Ein Leben im Schleich

Viele alte Menschen wollen ihre Lebensgeschichte erzählen. Krieg und Wiederaufbau und eine andere Zeit werden da veranschaulicht. Bloß: So ausschweifend und gewagt erzählt wohl nur Frau Amalie. Eintauchen in eine spannende Welt.

Ein roter Weihnachtsstern aus Plastik blüht auf dem Tisch des schlichten Zimmers, ein kleiner Spiegel und das Bild von Clark Gable, dem Schwarm vieler Frauen, lehnen daran. An der Wand hängen zwei Porträts einer Diva, und ich folgere, es sei Vivien Leigh. Was für ein ausdrucksvolles Gesicht sie doch hat, denke ich.

Aus dem Klassiker „Vom Winde verweht“, das in meiner Familie drei Generationen von Frauen Rotz und Wasser heulen ließ, habe ich nur wenige Ausschnitte erhascht. Jetzt hoffe ich, einen gemütlichen Einstieg für meinen ersten Besuch im Altersheim bei Frau Amalie, die augenscheinlich die Vorsitzende der Fangemeinde dieses Streifens ist, ausgemacht zu haben. Die alte Dame, die mich in einem biederen Nachthemd und rosarotem Bademantel empfängt, wird wie ein Wasserfall erzählen, mir die Handlung im Detail erläutern, rechne ich mir aus. Es kommt alles anders. „Sie trinken Wasser? Schrecklich!“, ist ihr erster Kommentar. Frau Amalie weiß abgesehen davon, dass Clark Gable der schönste Mann auf der Welt gewesen sei, nichts mehr über die Filmstars ihrer Jugend zu berichten. Aber in diesem Raum weht dennoch ein Hauch von Hollywood.

Nicht selten scheinen alte Menschen den inneren Drang zu verspüren, ihre Lebensgeschichten zu veräußern. Sie handeln vom Krieg und von den harten Zeiten, vom Aufbau, vom Beruf und von der Familie, von der Jugend in einer anderen Zeit und von der Krankheit am Ende. Mit etwas Glück erfährt der Zuhörer über die große Liebe, manchmal scheinen sogar alte Gefühle wiederzuerwachen. Ausgespart wird hingegen stets, was den Erzähler in ein schiefes Licht bringen könnte. Warum sollte man auch die Urteile, die das innere Gericht gefällt hat, vor dem Publikum verlautbaren?

Bei Frau Amalie verhält es sich anders, nichts scheint sie mehr zu verachten als geschönte Geschichten. „Ich habe ein Lotterleben in Saus und Braus geführt“, verrät sie bei meinem zweiten Besuch. Beim Kennenlernen hat sie wohl Rücksicht auf mich genommen und noch den Eindruck einer braven Altersheimbewohnerin erweckt. Ganz natürlich sprudeln jetzt aber die intimsten Geständnisse und die wildesten Geschichten aus dieser Frau heraus, die mit ihren langen, rot lackierten Fingernägeln eine Zigarette nach der anderen umklammert und daran so leidenschaftlich saugt, als würde sie ihren letzten Atemzug daraus schöpfen.

Gewiss, nicht wie eine reuige Sünderin im Beichtstuhl oder eine zitternde Ganovin vor dem jüngsten Gericht erzählt sie ihre Abenteuer. Stolz betrachtet sie im Rückspiegel ihr Leben, das erstaunlicherweise einen recht bürgerlichen Anfang nahm. Frau Amalie kam Anfang der 1920er-Jahre als Tochter eines Kaffeehausbesitzers und einer Näherin in Wien zur Welt, wo sie im achten Bezirk aufwuchs. Die kleine „Mali“ besuchte Volksschule und Hauptschule, um schließlich eine Schneiderlehre zu beginnen. Bald war jedoch der Vater plötzlich verstorben. Man habe ihr gesagt, er sei verreist, was sie lange für die Wahrheit gehalten habe. Während sie die zur körperlichen Züchtigung neigende Mutter zeit ihres Lebens zutiefst verachtete, hatte sie diesen Mann geradezu abgöttisch geliebt. In seinen Kaffeehäusern in Wien-Alsergrund und der Leopoldstadt waren Bohemiens, Literaten und Intellektuelle ein- und ausgegangen und hatten ihr in der frühen Kindheit einen Geschmack auf das Weltläufige gemacht. In ihrer Jugend habe sie leidenschaftlich gern getanzt, und am Plattensee, dem Balaton, wo sie die Ferien verbracht habe, sei sie einmal sogar zur Csárdásfürstin gekürt worden.

Ich lausche den Geschichten, die sie in ihrer nasalen, tiefen Stimme vorträgt. Während sie von dieser Zeit erzählt, verwandelt sich Frau Amalie in das junge Mädchen zurück. Es ist eine Mühsalfür sie, die versponnenen Erinnerungsstränge aufzudröseln, doch sie genießt es gleichzeitig, im Herbst ihres Lebens die Vergangenheit zu besuchen. Diese alte Dame, die kaum ein paar Schritte zu gehen vermag, sprüht vor Leben wie die Diva an der Wand, und nun begreife ich endlich, dass sie es ist und nicht Vivien Leigh.

Um sich der Geißel, als die sie die Obhut der Mutter empfand, zu entwinden, heiratete Frau Amalie früh einen Mann, den sie nicht liebte und der kurz vor dem Scheitern der Ehe einem Bombenangriff zum Opfer fiel. Als im Krieg der Arbeitsdienst drohte, tauchte sie als U-Boot unter. Dabei sei ihr eine gute Freundin behilflich gewesen, die als Nichte dem Wiener Automobilunternehmen „Gräf & Stift“ entstammte, das 1898 den weltweit ersten Wagen mit Vorderantrieb erzeugt hatte und in der NS-Zeit Transportfahrzeuge für die Kriegsgüter herstellte.

Jetzt begann das Leben erst so richtig. Eine berufliche Tätigkeit im herkömmlichen Sinn allerdings sollte Frau Amalie, die bis zu ihrer Gesellenprüfung mehr oder weniger eine Karriere als Schneiderin verfolgt hatte, nicht mehr ausüben. „Normal arbeiten? Um acht ins Geschäft gehen? Ich habe meine Zeit anders verbracht“, lächelt Frau Amalie. Der eigene Bruder, der den Kriegsdienst durch riskante Selbstverstümmelungen habe vermeiden wollen, jedoch entlarvt und zum Tode verurteilt wurde und im letzten Augenblick geflohen sei, brachte sie auf die Fälscherei von Dokumenten und das Schmuggelgeschäft. „Ich habe im Schleich gearbeitet“, bezeichnet Frau Amalie lakonisch das Geschäft ihres Lebens. Im Gegensatz zum Bruder, der auf seinen „Dienstreisen“ vor allem „mit den Frauen ins Bett gestiegen“ sei, habe sie sich auf die „Arbeit“ konzentriert. Frau Amalie plaudert aus dem Nähkästchen, das keinen Kubikmillimeter Platz für Scheren, Nadeln und Zwirn hat, aber prall gefüllt ist mit abenteuerlichen Geschichten. Von Wiener Juden beauftragt, sei sie mehrere Male pro Monat mit der Eisenbahn nach Venedig gefahren, um dort Zigaretten, Goldbarren und feine Seidentücher zu kaufen, die sie über die Grenze nach Österreich bringen sollte. Einem Heizer, der die Ware unter seiner Kohle versteckte, habe sie Geld gezahlt, damit er ihre Machenschaften nicht auffliegen ließ. Als der Heizer eines Tages jedoch krank gewesen sei, habe sie dessen Vertreter eingeweiht und mit ihm dasselbe Spielchen spielen wollen. Doch dieser habe sie verraten, wodurch nicht nur das geplanteRendezvous in Wien,dem zuliebe sie sich der großen Gefahr ausgesetzt hatte, ins Wasserfiel, sondern sie selbsthinter Gitter wanderte.Was sie dort erwartete, wusste sie bereits aus den Kriminalromanen, die sie gelesen hatte. Dem Wachtmeister habe sie schöne Augen gemacht, er habe an ihr Gefallen gefunden und die frühe Entlassung aus der Haft betrieben, Gold und Seide seien jedoch für immer fort gewesen.

Nichts an ihrer Vergangenheit scheint Frau Amalie, deren gnadenlose Offenheit verstört, peinlich zu berühren, und selbst wenn sie von den Amouren erzählt, steigt nie auch nur die Andeutung einer Schamesröte in ihr Gesicht. „Ich habe nach dem 30. Mann aufgehört, meine Liebhaber zu zählen. Da war ich noch sehr jung. Insgesamt werden es weit über 100 gewesen sein“, macht sie kein Hehl aus ihrer sexuellen Leichtlebigkeit. Freilich rätselt sie heute über die Männernamen, die im Gedächtnis verschüttet zu sein scheinen.

Als ich einmal frage, ob sie anschaffen ging, ist sie zutiefst gekränkt, lässt aber meine Entschuldigung gelten. Naturgemäß kein Geld, Geschenke jedoch habe sie von den Männern für ihre Liebesdienste bereitwillig angenommen, wovon heute noch eine Sammlung von Pelzmäntel zeugt. Es sind sieben Stück von sieben Liebhabern.

Frau Amalie singt heute noch verzückt Jubelarien auf die Ungarn: „Die Ungarn sind von Natur aus fantastisch im Bett. Was für ein Temperament sie haben! Sie sind wahre Spezialisten!“ Asiaten hingegen hält Frau Amalie für Versager im Bett, wobei es ihr diesbezüglich an Erfahrungen fehle. Die Neigung zu sexuellen Ausschweifungen muss wohl in der Familie gelegen sein. „Mein Vater war ein Weiberer, mein Bruder, der sich den Tripper und Syph holte, hatte viele Affären. Aber auch meine Mutter hatte ein Pantscherl, wie man sagte, mit einem Chauffeur“, berichtet Frau Amalie. Jedes Mal, wenn ich zu Gast bei dieser „Femme fatale“ bin, wundere ich mich, wie sie so ruhig und mit sich im Reinen sein kann. Nachdenklich wird sie, als sie mir mit dem Anflug von Trauer von einem ernsthaft in sie verliebten Mann erzählt, dem sie das Herz gebrochen habe. Auch sie selbst sei allerdings nicht immer gut von den Männern behandelt worden.

Kurz nach Kriegsende muss es nach zahlreichen mehr oder weniger schönen Liebesabenteuern an der Zeit gewesen sein, Wien zu verlassen. „Mein damaliger Liebhaber, ein ungarischer Jud', ist damals im Häf'n gesessen, also hat mich nichts gehalten“, sagt Frau Amalie heute. Nur der Abschied von Tarzan, einer Hündin, die ihr nach dem Besuch eines „Tarzan“-Films zugelaufen und in Unkenntnis des Geschlechts getauft worden sei, sei ihr schwer gefallen. Weder an der Stadt noch an den Menschen sei aber ihr Herz gehangen. Frau Amalie folgte dem Ruf einer Freundin nach Istanbul und heuerte dort für einige Zeit bei einem „Wiener Jud'“ als Bardame an. Sie habe eigentlich nicht lange bleiben wollen, doch es habe ihr gut gefallen, und so verlängerte sie bald das Visum, wozu man nach Griechenland habe reisen müssen. Es dauerte nicht lange, bis sie die Liebe ihres Lebens und ihren zweiten Ehemann, Refik, kennenlernen sollte. Dieser sei von Beruf nichts anderes als „Sohn“ gewesen, nämlich jener eines bedeutenden Politikers, der als „rechte Hand“ des „Vaters der Türken“, Kemal Mustafa Atatürk (1881– 1938), gegolten und verschiedene wichtige militärische und hohe politische Ämter bekleidet hatte. Sein Sohn, „das schwarze Schafder Familie“, war hingegen beruflich wenig erfolgreich. Der „schöne und stolze Mann“, mit dem sie nahe der Ayasofya-Moschee gewohnt und jeden Tag Sex praktiziert haben will, habe reichlich Alkohol getrunken und Haschisch geraucht, und so sei auch sie selbst schließlich dem Alkohol anheimgefallen. Man habe jeden Abend eine Party gefeiert, ein luxuriöses Leben geführt und so lange geschlafen, wie es brauchte, um wieder nüchtern zu werden.

So sei das ganze Geld, das Refik von seinem Vater geerbt hatte, in Windeseile durchgebracht worden. „Mit meinem Refik habe ich eine eigene Kommunikation gehabt, ein Gemisch aus verschiedenen Sprachen“, schwärmt sie von dieser Verbindung. Diesen Mann, der sich nichts sehnlicher als ein Kind gewünscht habe, muss Frau Amalie wirklich geliebt haben, war sie ihm doch treu, wenn man von einer Affäre mit einem armenischen Geschäftsmann, der im Großen Bazar zwei Juwelierläden besaß, absieht, der ihr nicht nur Schmuckstücke, sondern auch eine „Wohnung mit herrlichem Blick auf den Bosporus und ein flottes Auto“ zum Geschenk gemacht habe. Nach sieben Ehejahre musste Refik vielleicht seinem exzessiven Leben Tribut zollen. Er starb aneinem Gehirntumor. „Zum Schluss waren es sieben Wochen ohne Sex, dann musste ich ihn betrügen“, erklärt Frau Amalie den Seitensprung. In der Wohnung des Armeniers, der der einzige „hässliche Liebhaber“ in ihrem Leben gewesen sei, lebte sie noch einige Jahre, doch die Atmosphäre in Istanbul, wo es bis zum Tod ihres Schwiegervaters international zugegangen sei und einander Franzosen, Juden und Deutsche zugeprostet hätten, sei „vertürkt“ worden. Eine Flasche Schnaps habe sie damals hinuntergekippt, um sich das Leben wieder schöner zu trinken. „Ich hätte schon noch ein paar Mal heiraten können, war aber nicht neugierig. C'est la vie“, trauert sie kaum um vergebene Chancen. Die Art, wie sie raucht oder den Lippenstift aufträgt, hat immer noch das Obsessive, das man gewöhnlich nicht mit Menschen verbindet, die zu hinfällig sind, um allein zu leben und sich in der Welt zu orientieren.

Als sie schließlich auf Urlaub in Wien weilte, muss sie so viel gesoffen haben, dass man sie in die Psychiatrische Klinik am Steinhof einwies, wo sie einen Entzug,der freilich nicht genutzt habe, durchmachen musste. Später habe sie noch einige Zeit in einer Garçonniere in Wien gewohnt und sei auch wieder bis spät in die Nacht um die Häuser gezogen, bis sie, völlig verarmt, in einem niederösterreichischen Altersheim, in dem sie durch Unterstützung eines wohltätigen Vereins auch heute noch lebt, ein Zimmer bekommen habe.

Bei all meinen Besuchen bleibt Frau Amalie ihrer Erzählung immer treu, sie scheint der Wahrheit den Vorzug vor der Dichtung zu geben. „Jetzt ist Finish!“, bringt sie ihr Dasein in den letzten Jahren eines Lebens, das kein Maßhalten kannte, auf den Punkt. Das Feuer ihrer Leidenschaft, das in ihr loderte, ist aber noch nicht erloschen. Wenn sie von ihren Liebhabern spricht, dann ist es, als seien sie eben aus ihrem Bett gehuscht. Mit den Männern habe sie längst abgeschlossen, mit dem Schnaps hingegen nicht. „Eine Flasche Gin habe ich am Tag getrunken, ein doppelter Schnaps ist für mich also wie ein Fingerhut“, stellt sie die Relationen klar. Klaren Schnaps trinkt sie scheinheilig, damit es die Schwestern nicht bemerken, aus einem Glas mit kitschigen Obstmotiven drauf.

Gelegentlich bringt die Freundin Luzi,selbst körperlich marod, noch Alkohol ins Altersheim. Nach einem ihrer Besuche wird sie wegen exzessiven Alkoholkonsums zur Primarärztin des Hauses zitiert. Sie stellt 21 nahezu vollständig geleerte Fläschchen „Scharlachberg“ und „Eristoff“ auf den Tisch vor die Ärztin, die am Vortag nicht in der Lage gewesen sei, Frau Amalie zu wecken, so besoffen sei sie gewesen. Letztere sagt jetzt nichts, sie ist kleinlaut – eine Ausnahme, und es scheint, als sei sie angewidert von sich selbst.

Wir sprechen über religiöse Anschauungen, die Frau Amalie im Allgemeinen ein Gräuel sind. „Haben Sie die Bibel gelesen, lauter Blödsinn! Glauben heißt doch nichts wissen!“, schimpft sie wie ein Rohrspatz. In ihrer Jugend aus der katholischen Kirche ausgetreten, glaubt sie „an das Kismet“, wenngleich in ihrem Denken kein Raum für einen Gott ist, der uns ein Schicksal zulost. „Ein Leben nach dem Tod möchte ich nur dann, wenn ich so viel Schnaps und Zigaretten haben kann, wie ich will“, spöttelt sie über allzu trostlose und unspektakuläre Jenseitsvorstellungen.

Zum Abschied zeigt mir Frau Amalie ihre Fotos, die sie in einem alten, weit gereisten Koffer aufbewahrt. Weil ihr Augenlicht schwach geworden ist, kann sie die Menschen, die man auf den Fotos sieht, nicht mehr benennen. Die Bilder werden aber durch ihre Beschreibungen so lebendig, dass ich mir vorstellen kann, um wen es sich handelt. Ein Bild, das aus dem Album gefallen ist, schenkt sie mir zur Erinnerung. Es zeigt Frau Amalie, wie sie als Hexe lasziv auf einem Stab durch ein geöffnetes Fenster zu reiten scheint. „Auf Wiedersehen“, hauche ich dieser nymphomanischen Ganovin zu, dankbar für jedes Geheimnis, das sie mir anvertraute. „Inschallah“, sagt sie und winkt mir noch hinterher, wie sie vielleicht auch ihren Männern nachgewinkt hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2012)

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