Die Spiele des Anders Breivik

„Killer bereitete sich mit Computerspielen auf Attentate vor.“ Schlagzeilen wie diese machten vergangene Woche weltweit die Runde. Eine kritische Auseinandersetzung mit Anders Breiviks Aussagen – und ihrem medialen Echo.

Es war unvermeidlich, dass beim Prozess gegen den norwegischen Massenmörder Anders Breivik Videospiele zum Thema werden. Ich hatte mich kurz nach den schrecklichen Ereignissen auf Utøya in Breiviks gespenstisches Manifest vertieft, um herauszufinden, was er darin wirklich über das Spielen sagt – und schon damals festgestellt, dass praktisch nichts von Relevanz dabei war. Aber: Für die Presse waren Videospiele trotzdem ein Sündenbock. Es war schon damals zu betonen, dass das angesichts der Ungenauigkeit der Vorwürfe gegen Spiel eher dazu führen würde, dass nie entdeckt wird, was seinen Geisteszustand verursacht hat.

Aber jetzt, nachdem Breivik vor Gericht ausgesagt hat, wie wichtig ihm World of Warcraft (WoW) war und welche Bedeutung Modern Warfare 2 für ihn hatte, kocht alles wieder hoch. Man muss festhalten, dass der Killer in seiner Eröffnungsaussage auch vieles andere gesagt hat: Er beschrieb geheime Gesellschaften, sprach vom „Kampf um die Reinheit“ und Weltverschwörungen und weigerte sich, die Autorität der Gerichte anzuerkennen. Überraschenderweise haben nur wenige Medien diese Dinge als Faktum hingenommen – stattdessen stellten sie fest, Breivik sei verrückt – oder täte zumindest so.

Als er aber davon sprach, dass er WoW ein Jahr lang 16 Stunden täglich gespielt habe und dass er in Modern Warfare 2 Schießtraining sah, wurde das von der Presse nicht nur als Tatsache akzeptiert – viele Medien verdrehten Breiviks Worte, sodass sie ihre eigenen Interessen unterstützten. Irgendetwas läuft da ziemlich schief.

Ein Beispiel: Die „Times“ hat letzte Woche folgende spektakuläre Schlagzeile gebracht (die sich ähnlich auch in vielen österreichischen Medien fand, Anm. d. Übers.):„Breivik bereitete sich mit Videospielen ein Jahr lang auf Anschläge vor.“ Im Artikel war dann die Rede davon, er habe WoW, das er von 2006 bis 2007 intensiv gespielt haben will, benutzt, um sich auf seine Taten „vorzubereiten“. Eine eher fantasievolle Interpretation von Breiviks Aussage – er selbst sagt, er habe WoW gespielt, weil er ein wenig Spaß haben wollte – den hätte er verdient: „Es stand mir zu, mir ein Jahr Zeit für etwas zu nehmen, das ich tun wollte. Besonders mit Hinblick auf die bevorstehende Selbstmordaktion – ich wollte nicht bereuen, etwas verpasst zu haben.“

Der Durchschnittsleser zieht einen anderen Schluss aus dieser Aussage: Das Spielen war für Breivik demnach eine Ablenkung von seiner obsessiven Planung der Anschläge. Wer unglücklich genug ist, sein 800.000 Wörter starkes Manifest gelesen zu haben, weiß, wie viel „Arbeit“ Breivik in seine Handlungen investiert hat. Auch wenn vieles davon unsinnig, verworren und in sich widersprüchlich ist: Das Ergebnis ist ein Konvolut klar formulierten Wahnsinns, eine breite Ansammlung seiner Überzeugungen und Theorien, ein Tagebuch seiner Waffen- und Sprengstoffsammlung und seiner Versuche, Zutaten chemischer Kriegsführung habhaft zu werden. Aus dieser Welt, sagt Breivik, habe er durch das Spielen ein Jahr lang Pause gemacht – ein „Sabbatical“ genommen. Im Prozess sagte er über WoW: „Das Spiel war pure Unterhaltung. Es hatte nichts mit dem 22. Juli zu tun.“

Dann ist da noch Modern Warfare.Breivik erklärte dem Gericht, er hätte es zwischen November 2010 und Februar 2011 gespielt – er beschrieb es als „einen einfachen Kriegssimulator“, der hilfreich gewesen sei, „Zielsysteme“ zu lernen. Er habe das Spiel verwendet, um zu üben, wie man Polizisten tötet.

Nur: Darum geht es nicht in Modern Warfare – das Spiel lässt das gar nicht zu. Es ist ein Spiel, in dem man sich auf vorgegebenen Bahnen bewegen kann, das keine Abweichung von vorgezeichneten Wegen zulässt – weder im Einzel- noch im Mehrspielermodus kann man solche Taten wie jene von Utøya üben. Ja, es gibt das berüchtigte Level, in dem man einen Undercover-Agenten spielt, der mit einer Terrorzelle einen russischen Flughafen stürmt – darin kann man auch auf Zivilisten und Polizisten schießen. Das als Übung zu sehen ist aber unsinnig. Es gäbe Shooter-Spiele, die simulieren, vor bewaffneten Verfolgern zu flüchten – aber in Bezug auf Modern Warfare haben Breiviks Aussagen – wie viele andere davon – einfach keinen Sinn.

Während die kritische Presse sich aber genussvoll darangemacht hat, Breiviks Kommentare über „Tempelritter“ auseinanderzunehmen, hat sie es nicht für nötig befunden, seine Aussagen bezüglich der Modern-Warfare-Spiele als Kampfsimulationen zu hinterfragen. Stattdessen wurde angenommen, dass er das alles ehrlich und vernünftig berichtet hätte. Übrigens spielte Breivik Modern Warfareerst, nachdem seine Attentate fertig geplant waren – seine Entscheidung, Menschen zu töten, konnte nicht mehr beeinflusst werden.

Es ist mir wichtig, eines zu betonen: Wäre Computerspielen tatsächlich eine ernstzunehmende Gefahr, die Menschen zu Mördern machen kann – wir würden es wissen wollen. Sie können verdammt sicher sein, dass wir darüber berichten würden.

Ein Versagen der kritischen Presse

Es geht hier nicht darum, das Spielen zu verteidigen – sondern darum, die Wahrheit zu verteidigen, die Wahrheit in den Medien. Und an Letzterer mangelt es in dieser Angelegenheit massiv in sogenannten Qualitätszeitungen. Die zitierte Schlagzeile der „Times“ (die sich via Reuters in der ganzen Welt wiederfand, Anm. d. Übers.) hat keine Grundlage darin, was Breivik tatsächlich gesagt hat. Sie vermischt das Jahr, das er mit WoW verbracht hat, mit den zwei Monaten, in denen er Modern Warfare gespielt hat – und ignorieren gleichzeitig die viel längere Zeit, die er dem Training mit echten Waffen gewidmet hat.

Mehr derartiger Artikel werden in den nächsten Prozesswochen auftauchen; und ich bin ziemlich sicher, dass Breivik es genießen wird, öffentliche Erregung über das Spielen zu erzeugen, wie er es mit so ziemlich allem anderen auch macht. Es wäre v.a. in dieser Zeit wichtig, dass Medien das ganze breite Spektrum der Tatsachen beleuchten und die Leser ihrerseits hinterfragen, was sie in der Presse lesen. Das heißt nicht, dass wir davon ausgehen sollten, dass Spiele komplett unschuldig sind – aber dass wir ihren Kontext mitdenken sollten. Medien wie die „Times“ mit ihrer journalistischen Integrität sollten dabei eine Hilfe sein. Nur leider sind sie es nicht. ■


Der Artikel erschien im Original am 19.April unter dem Titel „Breivik Testifies about Gaming, Press Ignores the Facts“ auf der (übrigens herausragenden) englischen PC-Spieleplattform „Rock, Paper, Shotgun“ (www.rockpapershotgun.com). Der Autor ist Redakteur ebendort. Übersetzung: G. Renner.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2012)

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