Murmeln, Drachen, Tempel

Auch für Gesellschaftsspieler jeder Fasson bietet die Nürnberger Spielwarenmesse so viel, dass es im übergroßen Angebot schwerfällt, sich auch nur ungefähr zu orientieren. Wir versuchen es trotzdem. Vierter und letzter Teil unserer Messeserie.

Die Nürnberger Spielwarenmesse ist, wie schon in den vergangenen Wochen berichtet, kein besonders verspielter Ort. Die weltgrößte Messe für alles, was nicht nur Kinderherzen erfreuen kann, kommt nicht nur ohne diese Hauptzielgruppe der Industrie aus, auch die zahlreichen Erwachsenen auf der Messe haben anderes im Sinn, als zu spielen: Sie reden über Kosten, Erscheinungsdaten und Liefertermine, über die großen Trends und die Marktentwicklung im Allgemeinen. Verkürzt gesagt: In Nürnberg schieben erwachsene Männer in Anzügen einander mit der einen Hand Legosteine, mit der anderen Geldscheine zu.

Schaukelpferd statt Charme

Ein Einsprengsel der Verspieltheit gibt es aber in den schier endlosen Messekorridoren, eine wahre Oase zwischen den langen Reihen von immergleichen Ständen voller Plüschtiere und Faschingskostüme, Modelleisenbahnen und Dreiräder: Das Spiele-Caf´e der deutschen Zunft der Spieleautoren. Dezent in der hinteren Ecke der Halle versteckt, in der die Dutzenden kleinen Spieleverlage – die meisten davon Familienunternehmen –, die Europa und die ganze Welt mit Gesellschaftsspielen versorgen, ihre Neuheiten präsentieren, ist das Caf´e ein Refugium für Spieleautoren, -verleger, -journalisten und generell für jeden, der im Messetrubel einige Minuten ausspannen möchte.

Freilich, beim Charme muss man einige Abzüge machen: Zwischen Messewänden sind würfelförmige Hocker mit dem Logo der Messe, dem Schaukelpferd, aufgestellt, rote Kunststofftische müssen als Spielfläche herhalten, und im Zweistundentakt sind Vorträge der Stars der Spieleautorenszene angesetzt: Die Größen der Branche – von Klaus Teuber bis Reiner Knizia – sind ebenso angesetzt wie aufstrebende Jungtalente. Insgesamt ist das Spiele-Caf´e aber einer der wenigen Orte auf der Messe, an denen tatsächlich junge Menschen beisammensitzen und spielen – ob es jetzt eine der aufliegenden Neuheiten ist oder einfach nur das klassische Schnapsen (zum Beispiel mit den brandneuen Royal Wedding-Spielkarten von Piatnik mit Bildern von Kate und William), in diesem Eck findet sich jede Spielvariante. Mittendrin trifft man auch österreichische Größen – nicht zuletzt die Schirmherren der heimischen Gesellschaftsspielszene, Dagmar und Ferdinand De Cassan. Sie sind nicht (nur) gekommen, um hier die Neuheiten des Jahres zu sondieren, die sie im Laufe des Jahres mit ihrem „Wiener Spielekreis“ testen und im Sommer mit dem „Spiel der Spiele“-Preis auszeichnen werden. Die beiden sind auch – und vor allem – gekommen, um Kontakte zu knüpfen und „die Werbetrommel für das Spielefest zu rühren“. Letzteres stellt ja insofern das Gegenteil zur Nürnberger Messe dar, als es sich nicht an Businesspartner, sondern ausschließlich an die Endverbraucher, die Spieler, richtet. „Es ist wichtig, dass wir das ganze Jahr über Kontakt zu den Verlagen halten, sonst kommen die nicht mehr zu uns“, betont Ferdinand De Cassan. Österreich sei ein – aufgrund der kleinflächigen Vertriebsstrukturen – so komplizierter Markt, dass die deutschen Verlage nur durch ständige Betreuung motiviert werden könnten, hierzulande auszustellen, so der Spielefestorganisator. Aber – „selbstverständlich“ – nimmt das Ehepaar in Nürnberg auch die Chance wahr, die Neuerscheinungen der Dutzenden Verlage zu sichten. Auch wenn die spezialisierten Messen für Gesellschaftsspiele wie beispielsweise in Essen in dieser Hinsicht wichtiger wären, habe man auf der größten Messe viel mehr Muße, sagt Dagmar De Cassan: „Auf den Publikumsmessen ist es viel lauter als hier, viel mehr Gedränge.“

Ihre Erkenntnisse zu den Neuheiten, die uns heuer erwarten, haben die De Cassans und ihr Testerteam in einer Sonderausgabe ihres Spielejournals „Win“ zusammengefasst, die kostenlos auf der Website spielen.at heruntergeladen werden kann. Fünf Spiele von den Neuigkeiten aus Nürnberg haben die Spezialisten des Spielekreises als besondere Favoriten hervorgehoben. Für Kinder prognostizieren die De Cassans dem Ravensburger-Produkt Das große Kullern den größten Erfolg: Bei dem Wettlauf- und Geschicklichkeitsspiel für zwei bis vier Spieler ab sechs Jahren geht es darum, kleine Kugeln so auf das Spielfeld zu werfen, dass sie Murmeltiere einen Hügel hinaufbewegen. Nicht nur wegen des kleinen Wortwitzes mit Murmeln und Murmeltieren, sondern auch wegen der Flipper-Reminiszenzen, die das Spiel mit den Kügelchen erweckt, ist es durchaus zu empfehlen. Ebenfalls um einen Gipfelsturm geht es in Leo Colovinis Draco – nur sind es hier nicht mehr niedliche Murmeltiere, sondern große Drachen, die es auf die Spitze eines Berges schaffen müssen. Voran kommen sie durch das richtig getimte Ausspielen von Farbkarten, was dem Spiel eine vergleichsweise starke Zufallskomponente verleiht – ideal zum Gelegenheitsspielen mit der ganzen Familie, urteilt der Wiener Spielekreis. Erhältlich ist das Werk für zwei bis fünf Spieler ab acht Jahren aus dem Schmidt Spiele- Verlag ab jetzt.

Etliche verspielte Highlights

Schon komplexer geht es bei Pantheon zu, dem Spiel, das der Spielekreis zum Spielen mit Freunden empfiehlt: Michael Tummelhofer hat das Spiel für den Hans-im-Glück- Verlag für zwei bis vier Spieler ab zehn Jahren entworfen. Reichlich mit gutem Material ausgestattet fordert Pantheon die Spieler auf, im Namen der römischen Götter möglichst große Säulen für deren Tempel zu errichten. Dazu muss nicht nur die Gunst der Götter, sondern müssen auch Geld und Baumaterial verdient und untereinander gehandelt werden – was komplexer ist, als es sich anhört, schließlich ist die Zeit mit nur sechs Spielrunden äußerst knapp bemessen.

Nur für Experten zu empfehlen ist das letzte Spiel, das die De Cassans in ihre Nürnberg- Empfehlungen aufgenommen haben: Pergamon heißt das Werk, das Stefan Dorra und Ralf zur Linde für den Eggert Verlag geschrieben haben – illustriert hat es übrigens „Spiel und Mehr“-Gastautor Klemens Franz. Thematisch entführt es zwei bis vier Spieler ab zehn Jahren in die Welt der Archäologie: Als Schliemann-Erben müssen sie alte griechische Artefakte ausgraben und diese danach in einer puzzleartigen Sequenz zusammensetzen. Ein Spiel für Vielspieler, die die Interaktion und den Wettbewerb schätzen – denn die Verteilung der Fundstücke erfolgt über einen intelligent gemachten Versteigerungsmechanismus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2011)

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