die eigene Strategie immer wieder anpassen und auf die Aktionen der Mitspieler reagieren. Da bleibt wenig Zeit für eine entspannte Rezeption der Geschichte. Vielschichtige Charaktere müssen richtig aufgestellten Miniaturen weichen, und thematisch stimmige Texte auf Karten verblassen hinter deren Funktion im Spiel. Nein, Brettspiele sind zu mühsam in ihrer Erarbeitung, um Erzählung im klassischen Sinn zuzulassen.

Und trotzdem wird das vergangene Jahr vermutlich das Jahr der auf dem Brett gespielten Geschichten werden. Zwei Spiele haben die Branche bewegt und beschäftigt. Dabei sind die beiden zugrunde liegenden Konzepte nicht unbedingt neu. Aber erst eine neue Generation von Spieleautoren – stark verwurzelt in der Videospielkultur – hat das ungenutzte Potenzial erkannt. Beide Spiele überraschen. Immer wieder. Und das, obwohl sie nicht beliebig oft gespielt werden können.

Bei „T.I.M.E Stories“ von Manuel Rozoy – eigentlich Game Designer bei Ubi Soft – verkörpern wir Agenten, die durch die Zeit reisen und sogenannte Wirtskörper übernehmen, um verschiedene Fälle zu lösen. Das Grundspiel beinhaltet lediglich einen solchen Fall – angesiedelt in einer Irrenanstalt im Jahr 1927. Ist dieser einmal gelöst, ist die Luft draußen, und es müssen neue Fälle nachgekauft werden. Bis es aber so weit ist, vergehen voraussichtlich mehrere Durchläufe. Denn wir haben nur eine beschränkte Anzahl Zeiteinheiten zur Verfügung, um dem jeweiligen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Geht uns die Zeit aus, werden die Agenten in die Gegenwart zurückgeholt, und wir müssen von vorn beginnen. Was wir bisher erlebt haben, hilft uns – der eigentliche Ablauf bleibt nämlich gleich. Darum sind Notizen zu empfehlen, denn die Geschichten und Rätsel sind vielschichtig und teilweise wunderbar verschachtelt. Ist das genannte Abenteuer in der Irrenanstalt rätsellastig und eher gemütlich, wird der Rhythmus beim zweiten Fall kurzatmig und drängend – passend zur Thematik „Zombies“. Jeder Fall wird von verschiedenen Autoren entwickelt und von Illustratoren visualisiert.

Wie erwähnt, ist das zugrunde liegende Konzept nicht neu. Mitte der 1980er-Jahre waren sogenannte Abenteuerspielbücher bei Lesern äußerst beliebt. Darin durfte an vordefinierten Stellen dank Hypertextstruktur entschieden werden, wie die Geschichte weitergehen sollte. Wer etwa mit seinem Helden in „Stadt der Diebe“ durch die Schlüsselgasse gehen wollte, musste bei 95 weiterlesen. Wer hingegen die Marktstraße einladender fand, las bei 116 weiter. „T.I.M.E Stories“ bricht dieses Konzept auf und ordnet die Elemente nicht starr in einem Buch an, sondern verteilt sie auf Karten und macht damit aus dem Soloabenteuer eine Art Multi-User-Abenteuerspielbuch. Die Orte in „T.I.M.E Stories“ bestehen aus einem Kartenpanorama. Jeder darf mit seiner Figur eine Karte besuchen, diese aufnehmen, sie umdrehen und lesen. Was sich hinter den Karten verbirgt, ist so vielschichtig wie das Medium Papier. Und so überraschen die Fälle immer wieder mit Innovationen, die nicht nur bildlich und textlich die Geschichte transportieren, sondern auch durch das Spielgefühl, kleine Rätsel und immer neue Minispiele. Es ist ein buntes Durcheinander an Anforderungen, das vom Thema des Falls zusammengehalten und so zu einer Geschichte wird.

Wesentlich stringenter ist diesbezüglich „Pandemic Legacy“ von Matt Leacock und Rob Daviau. Das Spiel erstreckt sich über ein fiktives Jahr, in dem wir versuchen, einer globalen Pandemie Herr zu werden. „Pandemic Legacy“ basiert auf dem überaus erfolgreichen kooperativen Spiel „Pandemie“ aus dem Jahr 2007. Im Grunde funktionieren beide Spiele gleich: Gemeinsam versuchen wir, das Spielsystem zu besiegen. Dabei sorgt ein einfacher Mechanismus dafür, dass sich die Seuchen – dargestellt durch kleine Würfel – nicht beliebig, sondern sehr konzentriert und beängstigend realistisch ausbreiten. Das an sich schon mitreißende Spiel wurde von Rob Daviau um die sogenannte Legacy-Komponente ergänzt. Bereits 2011 zeichnete Daviau als Autor von „Risiko Evolution“ verantwortlich.

Spiel mit Episodencharakter

Die Prämisse hinter dem Legacy-Konzept ist einfach: Mit jeder Partie entwickelt sich das Spiel weiter und verändert sich. Der daraus resultierende Episodencharakter hält das Spiel über viele Partien frisch und macht neugierig auf die überraschenden Veränderungen des bisher Unveränderbaren. Bei Legacy-Spielen wird Spielmaterial per Hand beschriftet, neue Regeln werden per Sticker ins Regelheft oder auf den Spielplan geklebt, Kuverts mit neuem Material geöffnet oder gar Karten zerrissen.

War „Risiko Evolution“ noch ein tolles Konzept für ein eher bescheidenes Spiel, passt bei „Pandemic Legacy“ nun auch der spielerische Gehalt. Leacock und Daviau schaffen es, die Spieler von Partie zu Partie bei der Stange zu halten, Cliffhanger und schockierende Momente inklusive. Jede Partie fühlt sich anders an. Egal, wie wir als Team abschneiden, das Spiel und die erlebte Geschichte gehen weiter – zwölf bis 24 Partien stecken in der Schachtel.

„Pandemic Legacy“ und „T.I.M.E Stories“ erzählen Geschichten also vorrangig durch den Bruch mit Konventionen. Im Lauf der verschiedenen Partien ändern sich die Regeln, und irgendwann ist endgültig Schluss. Gerade durch diese strukturelle Dekonstruktion wird es möglich, so etwas wie eine Dramaturgie ins Spiel zu bringen. Somit haben Spiele nicht durch Text und Bilder gelernt, Geschichten zu erzählen, sondern vielmehr durch ihre ganz eigene Wesensart. Und die Spieleautoren haben es nun endlich verstanden, diese zu nutzen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2016)

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