Wenn Gott tot ist

BRIGITTE SCHWAIGER
BRIGITTE SCHWAIGEREPA
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Ich hoffte und hoffe immer noch, ich warte noch immer auf etwas, und ich weiß nicht, was es ist. Etwas fehlt mir, und ich finde es nirgends. – Der Nachlass: aus den „Memoiren“.

Unser Pfarrer in Freistadt hieß Kittinger und war ein sehr beleibter Mann. „Ihr werdet mein Fleisch essen und mein Blut trinken!“ Er ruft es auf der Promenade, in der Nähe des Marianums, es ist ein heißer Tag, wir Mädchen, weiß gekleidet, die Fronleichnamsprozession mit ihren Stationen auf dem Weg rund um die Stadt, mit einem Lautsprecher, und der Pfarrer steht im Schatten einer Baumkrone, er fordert uns auf, ihn zu essen und sein Blut zu trinken, ich esse nur den Salat, nehme ich mir vor, und unser Pfingstrosenstreuen, wir tragen Pfingstrosen in den Körbchen, und alle gestreuten Pfingstrosenblütenblätter werden von den Nachkommenden zertreten, das kann doch der liebe Gott nicht wollen, dass wir so mit seinen Blumen umgehen.

Das Zittern vor dem Beichtstuhl in der Stadtpfarrkirche. Alles, nur nicht in dieses schreckliche Gehäuse hineingehen. Und die Erleichterung, wenn es vorbei war. Die aufgetragenen Bußgebete verrichten, zwei Vaterunser, zwei Gegrüßetseistdumaria, und keine Sünden mehr, und Gott wieder lieben und aufpassen, dass nicht eine Gedankensünde begangen wird. Auf das eigene Gehirn aufpassen war immer das Allerschwerste. Sich selbst kontrollieren, ist meine Seele noch rein oder habe ich sie schonbefleckt.

Die Mutter begleitete mich nicht am ersten Schultag und nicht in die Kirche. Ich hatte schonals Kind allein zu denMessen zu gehen, konnte oft den Satz „Unddann sagte Jesus zu den Jüngern“ nicht mehr hören, ohne mich zu ärgern, dass es immer dasselbe war, und wenn der Priester die Hostien austeilte, war es mir unangenehm, diese von einer Hand zu empfangen, die beim Baden und Urinieren nach dem „Tripper“ griff, wie ich dachte, dass der Penis hieße, seit ich im Buch „Haut- und Geschlechtskrankheiten“, das der Vater in der Ordination liegen hatte, geblättert und Abbildungen gesehen hatte, unter deren einer „Tripper“ stand.

Der Vater war im Krieg in Norwegen und vorher auf einer Offiziersschule. Der Vater ist Dr. med.univ., praktischer Arzt, Doktor der gesamten Heilkunde, er hat eine Ordination im Haus, zweiter Stock, in der Waaggasse. Zum Arbeiten trägt er einen weißen Mantel. Der Vater blickt immer sehr streng, wenn er arbeitet. Im Wartezimmer leuchtet eine Schrift auf: Der Nächste bitte. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das ist also der Nächste, der immer zu meinem Vater in die Ordination kommt. Wer seinen Nächsten nicht ehrt, ist Gottes nicht wert.

Freistadt im Mühlviertel, eine römisch-katholische Stadt. Ab März 1938 überwiegend nationalsozialistisch. Von Mai 1945 bis Spätsommer 1955 von den Russen besetzt. Ich bin in dieser Zeit geboren und aufgewachsen, ich war stets der Überzeugung, die Russen dürften mich, wenn sie wollten, erschießen. So wie ich der Überzeugung war, dass ein dunkelgrüner Polizist mich jederzeitin ein Gefängnis sperren durfte. Ich wuchs auf in der Angstwelt.


Seit
ich 18 geworden war, wartete ich auf die große Liebe. Bei den Zugfahrten nach Wien las ich im Waggon die Schildbeschriftungen „Nicht hinauslehnen“, „E pericoloso sporgersi“ und „Ne pas se pencher au dehors“ (?),und ich bekam Sehnsucht nach anderen Ländern. Spanien, Italien oder Frankreich,wo Männer beim Liebesakt, nach dem ich mich sehnte, keine österreichischen Zoten aussprechen würden. Ich wollte mir die Liebe nicht durcheine hässliche Sprache verderben lassen.

Im Sommer 1972 versuchte ich mir die Pulsadern aufzuschneiden, ineinem Gefühl völliger Wertlosigkeit. Den Vater hatte ich enttäuscht und nicht Medizin studiert, den Vater hatte ich Geld gekostet, „du bist nichts, du hast nichts, du kannst nichts“. Die Vorwürfe, ich hätte ihn Geld gekostet, kamen immer wieder vom Vater.

In Linz war ich ein Verhältnis eingegangen mit einem Anwalt, der verheiratet war, der mir sagte, im Falle, dass ich eine Entscheidung von ihm verlangte zwischen mir und seiner Frau, wisse er bereits, wie er sich entscheiden würde, und ich hatte geglaubt, wenn man mit einem Mann ins Bett gehe, dann würde dieser einen Heiratsantrag machen. Nach der Enttäuschung mit dem Anwalt nahm ich mir vor, mich dem nächstbesten Mann hinzugeben, um Erfahrungen als Frau zu sammeln. Ich ging ins Bett mit Männern, ohne verliebt zu sein.


Ein Regisseur des Linzer Kellertheatersdrängte mich eines Abends, ihn zu einerSchriftstellerlesung zu begleiten, und es war Friedrich Torberg, der am 23. November 1972aus seinem Roman „Süßkind von Trimberg“ vorlas. Ich kannte Torbergs Übersetzungen der Satiren Ephraim Kishons und verehrte ihn wegen seines guten Deutsch, und ich kannte auch einige seiner Theaterkritiken. Also war es für mich eine hohe Ehre, nach der Lesung mit ihm sprechen zu dürfen.

Torberg hatte mir einen dicken Band mitTheaterkritiken geschickt und ermunterte mich zum Briefschreiben, da er selbst passionierter Briefschreiber war. Am Telefon benahm er sich herrisch und eher missmutig. Zu Ostern 1973 hatte ich ihn in seinem Ferienort Altaussee zu besuchen, wohin ich nicht gern fuhr, weil er Jude war und mich dafür bestrafen konnte, dass ich die Tochter eines Nazis war. In Altaussee lag ich wenige Stunden nach meiner Ankunft mit ihm in seinem Bett. Ich opferte mich, um von ihm gutes Deutsch zu lernen.

Als ich Altaussee später verließ, nahm ich mir vor, in Hinkunft Männer nur noch zu verachten und nie wieder Respekt vor einem Mann zu haben. Ich war inzwischen schon valiumabhängig. Die Mutter gab es mir, es erleichterte, solange die Wirkung andauerte, mein Leben.

Torberg war seit 1962 geschieden von seiner Frau Marietta, doch telefonierten sie täglich und besuchten einander regelmäßig. Marietta Torberg war eng befreundet mit dem Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky und dessen Familie. Torberg sprach von einem Liebesverhältnis zwischen Marietta undKreisky, dessentwegen er sich habe scheiden lassen. Er beklagte, sie habe sich nicht für das, was er schrieb, interessiert, sondern für die „Texte eines Wahlredners“. Bruno Kreiskys Ehefrau, Vera, litt unter schweren Depressionen, sie und auch Bruno Kreiskywurden ärztlich-neurologisch und chiropraktisch behandelt vom Psychiater Dr. Peter Boleloucky-Bolen, der im vierten Bezirk in der Karolinengasse ordinierte. Karolinengasse, meine in Auschwitz ermordete Urgroßmutter hieß mit Vornamen Karoline. Dr. Bolen wohnte mit seiner Familie in der Waaggasse im vierten Bezirk, ich war aufgewachsen in der Waaggasse in Freistadt. Mein magisches Denken begann. Magisch dachte ich auch über Torberg und mich nach. Die erste Liebe seines Romanhelden Süßkind von Trimberg hieß Brigitte.


Mir war der übermäßige Erfolg, den mein erstes Buch, „Wie kommt das Salz ins Meer“, gebracht hatte, fast nur peinlich. Gemäß meiner Mutter hatte mein Vater bei meinen Bucherfolgen gesagt, dies käme daher, „dass sich die Brigitte mit den Wiener Juden zusammengetan hat“. Auch habe er ihr gesagt, ich sei „gefährlich“, man dürfte mir „nichts erzählen“, „die Brigitte ist fähig, mich an den Galgen zu bringen“.

Friedrich Torberg starb im November 1979. Ich fühlte mich zuerst befreit und später verlassen. Torberg hatte mir einmal geschrieben oder gesagt, er brauche das Gebrauchtwerden von mir. Sein Novembergeschenk nannte er mich, weil wir uns im Monat November kennengelernt hatten.

Ich hatte 1987 einen Jugendbekannten, den Historiker (ohne akademischen Abschluss) und kommunistischen Klassenkämpfer Michael Genner, geheiratet. Als ich von ihm schwanger war, verbrannte ich eines Tages Friedrich Torbergs Briefe. Marietta hatte mir nach Torbergs Tod mitgeteilt, Torberg habe von ihr verlangt, sie solle nach seinem Ableben alle meine Briefe vernichten, und nun schob ich, auch um Michael Genner freundlich zu stimmen, sämtliche Briefe Torbergs in meinen Kachelofen.

Ich betete, während ich es tat, um ein gesundes Kind. Es war ein Opfer gewesen, auf die Briefe zu verzichten, und Jahre später, als ich (mit psychischer Krankheit, man stellte an mir das Borderline-Syndrom, seit Kindheit bestehend, fest) nagte der Verlust entsetzlich an meinem Herzen.


Eines Tages nach dem Besuch eines Hochamts erlitt ich daheim eine Halluzination: Christoph Schönborn erschien mir in der Wohnung. Ich hätte gerne mehrere solcher Erscheinungen gehabt, spürte aber, dass ich nun psychisch schwer krank war. Nach erfolglosen Versuchen, Sekretärin werden zu dürfen im erzbischöflichen Büro (Schriftstellerin wollte ich ja nicht mehr sein und konnte auch nicht mehr wirklich schreiben), war ich daheim eines Tages verwirrt, litt wieder unter Halluzinationen und wollte mich auf den Fußboden legen, um mich am Bodenanzuhalten und das Gleichgewicht, das ich im Stehen plötzlich verloren hatte, wiederzufinden. Da neigte sich der Boden, ich sah und fühlte mich abrutschen, wusste nicht, in was für eine Tiefe es gehen würde, und als der erbärmliche Wahrnehmungszustand nachgelassen hatte, wusste ich, dass ich ab nun tunlichst meinem Sohn und allen anderen Menschen gegenüber verbergen musste, dass ich verrückt war. – Auf der Straße im Verkehr der Wunsch, mich vor einer Straßenbahn oder einem Bus fallenzu lassen, Bettlern großzügig zu geben, obwohl ich stets selbst um Geld bat, von Zuwendungen lebte, auch die Mutterließ mir monatlich Geld überweisen, ein Theologe half mir immer wieder großzügig aus, ich konnte weder mit Geld noch mit mir selbst umgehen.

Ich zwang mich zu stricken, fabrizierte Wollschals, einen nach dem anderen, hielt mich an den Stricknadeln fest, löste Rätsel in Zeitungen, war wieder „unnütz“, dieses Gefühl verfolgte und durchdrang mich, was hatte ich denn nicht erreicht und geschafft, ich versuchte herauszufinden, ob es denn nicht etwas gab, was ich noch wollte und daher anstreben konnte, es fiel mir nichts ein.

Meine Pläne, die Welt zu verbessern, waren gescheitert, Bücher, die ich hatte schreiben wollen, hatte ich nie geschrieben, ich ging noch immer täglich von Montag bis Freitag aufgeregt hinunter zum Briefkasten, immer noch die Erwartung, eines Tages würde ein eintreffender Brief mich erlösen. Schon als junges Mädchen hatte ich, wenn ich aus dem Gymnasium heimkam, klopfenden Herzens jeden Tag die Küche betreten, hoffend, ein Brief würde für mich gebracht worden sein, hatte jahrzehntelang beim Läuten des Telefons mit innerer Aufregung gedacht, dieser würde nun der Anruf sein, der mein Leben grundlegend veränderte, ich hoffte und hoffe immer noch, ich warte noch immer auf etwas, und ich weiß nicht, was es ist. Etwas fehlt mir, und ich finde es nirgends.

Ich gehe seit Jahrzehnten zeitig schlafen, liege im Bett, ab sieben Uhr abends, oft schonum sechs Uhr, warte auf den Schlaf, frage mich, wozu es mich gibt, ob es einen Gott geben kann, der meine Existenz wollte, wozu bin ich am Leben. „Inutil, eres una inutil“, „du bist ein unnützerMensch“. Stimmenhören plötzlich im Schlaf, aufwachen, Männer dringen in meine Wohnung ein, haben schon dieTür aufgebrochen, brüllen und poltern, werden mich gleich töten. Ichweiß, während ich alleshöre, dass es nur Stimmenhören ist, Wahrnehmungsstörung, ich habe damit leben gelernt, dass es kommt, dass ich es ertragen muss, ich nehme nur bisweilen das Medikament gegen diese Störung, möchte es ohne Medikamente schaffen, der Stolz erwacht, ich möchte ein normaler Mensch sein.

Im Oktober 2005 erhielt die Schriftstellerin Elfriede Jelinek den Nobelpreis. Einen Nobelpreis hatte ich doch in den Achtzigerjahren für mich selbst für möglich gehalten, nicht angestrebt, aber auf mich zukommen gesehen, wenn ich so weitermachte, alles, was ich mir damals vornahm, ein Buch über die weibliche Frigidität, ein Buch über den spanischen Klerikalfaschismus, ein Buchüber Worte, über die Wirkungen von Sprache, das Johannesevangelium neu ins Deutsche übersetzen, ich hatte in der Maturaschule Roland bei uns im Bezirk Wien-Neubau Altgriechischstunden genommen, und da ich unter Schlafstörungen litt und am Abend, wenn der Kurs begann, müde warund in den Kursen beinahe einschlief, ging ich bald nicht mehr hin – ich war eigentlich ein Mensch, der vieles anfing und wenig zu Ende brachte.

Alpträume, in denen ich gehindert bin, in Gesellschaft zu sprechen, weil ich Klebemassen im Mund habe, die sich vermehren, sobald ich beginne, sie mir mit den Fingern herauszuziehen. Es verklebt sich immer mehr, ich kann mich an Gesprächen nicht beteiligen, weil ich „Material“ aus meinem Mund ziehen muss, auch Schnüre und steife, lange Bänder, die mir im Körper wachsen, ich ziehe und ziehe, lange Fäden, einmal auch einen blutigen, grausigen Wurm, es kommt aus mir so viel unnützes Zeug.


Meinen Sohn hatte ich 14 Jahre hindurchallein großgezogen. Ich machte mir Vorwürfe wegen etwaiger Erziehungsfehler, die ich an meinem Sohn begangen hatte, durchforschte seine Kindheit, die Jahre seines Aufwachsens, fand nichtsals Fehler und schreckliche Erinnerungen. Unfälle, die hätten passieren können, immer wieder führte ich mir einige Situationen, die gefährlich gewesen waren, vor Augen, ich hielt michfür schuldig an seinem Schweigen mir gegenüber, seit er nicht mehrbei mir wohnte, es wunderte mich, dassMenschen, obwohl ich publik gemacht hatte, dass ich immer wieder Psychiatriepatientin war, überhaupt noch mit mir redeten.

Ich erlitt die Psychose, dass die Königin von England mich seit meiner Geburt beobachtete und nur ich Europa vor einem Nuklearschlag bewahren würde, ich diktierte per Telefonanruf der Polizei Anweisungen, wie sie sich zu verhalten habe, beim fünften oder sechsten Anruf sagte der abhebende Beamte: „Gnä' Frau, wenn S' no' einmal anrufen, dann kommen wir.“


„Artikuliere dich“, hatte Torberg oft gesagt. „Spuck es aus! Was hast du? Spuck es aus! Die Dinge sind bei Weitem nicht mehr so schlimm, wenn man sie durch Aussprechen los ist.“ Er wünsche ja deshalb immer wieder Briefe von mir. Man kann alles schreiben, Papier ist weiß und einladend, ich habe nie zu den Schriftstellern gehört, die Angst haben vor dem weißen Papier, zu weißem Papier habe ich mich immer sofort hingezogen gefühlt.


Nach dem Tod des Vaters Ende der Siebzigerjahre hatte die Mutter sich mehr und mehr für Katzen interessiert, sie begann streunende Tiere einzufangen und ließ sich Katzen, die gefunden worden waren oder ertränkt werden sollten, bringen. Manchmal hielt sie bis zu 40. Widerlicher Geruch, in dem man kaum atmen konnte, erfüllte ihre Wohnung. Sie verkaufte das Haus gegen einen kleinen Betrag, verglichen mit dem, was es wert gewesenwar, ehe sie begonnenhatte, Tiere zu betreuen, mit großzügigen Krediten der Sparkasse, bisdas Haus nicht mehr ihr gehörte. Wenn ich beiihr war, riet sie mir, das Schreiben aufzugeben,dann würde ich keineDepressionen mehr haben. Die erste große Depression in Wien war aber ausgebrochen, als ich 19 Jahre alt war, an einem schönen Maitag. Ich hatte die Eltern besucht, und die Mutter bedrängte mich, ein Stück Apfelstrudel nach Wien mitzunehmen. In Wien bedauerte ich es viel zu oft, nicht mehr daheim in Freistadt sein zu dürfen, als dass ich Apfelstrudel von der Mutter, gleichsam als Entschädigung dafür, dass ich auf Wunsch der Eltern studieren musste, nicht als Hohn empfunden hätte. Ich bat sie, die immer die Gewohnheit gehabt hatte, meinen Koffer mit „Warte, lass mich das machen, das kannst du nicht!“ zu packen, den Apfelstrudel nicht hineinzutun. Sie tat es trotzdem, und als ich nach der Bahnfahrt und ein paar Stationen mit der Straßenbahn in der Albertgasse im achten Bezirk ausgestiegen war, ging ich unter blauem Himmel und im Sonnenschein auf dem Gehsteig mit dem Koffer in der Hand, der plötzlich schwer wurde. Apfelstrudel, dachte ich, sie hat ihn eingepackt. Den Koffer hätte ich, um zu flüchten, ich wusste nur nicht, wohin, am liebsten auf dem Boden stehen gelassen. Ich fühlte mich plötzlich wieerschlagen. In einem Sinnlosigkeitsgefühl ging ich weiter. Im Zimmer legte ich den Koffer aufs Bett, öffnete ihn, sah das Päckchen mit dem Apfelstrudel und hasste plötzlich meine Mutter. Dieser Hass kam später immerwieder, bei anderen Gelegenheiten, und ich musste ihn unterdrücken. Es wäre nicht erlaubt gewesen zu sagen: „Ich hasse dich!“


Als ich mit 38 Jahren Mutter wurde, getraute ich mich nicht, den Säugling zu berühren, und hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn ein wenig streichelte. Beinahe hätte ich ihn weggegeben, anderen Menschen überlassen, in der Angst, nur eine schlechte Mutter sein zu können. Ich fühlte mich nicht würdig, ein Kind zu haben. Meine Mutter bot auch bei ihrem Besuch in Wien, bald nach der Entbindung, an, das Kind nach Freistadt zu nehmen. „Und die Katzen gebe ich weg!“


In einem Buch Thomas Bernhards fand ich den Begriff „verschlagener Mensch“. Des Vaters Strafen bestanden im tagelangen Ignorieren und Schweigen. Ich fühlte mich dann als ein durch und durch schlechter Mensch, der das Brot nicht verdiente, das er aß. Die Mutter war in ihrer Kindheit bei Stiefeltern regelmäßig geschlagen worden, verschlagene Menschen sind charakterlich deformiert, da sie immer Angst vor neuen Schlägen haben. Ihr daheim zu sagen „Bitte, verleumde mich nicht!“ war mir unmöglich, denn ihre beleidigte Miene fürchtete ich mehr als den Tod. Sie pflegte mich, wenn ich sie, wie ihr oft verwendetes Wort war, „gekränkt“ hatte, zu ignorieren und mich tagelang mit Schweigen zu bestrafen, das war ihre Methode in der Kindheit und Jugend gewesen, wobei sie mir dann etwas zum Naschen oder, später, Zigaretten auf den Kopfpolster legte, als Zeichen, dass sie wieder gut war mit mir, woraufhin ich mich ihr unterwürfig zu nähern pflegte mit einem „Bitte, Mutti, seien wir wieder gut!“. ■


Brigitte Schwaigers Memoiren, „Wenn Gott tot ist“, geschrieben in den letzten Jahren ihres Lebens und nun aus dem Nachlass herausgegeben von Benedikt Föger, erscheinen am 14. September im Czernin Verlag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2012)

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