Die Nerds kommen!

Südkorea ist bekannt für berühmt gewordene Videospieler und Spielsucht. Dass das Land mit der höchsten Internetgeschwindigkeit und höchsten Handynutzerrate aber auch ein Hub für neue Videospiele ist, weiß im Ausland kaum jemand. Dabei boomt das Geschäft seit Langem. Über Koreas Gaming-Szene.

Ich bin ein Nerd“, stellt sich Jiung Na vor. Ein Typ also, der sein Hobby, das viele für seltsam halten würden, exzessiv auslebt. Der stämmige 30-Jährige mit Strickjacke steht vor einer Wand mit mehr als 50 verschiedenen Smartphonemodellen. Auf einem Tisch davor liegt sein eigenes Handy, eines mit großem Bildschirm, viel Platz für Spielkram also. Und damit führt der Unternehmer auch das vor, was ihn zu einem Nerd macht: sein erstes eigens entwickeltes Spiel für Smartphones. „Nach der Uni hab ich erst als Betriebswirt für ein großes Unternehmen gearbeitet. Aber eigentlich wollte ich immer nur Games zocken.“ Also kündigte Jiung Na seinen Job und tat das Offensichtliche: ein Spiel entwickeln, das er selbst gern spielen würde.

Dabei herausgekommen ist eine antike Fantasiewelt, in der leicht bekleidete Mädchen mit langen Beinen und kurzen Röcken gegeneinander kämpfen und aufeinander aufbauende Aufgaben bestehen müssen. Über ihren Köpfen eingeblendete Energiebalken zeigen an, wann sie oder ihre Gegner besiegt sind. Da die harten Kämpferinnen so lieb aussehen und vermeintlich unnötig viel Haut zeigen, wirkt das Spiel zunächst sexistisch. Aber es hat Erfolg. In Hongkong, wo „Legend of Asteria“ vor Kurzem veröffentlichtwurde, ist es ein heißer Tipp. Einige Preise hat es auch schon gewonnen. „Diejenigen, die unser Spiel herunterladen, sind vor allem junge Männer“, sagt Jiung Na.

Seit einem Jahr hat Jiung Na in einem öffentlich geförderten Start-up-Zentrum in Seoul ein Büro, weil seine Ideen für zukunftsträchtig gehalten werden. Die Handys an einer der Wände stehen ihm zur Verfügung, um seine Entwicklungen auf allen möglichen Handymodellen zu testen. Viele der Start-ups hier, die sich auf das Entwickeln von Spielen spezialisieren, profitieren von der guten Infrastruktur, die ihnen der Staat bietet. So dürfte der Boom der koreanischen Gamingbranche noch länger anhalten. Über einen Mangel an Kunden können sich Unternehmer wie Jiung Na nicht beklagen. Der Download des Spiels ist kostenlos, bestimmte Elemente darin, etwa besonders gute Bewaffnung oder neue Fähigkeiten der Spielfigur, müssen dazugekauft werden.

So verdient das Unternehmen sein Geld, und die Kunden werden bei Laune gehalten. In freien Minuten im Zug oder beim Warten auf eine Verabredung zocken junge Koreaner gern auf ihrem Telefon. Die riesigen Bildschirme der Handys von Samsung, hier längst Standard, machen das Spielen auf dem Handy weniger lästig als noch vor einigen Jahren. Und die meisten Entwicklungen eignen sich für ein kurzes Vergnügen. Heißt: kurze Abstände, bis der Nutzer den Stand getrost abspeichern und weglegen kann. Das mag auf Kosten der Spieltiefe gehen. „Aber das heißt nicht, dass es dich nicht mit einer unglaublichen Sogkraft in die Story hineinzieht!“, beteuert Jiung Na.

Für digitale Spiele und einen kräftigen Sog kam aus Südkorea in den vergangenen Jahren fast immer die gleiche Story: die der jungen Gamer-Superstars der E-Sports (Electronic Sports), die durch erfolgreiches Computerspielen im Netzwerkmodus bei großen Turnieren gewinnen, hohe Prämien einstreichen und den Status eines Prominenten erreichen. Die Schattenseite dieser meist Jungerwachsenen, die ihr Hobby zu einer Goldgrube machen, ist das hohe Vorkommen der Spielsucht in Südkorea. In den großen Städten verteilen sich Spielhallen für Onlinegames ohne Ladenschlusszeiten in jedem Viertel. Die Regierung begann vor einigen Jahren, den Bereich zu regulieren, um dem jüngsten Phänomen, Tod durch Spielsucht, künftig vorzubeugen.

Videospielaffin ist man in Korea schon länger. Mit dem durch lange Arbeitsstunden ermöglichten ökonomischen Turbowachstum nach Ende des Korea-Kriegs 1953 nahm mit steigendem Wohlstand die Suche nach neuen Freizeitaktivitäten zu. Der ostasiatischeVideospielboom der 1990er-Jahre, befeuert durch Konsolen von japanischen Unternehmen wie Nintendo und Sega, schlug dann in Korea durch. Als die Digitalisierung ein Jahrzehnt später die Handys erreichte, eroberte insbesondere das koreanische Konglomerat Samsung den Markt für Smartphones. Und an dieses neue Riesengeschäft dockten unabhängige Spieleentwickler an, die meisten aus Seoul. Schließlich gibt es weltweit kaum fruchtbareren Boden als Korea: Nirgends ist das Internet schneller, nirgendwo haben die Leute häufiger ein Smartphone.

Mittlerweile ist die Gamingbranche groß geworden, so groß, dass die Regierung auf den Zug aufgesprungen ist und sie als Wachstumsindustrie begreift. Mehrere Start-up-Zentren wurden in den vergangenen Jahren durch die Politik gegründet, damit neben Unternehmern, die an Künstlicher Intelligenz, Halbleitern oder Kommunikationstechnologien arbeiten, auch in der Gamingbranche Neues entsteht.

Simulator für Einbrecher

Es geht aber nicht nur um Spiele auf dem Smartphone. Mit einer Virtual-Reality-Brille, mit der ein Nutzer im 360-Grad-Panorama Filme oder Spiele erleben kann, wird in einem dieser Zentren am Rand von Seoul gerade ein „virtual girlfriend“ entwickelt, eine imaginäre Freundin. Nicht weit davon tüfteln Entwickler an einem Simulator für Einbrecher, wobei der Nutzer in Ego-Shooter-Perspektive spielt, also förmlich in den Körper des Protagonisten schlüpft und aus dessen Sicht alles erlebt.

Von Virtual Reality erhofft sich die Szene eine Menge Neues. „Das wird ein riesiger Markt“, sagt Dillon Seo, der mit seinem Start-up VoleR in einem weiteren Start-up-Zentrum gerade an jener virtuellen Freundin bastelt. „Wenn sich die Hardware durchsetzt und sich jeder eine VR-Brille leisten kann, entsteht eine neue Plattform für alles Visuelle und Virtuelle.“ Wer so eine Brille aufsetzt, steigt in eine andere Welt ein. Man kannvirtuelle Reisen unternehmen, vermeintlich hautnah mit jemandem, der die gleiche Technologie nutzt, kommunizieren oder sich mit neuen, interaktiven Methoden weiterbilden. „Und die Gaming-Erfahrung wird natürlich ganz neu sein“, sagt Dillon Seo. Noch sei diese Weiterentwicklung Zukunftsmusik. „Noch“, betont der Gründer.

Bis sich die Technologie durchsetzt, dürften die einfacheren Spiele auf dem Handy weiterboomen. So wie jenes mit halb nackten Mädchen, die durch den Wald rennen und sich gegenseitig bekämpfen. „Es gibt ziemlich viele Nerds“, grinst Jiung Na, der Erfinder von „Legend of Asteria“. Und wer es nicht schon sei, könne es noch werden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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