Tiere können nicht denken

Der Fall des unglücklichen Felix. Eine Katzengeschichte.

Tiere sind mir nicht geheuer, ich suche nicht ihre Nähe, doch auf Wunsch meiner Kinder leben in unserer Wohnung zwei Katzen. Sie sind Zwillinge, doch sehr verschieden. Sie ist schlank, abenteuerlustig, geschickt; er ist rundlich, gemütlich, unbeholfen. Sie hatte schnell die Terrasse für sich entdeckt, dann das Dach. Er folgte ihr nur zögernd, oft schien uns, als wiege er die Gefahr ab, wenn er lange wartete, bis er zum Sprung ansetzte.

Ich weiß nicht, wie lange er vor dem Sprung gezögert hat, der ihn tief fallen ließ, vier Stockwerke, der ihn auf den Boden schmetterte. Dort fand man ihn, hilflos und blutend. Als wir ihn aus dem Spital holten, war er auf einer Seite kahl, sie hatten ihn rasiert, um ihn besser operieren zu können. Er trug eine steife Krause um den Hals, die verhinderte, dass er sich die Nähte aus der Wunde beißt; er musste die meiste Zeit in einer Kammer verbringen, wo er nicht springen konnte, um das operierte Gelenk zu schonen. Beides war ihm lästig. Er tat mir leid. Oft befreite ich ihn kurz, von der Krause, aus der Kammer, musste ihn dann streng beaufsichtigen, denn ich konnte ihm nicht erklären, dass die Einschränkung seiner Beweglichkeit seiner Genesung diene.

Tiere haben auch eine Sprache, sagen manche, der unglückliche Felix – so heißt der Kater, auch wenn er das nicht weiß – machte mir bewusst, dass das nicht stimmt. Er konnte mir nur vermitteln, dass ihm etwas wehtat, oder dass es ihn drängte, sich die Wunde zu lecken. Beides mit den für Katzen typischen flehentlichen Lauten. „Ich will“, sagen sie, nicht mehr. Kein Objekt. Nur das Verb. Indikativ Präsens, erste Person. Und nur von diesem Verb. „Ich muss“, können sie nicht sagen, nicht „Ich darf“, auch nicht „Ich gehe“ oder gar „Ich denke“.

Denn denken können sie nicht, weil sie nicht sprechen können. Wer glaubt, dass man ohne Sprache denken kann, soll es probieren. Es geht nicht. Wer die Wörter aus dem Hirn drängt, verdrängt mit ihnen die Gedanken. Auch die zeitliche Ordnung. Ohne Sprache bleiben nur die Gegenwart, das akute Fühlen und Wollen. Felix kann nicht verstehen, dass die Zumutung der Halskrause dadurch aufgewogen wird, dass er sich künftig schmerzfrei bewegen kann. Er kann nichts abwägen. Er kennt keine Zukunft. Er fühlt sich glücklich, vielleicht, wenn ihn keine Krause und kein Hunger plagt, aber er weiß nicht, dass er sich glücklich fühlt, er hat kein Wort für Glück, er kann das Glück nicht denken. Das mache sein Glück absolut, sagen manche, aber was für ein armes Glück ist denn das? Wunschlos glücklich wollen wir sein, aber wortlos glücklich? Vielleicht für einen dunklen Moment, aber dann soll das Licht der Gedanken wieder leuchten.

Den meisten Lebewesen leuchtet dieses Licht nie, sie sind im Jetzt gefangen. Von allen Millionen Arten hat nur eine einzige angefangen zu sprechen und zu denken. War es ein Sprung vom Dunkel ins Licht? Oder ein Dämmern, von Generation zu Generation mehr Licht? Man möchte den Ahnen treffen, der schon ahnt, dass es ein Morgen gibt, aber es noch nicht sagen kann, für den Optativ und Zukunft noch nicht getrennt sind, der „Ich will“ sagt und auch „Ich werde“ meint. Ob man ihn belehren könnte? Man würde sein Leben bewusster machen und tragischer. Ihn aus dem unschuldigen, dunklen Paradies werfen.

Felix ist wieder gesund geworden. Kann sein: noch vorsichtiger. Vielleicht hat er gelernt, aber er weiß es nicht. Ich mag ihn, füttere ihn, ich will nicht, dass er leidet; aber er ist mir nicht geheuer. ■


Das Philosophicum Lech behandelt von 19. bis 23. September das Thema „Tiere“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2012)

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