Jetzt endlich haben wir sie!

Wie man es „den Juden“ einmal so richtig zeigen kann: Unsere Kulturkämpfer mit ihrem Beschneidungsverbot sind Antisemiten reinsten Wassers.

Nicht einmal die Auseinandersetzung um das Aufhängen von Kreuzen in Schulklassen hat eine solche Welle von Kommentaren, Artikeln und Postings verursacht wie die durch das Urteil eines Kölner Gerichts ausgelöste Debatte, ob die Beschneidung von ein paar Tage alten männlichen Säuglingen – nur um diese geht es, wenn im Folgenden von „Beschneidung“ die Rede ist – erlaubt sein soll. Tatsächlich betraf das Kölner Urteil die Zirkumzision eines jungen moslemischen Buben, aber die Debatte hätte mit Sicherheit nie diese Vehemenz erfahren, wäre die im Judentum als fundamental und unverzichtbar geltende Beschneidung nicht zugleich eingeschlossen worden.

In jedem liberalen und zivilisierten Kulturkreis wäre das Urteil des Gerichts als Kuriosum eingestuft worden: Die Harmlosigkeit der Beschneidung, ihre völlige Bedeutungslosigkeit für das weitere irdische Dasein des Beschnittenen, der Respekt vor der Entscheidungsbefugnis der Eltern wie auch vor ihrer Tradition und Religion müssten in jeder aufgeklärten Gesellschaft den Konsens erwirken: Ein Verbot der medizinisch fachgerecht durchgeführten Beschneidung ist absurd.

In Deutschland nahm die classe politique sehr rasch diesen vernünftigen Standpunkt ein. Ob er zugleich von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung vertreten wird, ist nicht sicher. Hierzulande jedenfalls versucht eine sich laut gebärdende Menge fundamentalistischer Befürworter eines Verbots der Beschneidung – nennen wir sie kurz „Kulturkämpfer“, denn sie sind es – die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen.

Endlich hat, so verkünden die Kulturkämpfer, ein Gericht in Köln den Mut aufgebracht, ein Urteil gegen das für die Zugehörigkeit zum Judentum fundamentale Zeichen zu fällen. Und sie preisen die Begründung des Richterspruchs als so stringent, dass nur Verstockte ihm nicht folgen könnten: Die Beschneidung sei eine Verletzung ohne jeglichen Nutzen für den Betroffenen. Sie stehe der prinzipiell zu achtenden körperlichen Unversehrtheit eines Menschen entgegen. Religiöse Gesetze seien ohne Belang. Punkt. Wobei die brutale Heftigkeit, mit der sie vernünftigen Argumenten für die Zulässigkeit der Beschneidung begegnen, atemberaubend ist. An drei Beispielen, die bereits oben angedeutet wurden, sei dies erörtert.

Erstens: Der Staat hat die Beschneidung zuzulassen, weil es sich bei ihr um einen an Harmlosigkeit nicht zu unterbietenden Verletzungsakt handelt, der nie und nimmer auch nur die geringste körperliche Beeinträchtigung zur Folge hat.

Flugs präsentieren die Kulturkämpfer Expertisen und Leidensberichte von Beschnittenen, die derzeit wie Pilze nach dem warmen Sommerregen aus dem Boden schießen. In der Tat: Windige Mediziner drängen sich nach vor, malen deftig das Trauma, das die Beschneidung auslöse, an die Wand. Bis zu sechs Monate nach der Beschneidung könnten bei den Kindern Verhaltensauffälligkeiten beobachtet werden, wenn diese beispielsweise eine Injektion erhalten, warnt der eine. Auch auf die Mutter-Kind-Beziehung wirke sich die Beschneidung negativ aus. Von fatalen Folgewirkungen der Beschneidung schwadroniert der nächste. „Wenn das sensibelste Organ – die Vorhaut – entfernt wird, bedeutet das eine massive Einschränkung des sexuellen Empfindens.“

Und öffentlichkeitsgeile „Beschneidungsopfer“ kämpfen um die ersten Plätze in den Talkshows. Schon meldete sich der jüdische Filmregisseur Michal Schaap zu Wort: In seiner halbstündigen Dokumentation „Mom, Why Was I Circumcised?“ geht der Niederländer kritisch mit seinen eigenen Eltern ins Gericht: „Ich weiß nicht, wie sich Sex mit Vorhaut anfühlt. Es macht mich ärgerlich, dass jemand anderer für mich entschieden hat, was ich selbst wahrscheinlich nicht für mich entschieden hätte.“ Selbst der Naivste riecht hier den falschen Braten, den diese „Experten“ und „Opfer“ dem Publikum zubereiten – nicht aber die Kulturkämpfer in ihrer heillosen Verblendung.

Und um ihrer Position noch mehr Gewicht zu verleihen, ersetzen sie das Wort Beschneidung durch Genitalverstümmelung. In einer nicht zu überbietenden Perfidie werfen sie damit die Beschneidung mit der zu Recht zu ächtenden und von allen Gerichten der zivilisierten Welt zu verurteilenden Genitalverstümmelung junger Mädchen in einen Topf. „Verletzung am Genitalbereich ist beides“, insistieren sie. Gleichsam als ob kein Unterschied zwischen dem „Abschießen“ im Völkerball und den „Abschießen“ mit einem Gewehr bestünde.

Zweitens: Der Staat hat die Beschneidung zuzulassen, weil es sich hierbei um ein für das irdische Dasein des Kindes folgenloses Ritual handelt, mit dem die Eltern des Buben ihrer Verantwortung oder ihrem Glauben folgend das Kind in ihre Gemeinschaft integrieren.

Das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit habe absoluten Vorrang, antworten die Kulturkämpfer empört. Wie käme ein Unmündiger dazu, ungefragt einem Ritual unterzogen zu werden, das ihn irreversibel zum Mitglied einer Gemeinschaft macht, in der er später gar nicht sein möchte? Hier müsse – man sieht förmlich, wie sich die Kulturkämpfer, die Arme ausgebreitet, schützend vor das Kind stellen – der Staat eingreifen und Einhalt gebieten. Wobei ihm dies bei der Beschneidung sehr leicht gelingen sollte, weil es sich bei ihr tatsächlich um eine Verletzung handelt, wie arglos sie auch sein mag. Das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit gebe dem Staat hinreichend Handhabe für ein Verbot.

Wären die Kulturkämpfer tatsächlich am Wohl der Kinder interessiert, müssten sie in einem Atemzug fordern, dass der Staat Schwangeren das Rauchen verbietet, dass rauchenden Eltern die Kinder entzogen und in die Fürsorge gesteckt werden – die Absurditäten häuften sich, nähme man dieses Argument der Kulturkämpfer ernst. Folgerichtig zu Ende gedacht wäre es aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes Kindern nicht zuzumuten, entweder in einen armen oder aber in einen wohlstandsverwahrlosten Haushalt hineingeboren zu werden. Die kafkaeske Konsequenz wären staatliche Institute zur Kinderaufzucht nach der Geburt, besser noch: ab der Fertilisation in vitro und der Schwangerschaft in einem Brutkasten. Da waren die Nazis noch humaner, die Buben und Mädchen erst später in die HJ und zum BDM steckten.

Doch in Wahrheit geht es den Kulturkämpfern nur vordergründig um das Kindeswohl, um das Menschenrecht der körperlichen Unversehrtheit, um das Eingriffsrecht bei drohender Kindesmisshandlung. All das sind nur vorgeschobene Scheinbelege, die das eigentliche Herzensanliegender Kulturkämpfer verhüllen, nämlich den Kampf gegen das folgende Argument.

Drittens: Der Staat hat die Beschneidung aus Respekt vor dem Judentum zuzulassen, weil es sich hierbei um jenen fundamentalen religiösen Ritus handelt, mit dem der männliche Säugling in die jüdische Gemeinde aufgenommen wird.

Dieses Argument ist die Achse, um die sich das von den Kulturkämpfern in Gang gebrachte Karussell dreht: Sie vertreten deshalb so heftig und unnachgiebig ihren Standpunkt, weil sie es damit „Anhängern atavistischer Bräuche“, „verstockten Leuten, die auf uralten Mythen beharren“, „überholten und vom modernen Menschenrecht überwundenen Traditionalisten“, „Anhängern einer barbarischen Religion“ – auf Deutsch und unverhüllt: „den Juden“ – endlich, endlich, endlich einmal zeigen können: „Kommt in der Moderne an!“, rufen sie den Juden zu. „Werdet endlich normal!“

Und sie trumpfen auf, weil ihnen die Menschenrechte selbst scheinbar das Mittel in die Hand drückten, um gegen die elementare jüdische Zeremonie der Beschneidung vorgehen zu können. Und bedienen sich dabei hinterlistig des althergebrachten Opfermythos: Diesmal, so behaupten sie, sei der jüdische Säugling das Opfer. Und das Niederträchtigste in ihrer Gedankenkette: Diesmal seien sie fein raus. Denn die jüdische Gemeinde selbst, vertreten vom Beschneider mit seinem Skalpell, machte das Judenkind zum Opfer.

„Endlich, endlich, endlich haben wir sie“, frohlocken die Kulturkämpfer in ihrem Herzen, „die immer anders sein wollenden Juden.“ Endlich müssten sie ihre Sonderstellung räumen. Wie kämen sie dazu, dass viele ihr Jude-Sein auf der von ihren Vätern tradierten Religion begründen, obwohl manche unter ihnen selbst gar nicht mehr an Gott glauben, aber trotzdem die Zeremonien mit der gesamten Familie so halten wie noch vor Jahrtausenden? Dass andere wieder sich nur deshalb als Juden definieren, weil sie eine jüdische Mutter haben und – wenn männlich – natürlich beschnitten sind?

Die Kulturkämpfer sind Antisemiten reinsten Wassers. Einen solchen Vorwurf weisen sie wutentbrannt von sich: Sie hätten doch nichts gegen die Juden – natürlich nicht, solange nicht wichtige jüdische Ansprüche geltend gemacht werden. Sie könnten doch selbst zuhauf Juden nennen, die gegen die Beschneidung auftreten – eine Variation des alten Huts von den „vielen jüdischen Freunden, die man kennt“.

Sie würden doch mit der gleichen Vehemenz gegen die christliche Vereinnahmung von Kindern zu Felde ziehen – was die antijüdische Haltung nicht mindert; auch Hitler wollte sich nach den Juden noch die Christen vornehmen.

Sie hätten eine klare, durch Expertisen belegte Position eingenommen, die Juden einfach nur dazu zwinge, ihre Zeremonien an die Moderne anzupassen – der Antisemitismus hat stets mit Bedacht versucht, sich das Mäntelchen der Wissenschaft umzuhängen.

Sie wehren sich dagegen, mit der Antisemitismuskeule bedroht zu werden, weil dem Gegner die Argumente ausgingen – aber die Argumente, die beweisen, dass sich die Kulturkämpfer verrannt haben, liegen auf dem Tisch.

Ob sich viele Kulturkämpfer umstimmen lassen, ist fraglich. Manche Wohlmeinende schlagen vor, das heikle Thema am besten zu übergehen. Nach dem Sommerloch werden dringendere Fragen die Menschen beschäftigen. Dieser pragmatische Standpunkt ist wohl vernünftig. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass man damit nur den Teppich über den Kehricht gebreitet hat, den Dreck aber nicht beseitigte.

Manche Gutmeinende glaubten, man könne mittels der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ eine Generation heranziehen, die dem Antisemitismus gegenüber immun sei. All ihrer bemühten Aktionen zum Trotz müssen sie nun feststellen: Sie irrten sich. Willkommen in der Wirklichkeit! ■

Geboren 1953 in Ternitz, NÖ. Professor für Mathematik an der TU Wien und Betreiber von math.space im Wiener Museumsquartier. 2004 „Wissenschaftler des Jahres“. Jüngste Bücher (Ecowin Verlag): „Rechnen mit Gottund der Welt. Betrachtung von allem plus eins“, „Gerechtigkeit siegt – aber nur im Film“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2012)

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