Danke, Papageno!

Na sicher, die "Zauberflöte". Und sonst? Zum 200. Todestag von Emanuel Schikaneder: über einen, der mehr als 50 Theaterstücke und Dutzende Libretti schrieb, als Theatermann eine Ausnahmeerscheinung, der in Wien genau das widerfuhr, was Ausnahmeerscheinungen halt hierorts öfters widerfährt.

Viele legendär gewordene Intendanten und Impresarii mit höchster Schauspiel- und/oder Musikkompetenz stamm(t)en – erstens – nicht aus der Stadt Wien und waren/sind – zweitens – oft recht gebrochene Typen. Burgtheater- und Operndirektoren sind darunter (wobei, zugegeben, sich das „Gebrochene“ etwa bei Karajan oder Peymann in Grenzen hielt). Aber jene Geliebten und Verhassten, solche „Fremde“ als Umjubelte und wieder Hinausgeschmissene, bilden eine Gruppe von Rang und Extravaganz wie kaum sonst wo. Es finden sich da Größen, Individuen oder geniale Machtmenschen wie Gustav Mahler ebenso wie Laube, Dingelstedt, Aslan, Carl, Preminger, Stranitzky, Kaiser, Tabori, Marinelli. Ganz vorne reiht sich dabei ein: Johann Joseph Schickeneder, bekannt als Emanuel Schikaneder (geboren am 1. September 1751 in Straubing, gestorben am 21. September 1812 in Wien).
Er kam aus Wandertruppen, begann als vazierender Schauspieler/Musiker, lernte die Mozarts schon 1780 in Salzburg kennen, agierte als 30-Jähriger bereits an allen renommierten Wiener Bühnen, übernahm vor 1790 das Freihaustheater auf der Wieden, baute sich um 1801 das Theater an der Wien, das er bis 1804 innehatte, er wurde reich (sein Wohnsitz war auch das später als Lehár-Schikaneder-Schlössl bekannt gebliebene Barockpalais in Nussdorf, im Norden Wiens, beim Donaueingang in die Stadt) und verarmte in den Kriegszeiten, verließ Wien (wurde eher, wie so viele Starkünstler hierorts, bei ersten Misserfolgen hinausgeschmissen), kehrte zurück, starb verarmt und – wie es ein wenig scheu, hilflos oder hinterfotzig heißt – „geistig verwirrt“.
Ein Theatermann von Graden, dionysisch-cholerisch (ähnlich seinen von ihm erdachten oder gestalteten Figuren), Freimaurer wie fast alle aus seinem Geschäft, einer, der mehr als 50 Theaterstücke und Dutzende an Libretti schrieb, als Massenware, Tagesaktualitäten, oft mit Stückabschnitten oder Rollen, die heute wie ein kleines Pop-Panoptikum wirken – aber doch, Schikaneder, ein Zerrissener?
Jedenfalls hat er den wahrscheinlich meistgespielten Bühnentext verfasst. Seine „Zauberflöte“ (die – jetzt bereits nachdrücklich gesagt – ohne Mozart eines unter seinen vielen, zumeist dümmlichen Action-Spektakeln geblieben wäre) ist zum Inbegriff von Oper, erlaubtem Märchen, moralischer und geduldet-sexistischer Anstalt geworden.
Damals, in einer neuen Bühnenzeit? Das deutschsprachige Volkstheater stand im Aufbruch, mit und contra Sturm und Drang und hehre Klassik, dort, wo Gluck noch krampfhaft Traditionen hochzuhalten versuchte und Mozart mit jeder neuen Oper das Genre neu bestimmte. Oft recht einfach-unrealistisch-derbe Stücke wurden zu Rennern für die Masse der (klein)bürgerlichen Bevölkerungsschichten.

Erfindung der Sitcom


Jahrzehnte zuvor schon hatten die erdigen, vor allem aber hintergründigen Typen zu agieren begonnen. Die Hanswurste Stranitzky, der die Commedia dell'Arte verösterreichert hat, Prehauser, Kurz, Hafner, Perinet, La Roche, ihnen folgen Namen wie Gieseke, Dittersdorf, Wranitzy und Wenzel Müller, dann Meisl, Gleich, Bäuerle. Sie zählen mit einem guten Dutzend anderer zum bewusst gewordenen Schatz der speziellen österreichischen Theatergeschichte, bald als Träger jener Erfolgsreihen, die wieder eine Generation später und gemeinsam mit dem Aufbrechen der U-Musik etwa mit Raimunds Zaubermärchen, der Altwiener Volkskomödie, Nestroy und den ersten Wiener Operetten fortgesetzt worden sind. Ab 1780 boomte zudem der Theaterneubau.
Die Zensur, die strenge, selbstgefällige Literaturwissenschaft und die Schein-Intelligenzija bis zu diversen Kaiserhäusern reagierten angestrengt mit Verboten, oft billigen Regelwerken und Beleidigtsein. (Alles bis heute Zeichen, dass Musik, Theater und intensive Darstellungen obrigkeitsgefährdende Massenwirkung besitzen.)
Noch anders gesagt. Man erfand die Sitcoms, aktuell und absurd im Stoff, im Personarium hingegen gewohnt, erwart- und überschaubar. Das Theater wurde zum unterhaltenden, nicht notwendig realistischen Medium und war nicht die selbstgefällige moralische, reflektierende oder rückwärts gewandte Anstalt.
Und mittendrinnen ragt vergleichslos „Die Zauberflöte“, ein Plot, der sowieso wieder vor allem aus Versatzstücken der Zeit besteht. In rund einem Dutzend an Bühnenstücken rundum und zurückreichend bis zum Jesuitendrama des Spätbarock gibt es Szenen, Personenkonstellationen und sogar Verse oder Librettoteile, welche manchen in der späteren oder gleichzeitigen Mozart-Oper ähneln. Ihre literarischen Wurzeln: zeitgenössische Abenteuerliteratur mit dem beliebten Touch des Übersinnlichen und vor allem des Orientalisch-Fremdländischen, alles in einem mit Versatzstücken aus der genüsslichen Irrealität angereicherten Fundus. Rund um das Entstehungsjahr des Mozart/Schikaneder-Werkes las man etwa „Lulu oder die Zauberflöte“, hörte „Das Sonnenfest der Brahminen“, den „Stein der Weisen oder die Zauberinsel“ sowie „Kaspar der Fagottist“. Noch im September 1791 wurde vom Konkurrenten Hensler in der Leopoldstadt und durchaus contra Mozart/Schikaneder ein Stück mit dem originellen Titel „Der Orang-Outang oder das Tigerfest“ vorgeführt.
Doch das neue Mozart/Schikaneder-Werk stellte alles sofort in den Schatten. Es war mehr als ein Hit der Saison. „Die Zauberflöte“ wurde nachgespielt, imitiert, sie kam auf fast alle großen Bühnen, wurde in Einzelteilen (als billige Notendrucke) verbreitet wie später nur mehr im U- und Pop-Musikfach. Schikaneder hatte den Riecher gehabt. Erstens, er brachte im Freihaus, dem größten neuen Wohnungskomplex der Zeit, also quasi im publikumssicheren Gemeindebau, ein Stück heraus, das alles in sich hat, Helden und Prinzessinnen, lustige Figuren und geheimnisvolle, permanente Szenenwechsel, Happy End. Zweitens, Schikaneder verstand es, diesen Wolfgang Amadé Mozart zu packen, zu fesseln. Sie beide waren einfach zum richtigen Zeitpunkt da. Der Komponist lebte damals brutal als Außenseiter, als Underdog gelegentlich sogar, in der Hauptstadt der deutschsprachigen Welt. Doch er schuf mit der „Zauberflöte“ in rasant kurzer Zeit schon wieder eine neue Gattung, beendete den noch immer vorherrschenden und im Barock wurzelnden antikebezogenen Bühnenpomp.
Allein. Was ist in der „Zauberflöte“ des Emanuel Schikaneder relevant außer Divertissement in eingängiger Musik? Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Oper sukzessive zum Beweis einer NS-Propaganda für Volk, Rasse, Über- respektive Untermenschentum herangezogen. Vor Jahren noch erlebten Esoterik, Hieroglyphenkunde, Ägyptologie oder oft recht banale Freimaurerforschung mit der „Zauberflöte“ als quasi erratischem Hintergrund Renaissancen. In den Siebzigern des 20. Jahrhunderts, da inszenierte man gar eine kleine Revolution contra „Zauberflöte“, welche wie so oft bei Empörungen viel Bezeichnenderes über die damalige Gesellschaft als über deren Ideologiekritik an sich aussagt. Was da in diesem süddeutsch-österreichischen Musiktheaterstück so abläuft, das sei eine Zumutung, eine schlimme, die Gesellschaft veräppelnde Sache, eine Musik, die bloß einlullt, und eine Handlung, die bei allem konfusen Duktus repressiv zu nennen ist. Von den katastrophal abgehandelten Frauen-, Rassen- und Herrschaftsproblemen erst gar nicht zu reden!
Aber – ist sie nicht trotzdem oder gar deswegen böse (und deswegen trotzdem wieder aktuell)? Die Handlung, welche der schlaue Schikaneder uns vorgeworfen hat, ist schwer in knapper Form nachzuerzählen. Ein hohes und ein sozial niedriges Paar werden vor Lebensproben gestellt, die Generation davor, satt und einflussreich, reagiert damit die eigenen Probleme ab, es gibt Parteien, Zirkel und Zwänge, Überraschungen und Gier, Scheinpriestertum und viel derben Eros. Lässt man die Märchenströmungen einmal außer Acht – sie sind sowieso nicht viel anders als die Heimlich- und Plötzlichkeiten in heutigen Vorabendfernsehserien –, dann geht es oft zu wie in Illustriertenstorys über Herrscherhäuser und Schauspielerverfehlungen, über Politikersex und Kirchenkatastrophen. Herrscher kämpfen, Religionsträger gebärden sich wie im Vatikan oder in Mekka, die Frauen sind rollendeckend dumm oder verführerisch, die Männer auch. Man ist offen rassistisch, brutal. Es gibt jede Menge unterschiedlicher Götter und Genien ex machina.

„Ein Weib tut wenig, plaudert viel“


Zudem, jenes Frauenbild Schikaneders/Mozarts, seit Jahrzehnten zu Recht bekrittelt? Zitate bloß aus der Priesterkaste (damals?): „Ein Weib tut wenig, plaudert viel; du, Jüngling, glaubst dem Zungenspiel?“
Zwei besondere Duette krönen alles. Am Opernschluss treffen sich Papagena und Papageno, beide fassungslos über ihre wild gewordenen Hormone in sich drinnen; sie trällern nur davon, so rasch wie möglich ins Bett zu gehen, miteinander. Und – aber! – schon am Beginn! Pamina und Papageno, jeweils allerdings anderen Partnern versprochen, singen eine der tollsten und jenseitigsten Zeilen der Libretto-Geschichte. „Mann und Weib, und Weib und Mann, reichen an die Gottheit an.“ Danke, Herr Schikaneder!
Übrigens, der Riesenerfolg der neuen Oper verführte. Kasperl-Piecen mit Versatzstücken und direkten Anleihen an der „Zauberflöte“ wurden noch bis nach 1800 fabriziert. Man sprach (auch im Freimaurersinne) von dem Stück sogar als einem „Evangelium der Humanität“. Schikaneder selbst verfasste einen zweiten Teil, der sich aber nicht durchsetzte („Das Labyrinth oder der Kampf mit den Elementen“, Musik vom Zeitgenossen Peter von Winter). Jemand ganz anderer versuchte ebenfalls, neben mehreren weniger Prominenten, auf den gewinnversprechenden „Zauberflöten“-Zug aufzuspringen. Johann Wolfgang von Goethe, damals der Literatursuperstar Europas und schon voll im „Wilhelm Meister“, probierte eine „Zauberflöte 2. Teil“ mit Kindesentführungen seitens der Königin und des Monostatos, Sarastro geht auf Wanderschaften wie der Wotan des Wagner, der Text handelt von den unfruchtbaren Papageno/Papagena, dafür aber von Vogelkindern aus goldenen Eiern und so fort. Goethe brach sein seltsames Plagiat sicherheitshalber ab.
Schikaneders Text ist mit Mozarts Musik bis heute mehr auf der Bühne präsent als fast alle Zeilen des Weimarer Olympiers. Aber wird er uns als Person nahe – durch den Papageno, sein ausfransendes Wiener Leben, seine einfachen Sätze und Verse, die manchmal zu Topoi in der deutschen Poesie wurden (vom „Mädchen oder Weibchen“ über die „heiligen Hallen“, vom „herrlichen Klingen“ bis zum „bezaubernden Bildnis“) – wird er in seiner Oper wirklich greifbar?
Über seine 20 Post-„Zauberflöten“-Jahre ließe sich ein märchenhafter Schauderroman schreiben. Seine Erfolge konnte er kaum wiederholen, auch wenn er all seine Theaterkunst einzusetzen versuchte. Mit Franz Xaver Süßmayr, dem Mozart-Schüler, Requiem-Vollender und Constanze-Liebhaber, hoffte er auf Fortsetzungen und schaffte nur noch einen halbwegs erfolgreichen „Zauberflöten“-Revival-Versuch, „Der Spiegel von Arcadien“ (1794).
Oder: Das/Sein Theater an der Wien, großartig als Idee und die modernste Großbühne der Zeit (erst viel später hat man, wie auch für das ein paar Steinwürfe entfernte Freihaustheater, deren wegweisende Konzeptionen erkannt) brachte ihm kein bleibendes Glück. Es wurde kurzfristig die Konkurrenzbühne für die Adels/Bürger-Theater. Beethoven brachte nach Schikaneders Abgang seine erste, allerdings noch verunglückte „Fidelio“-Version heraus, ja er wohnte zuvor sogar in einem Theater-Logis des Hauses. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde es zu einer Uraufführungsstätte allerhöchster Prominenz; ein Ausschnitt aus der Superliste bloß: Beethoven-Symphonien, Kleists „Käthchen von Heilbronn“, Schuberts „Rosamunde“, Grillparzers „Ahnfrau“, von Strauss „Die Fledermaus“ oder „Der Zigeunerbaron“, Anzengrubers „G'wissenswurm“, Lehárs „Die lustige Witwe“, Benatzkys „Axel an der Himmelstür“, ja sogar Einems „Jesu Hochzeit“ und so fort.
Oder: Schikaneder wurde – wie Mozart – zum Fallbeispiel, wie man in Wien geliebte, bald verhasste Ausnahmemenschen behandelte (behandelt). Das Spießertum verachtete beide schon ob überbordender Kreativität und zugleich exzessiver Verschwendungssucht. Man nützte Schikaneder, Mozart und mehrere Dutzend an Ausnahmeerscheinungen der Kunsthistorie und deren Erfolge einfach weidlich und schnöde aus, ein Tantiemenrecht gab es noch nicht. Allein? Warum ließ man Schikaneder (und viele andere) gleich so, tja, abhauen, flüchten, steckte ihn, wiedergekommen, beinahe in den Narrenturm, ließ ihn halb verrecken, bestattete ihn schließlich wie sonst nur die Taglöhner und Sandler?
Oder: Was war denn seine „geistige Verwirrung“ tatsächlich? Syphilis – die Künstlerseuche? Delirium tremens? Beides? Seele?
Schikaneders persönlicher Nachlass war ein beklagenswerter Haufen an Kleidungsstücken, mehr nicht. Man erinnert sich auch hier an Schubert, an Mozart, auch zum Teil an Beethoven.
Oder: Schikaneders Palais in Nussdorf wurde geplündert. Wien kümmerte sich nicht darum. Aber Wien blieb eifersüchtig. Ignaz Castelli, der große Chronist und die noch größere „Tratschen“, bemäkelte bereits und das ziemlich mies in einem Nachruf auf Schikaneder (Oktober 1812), dass sich der Dichter und Impresario sowieso schon zu Lebzeiten ein, seinem Rang nicht zustehendes Denkmal habe setzen lassen, zeige doch über dem Seitentor des Theaters an der Wien eine Papageno-Figur jenen doch so eitlen, nun im selbst verschuldeten Elend Verstorbenen.
Sonst noch? Es blieben seine Witwe, Eleonore, ein außerehelicher Sohn und dessen Mutter. Allein, deren Schlussarrangement im Schikaneder-Familiären entbehrte nicht der Originalität. Denn Schikaneders Zweitbeziehung, Franziska Günschl, ehedem Mädchen für alles im Theater an der Wien und später sogar Kassenverwalterin dort, deren 10-jähriger Knabe und die Witwe selbst zogen einfach zusammen (notgedrungen, einander festhaltend?).
Der Günschl-Schikaneder-Bub hieß Franz. Der zweite Vorname des Papageno-Kindes lautete aber Seraph. (Im sechsten Kapitel des Propheten Jesaja werden die Seraphim als Vogelmenschen mit einem gewachsenen Federkleid geschildert, aus dem nur Kopf, Hände und Füße herauswachsen.) ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2012)

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