Ich performe, also bin ich

(c) AP (Gero Breloer)
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Ob im Büro, im Bett, in den Charts jeglicher Art: Überall ist jetzt Performance. Das Performance-Prinzip oder: Vom Zwang, ein Darsteller zu sein.

Kürzlich sticht mir, an einer Pinnwand im Café, ein Aushang ins Auge. Seine Überschrift: „Tanz dich! Management von innen.“ Angekündigt wird ein „Performance-Workshop + Coaching“. Der Workshop will „Unsichtbares sichtbar machen“; als Pate hat man John Cage aufgeboten und seinen Satz: „If you celebrate, it is art. If not, it's no art.“ Die gute Nachricht: „Es werden keine Tanzerfahrungen vorausgesetzt“, eigentlich klar, denn ich soll ja mich tanzen und nicht etwa einen Tanz.

Man kennt solche Angebote für Menschen, die, wie wir alle, einen „kreativenTraum“, einen „Wunsch nach Veränderung“ haben. Man kennt die breite Szene, die sich heute zwischen Kunst und Psychotherapie erstreckt. Was wir aber noch nicht kannten, ist „Management von innen“. Natürlich reden wir routiniert von Selbstmanagement, Krisen- oder Risikomanagement, aber was hat das mit Tanz zu tun? Hätte man vor ein paar Jahren die Wörter „Tanz“, „Kreativität“, „Performance“, „Potenzial“ und „Management“ in einen inhaltlichen Zusammenhanggebracht, hätte man Kopfschütteln ausgelöst. Heute ist das anders. Tanz ist Management von innen, weil in beiden einstmals getrennten Sphären dasselbe Prinzip waltet. Nennen wir es das Performance-Prinzip. – Nochist es nicht lange her,dass man das Wort„Performance“ im deutschen Wörterbuch vergeblich gesucht hätte.Heute bezeichnet Performance mit steigender Tendenz alles, worauf es im Leben ankommt. Wenig kann unter zeitgenössischen Bedingungen keine Performance sein – eigentlich nur noch das, was im Verborgenen stattfindet. Performance nennen wir zum Beispiel die Bewegung eines Aktienindex. Performance verspricht uns der Bankberater für unsere Kapitalanlagen, Performance heißt unsere sexuelle Leistung beziehungsweise Leistungsfähigkeit, die durch performancesteigernde Präparate verbessert werden kann. Auch für die Angst um die eigene Performance gibt es ein Wort („performance anxiety“). Performance ist, mit einem Wort aus der Informatik, das „Zeitverhalten“ von Programmen, Kursen, Geräten und eben auch Personen. In den meisten Fällen lässt es sich messen, in jedem Fall aber zeigen und bewerten. Auch meine Leistung oder Nichtleistung am Arbeitsplatz heißt jetzt Performance. Wenn wir sagen, der Kollege habe eine mittelprächtige Performance abgeliefert, beschreiben wir damit nicht nur, was man einmal Leistung nannte, sondern immer gleich auchihre Darstellung, Präsentation und Verwertung. Auch an ehemals nicht theatralen Arbeitsplätzen dominiert jetzt das Performance-Prinzip. Wir präsentieren, stellen dar,führen auf und wissen dabei manchmalselbst nicht mehr, ob das, was wir Arbeitnennen, nun eher Tanz oder Managementist oder beides.

In den vergangenen Jahren haben sich die Sphären der bildenden und darstellenden Kunst hier und des Managements dort miteinander angefreundet. Das ist insofern erstaunlich, als ja früher die Künste der Wirtschaft großteils skeptisch, feindseligoder auch nur ahnungslos gegenüberstanden, was von der Wirtschaft dann mit ähnlichen Einstellungen quittiert wurde. Allenfalls kritisierte die Kunst, man denke an Joseph Beuys, die vorherrschende Wirtschaftsweise und bot spielerische Alternativen. Mankann sich fragen, ob die Kunst das Management gekapert hat oder aber umgekehrt das Management die Kunst. Diezweite Annahme würde von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche ausgehen, was fraglos stimmt, aber zu kurz greift. Eher ist es so, dass die „Contemporary Art“ auf die Welt derWirtschaft übergegriffen hat. Jeder Mensch sei ein Künstler, hatte Beuys gesagt und damit recht behalten. Wer heute etwas auf sich hält, verhält sich auch als Nichtkünstler wie ein Künstler – mit dem Ergebnis, dass jeder Künstler, der etwas auf sich hält, sich wie ein Nichtkünstler verhalten muss. Ehedem eine beneidete bis verspottete Randfigur der bürgerlichen Gesellschaft, ist der Künstler in ihre Mitte aufgerückt. Die neue Konvergenz von Künstler und Manager steht im Zeichen der Performance. Ich performe, also bin ich, diesen Satz unterschreibt nur derjenige nicht, der es im Leben lieber zu nichts bringen möchte.

Neben all den anderen Wortbedeutungenist „Performance“ auch der Name für eine höchst erfolgreiche Kunstform, die in vieler Hinsicht das alte Schauspieler-, Regie- und Stücketheater abgelöst hat. Hervorgegangen aus Einflüssen wie Dada, dem Situationismusund Artauds „Theater der Grausamkeit“, hat sich „Performance Art“ seit den Sechzigerjahren zu einem neuen Hybrid zwischen Theater, Tanz und bildender Kunst entwickelt, gegen die manche älteren Kunstformen museal wirken. Performance ist kein Drama, kein Stück, sie hat kein Skript, sie ist, mit einem mächtigen Wort, ein „Prozess“, an dem Akteure, die keine Schauspieler oder Darsteller sind, mit ihrer leiblichen Präsenz beteiligt sind. Der Performer spielt nicht, er agiert in der Zeit, und keine seiner Aufführungen ist wie die nächste. Der Performer beteiligt uns Zuschauer an einem Zeitverhalten, für das es keine Vorschrift gibt. An die Stelle der Spielregel ist der existenzielle Einsatz des Darstellers getreten.

Natürlich gibt es daneben noch immer das herkömmliche Sprechtheater, aber es verliert an Bedeutung. Wer will heute noch nach Vorgaben spielen, nach einem Skript, das „nur noch“ inszeniert werden muss? Lieber setzt man sich wie Marina Abramovic ein paar Wochen lang stumm ins New Yorker MoMA und lässt die Kette der Besucher an sich vorbeidefilieren, ohne dass sonst etwas geschieht. „Time based Art“, also zeitbasierte Kunst, heißt diese nicht mehr ganz neue Strömung, entstanden vor Jahrzehnten aus dem Happening, aber inzwischen in ein ganz neues Stadium eingetreten. Das Happening war vor allem Provokation und lustvolle Verweigerung, die Performance dagegen siedelt näher am Ritual, sie ruft alte, auchreligiöse und liturgische Formen des Zeitverhaltens wach, man denke an das Ritual der Prozession. Überall ist jetzt Performance, und das legt die Frage nahe, was früher an derselben Stelle war. Performance bezeichnet eine Sache irgendwo im Begriffsfeld zwischen „Show“, „Aufführung“, „Ausstellung“und „Präsentation“ und bezeichnet doch etwas anderes. Performance bezeichnet den Zustand oder das Schicksal der Künste, namentlich der theatralen, im Zeitalter der Selbstregierung, der von Michel Foucault so getauften „Gouvernementalität“, in der die Wünsche der Regierenden an uns mit unseren Wünschen an uns selbst so sehr harmonieren, dass die Regierung sich sozusagen auf das Controlling unserer Selbstführung beschränken kann.

Performance ist also das Gegenteil von Show. Keine Täuschung, keine Illusion und kein „Als ob“. Alles ist echt, das Blut, der Schmerz, die Tränen. Marina Abramovics Weltruhm verdankt sich diesem Versprechen. Performance heißt demnach die Stunde der Wahrheit und das Ende des Spiels, ob nun in den Charts, im Bett oder auf der Bühne (auf der allerdings kein Stück mehr geboten wird). In der Performance stehe ich selbst auf dem Spiel, nicht als Darsteller und Rollenspieler wie einstmals im Leben und Theater, sondern als Performer meiner selbst. Performance ist ein anderes Wort für den Ernstfall, in dem wir uns beweisen müssen. Der Name des Ernstfalls ist Identifikation. Früher lag es nahe, sich am Arbeitsplatz nicht zu sehr zu identifizieren, sei es mit der Arbeit selbst oder mit der Stelle, die man einnahm. Die Arbeit, könnte man sagen, warauch dementsprechend. Wie hätte die Identifikation eines Fabrikarbeiters oder eines Bauern mit seiner Arbeit ausgesehen? Es warwohl der Normalfall, dass man seine Arbeit hasste. Inzwischen haben sich unsere Arbeitsplätze weithin vermenschlicht, nicht nurweil uns Maschinen manche gröbere Tätigkeit abnehmen, sondern auch weil sich Arbeitgeber um unser Wohlergehen kümmern und uns glauben machen, beim Arbeiten würden unsere besten Kräfte beansprucht, allen voran unsere Kreativität.

Kreativität, ein Wort, das erst durch die amerikanische Arbeitspsychologie der Nachkriegsjahre in Umlauf kam, ist der neue Standard, die neue Normalität unserer Arbeitsplätze. Weil wir glauben, am Arbeitsplatz kreativ zu sein, können wir unsere Arbeit nicht mehr hassen. Sonst würden wir uns selber hassen. Die Kreativität ist ja kein erlerntes Handwerk, keine Fertigkeit, sondern eine Gabe, an der wir uns im Leben ebenso messen lassen wie im Beruf. Wenn sich heute Kunst und Management auf Augenhöhe begegnen, geschieht das im Geiste „identifizierter Arbeit“. Künstler und Manager, zumindest im Selbstbild, sind Menschen, die den Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit nicht kennen, die in Räumen, die – einerseitswhite cube, andererseits minimalistisches Chefbüro – einander immer mehr ähneln, vorwiegend immaterielle Arbeit leisten. Beide Typen – sagen wir: der Konzeptkünstler, der ehemalige Industriehallen eher mit Ideen als mit Objekten „bespielt“, und derBroker in der Finanzindustrie, der die Schulden der einen in den Reichtum der anderen verwandelt – erschaffen Wert aus fast nichts. Genau deshalb sind sie „kreativ“. Während freilich in Künstlerkreisen das WortKreativität inzwischen als peinlich empfunden wird, drängen alle ehemaligen Nichtkünstler, etwa Friseure, Werber, Köche und eben auch Manager, mit Macht nach der Kreativität. Kreativität hat sich normalisiert, sie ist eine Ressource geworden, ein Potenzial, das wir im Tanzworkshop ohne Weiteres wecken können.

Was ist so attraktiv an dieser verallgemeinerten Kreativität, dass sie es ist, die uns Tag für Tag auf Trab hält? Kreativität muss nicht heißen, dass unsere Arbeit künstlerische Produkte oder gar Werke abwirft – das tut sie auch beim Konzeptkünstler schon lange nicht mehr. Kreativität heißt, dass ich für meine Performance selbst einstehe, und zwar als ungeteiltes, identifiziertes Subjekt, nicht etwa als Arbeitnehmer oder Rollenspieler, der sich jederzeit verweigern oder in die innere Emigration abmelden kann. Ich bin nur, soweit ich performe, präsentiere, sichtbar bin – es sei denn, es gelänge mir, selbst meine Unsichtbarkeit als Performance zu verkaufen.

Fragt man nach der Vorgeschichte dieser neuen Konstellation, landet man in den frühen Fünfzigerjahren. Performance, Kreativität, Management, von all dem hatte man in Europa noch nicht viel gehört, als von Amerika her neue Wörter und Phänomene ins allgemeine Bewusstsein drangen. Performance: Man denke etwa an Jackson Pollocks „Action Painting“, in dem auf einmal der Produktionsprozess wichtiger war als das Werk, in dem das Malen oder „Drippen“ selbst zur Performance wurde. Das Museum kann nur die erstarrten Ergebnisse solcher „Art in Action“ präsentieren; der entscheidende Moment hat vorher stattgefunden, in der Zeit des Werdens und des Prozesses. Was in Pollocks „Action painting“ zur Aufführung gelangte, war keine Repräsentation eines gesetzten Themas, sondern der Akt derMalerei selbst. Weniger die Kunst der Performance wird hier vorgeführt, viel eher die Performance der Kunst. Malen ist Handeln, so wie SprechenHandeln ist. Zur selben Zeit entwarf John L. Austin seine folgenreiche Sprechakttheorie, in der er zeigte, wie wir mit bestimmten Wörtern Dinge tun,statt sie etwa nur zu bezeichnen. Schon immer bezeichnet das Wort „Performance“ im Englischen sowohl den Vollzugeiner Handlung wie deren Aufführung, seit den Fünfzigerjahren dehnte sich die Wortbedeutung dann auf Verläufe und Prozesse aller Art aus, deren Gemeinsames darin bestand, weniger von Anfang und Ende bestimmt zu sein als von ihrer Basis in der Zeit. Auch beeinflusst durch Austin hat sich in derFolge die Praxis der Performance auf breiter Front durchgesetzt, in der Kunst ebenso wie im Alltagsleben. Performance, diese Kunstpraxis irgendwo zwischen Theater, Tanz und bildender Kunst, ist dem Menschenbild und Subjektverständnis des neuen, kognitiven und immateriellen Kapitalismus näher als jede andere Kunstform. Es geht nicht um Werke, im Büro so wenig wie in der Galerie. Es geht um Präsentationen. Der Nachweis unserer Lebendigkeit gelingt nicht mehr durch Werke, sondern durch das, was wir präsentiert haben.

Wer Performance sagt, sagt Sichtbarkeit. Wer Sichtbarkeit sagt, sagt Zuschauer, Beobachter, Analytiker, schließt in jedem Falle ein Gegenüber ein, das meine Performance registriert, misst und bewertet. Wenn ich meine berufliche Leistung innerhalb eines gesetzten Zeitraums als Performance bezeichne, dann heißt das: Ich stelle meine Arbeit dar. Ich stelle sie vor, und ich stelle sie aus. Ich bin gleichsam ein Exhibitionist meiner Arbeit, in dessen Tun die Öffentlichkeitsarbeit, das „Seht her“, untrennbar mit der Arbeit selbst (wenn dieser Unterschied noch trägt) verbunden ist. Man kennt denselben Exhibitionszwang von bildendenKünstlern: Nicht länger geht es darum, im Atelier entstandene Werke sodann im Schauraum auszustellen, vielmehr werden Werke gleich auf den Ausstellungsraum hin entworfen, als „Site-specific“-Installation, die kein Dasein außerhalb der Ausstellung mehr kennt. Das Dauer-Exhibitive ist der Ausdruck einer kulturellen Situation, die Kunst und Arbeit gleichsam unterLebendigkeitszwang stellt. Nichts soll dem Blick entzogen sein, nichts soll außerhalb des Schauraums stattfinden; was zählt, ist die Aufführung undPräsentation der Leistung vor Zeugen. Der Werk-, der Arbeits- und der Leistungsbegriff haben sich unter zeitgenössischen Hochaufmerksamkeitsbedingungen, geleitet wahrscheinlich vom Berufsbild des Börsenhändlers, der Tag und Nacht der Bewegung immateriellen Geldes um den Erdball folgt, dramatisch verändert.

Wir alle sind zu Extremisten unserer Berufsausübung geworden, die an sich Maßstäbe anlegen, die früher allenfalls im Hochleistungsbereich galten, etwa im Sport oder in der Kunst. So wie sich die aus der Kunst stammenden Kreativitätsvorstellungen normalisiert haben, hat sich die Vorstellung von mittlerer, durchschnittlicher Arbeitsleistung und Belastbarkeit verflüchtigt. Das „unternehmerische Selbst“ findet man nicht nur, wo man es erwarten würde, in den Chefetagen der Unternehmen, sondern in jedem mittleren Büro, wo Angestellte trotz eingeschränkter Bezahlung den Traum vom entfesselten, künstlerisch-unternehmerischselbst identifizierten Dasein träumen und mitihren Smartphones die ehedem der Freiheit und Freizeit vorbehaltenen Zeitzonen nachhaltig verseuchen. Der neue Konformismus des rastlosen Performers hat sein Rollenvorbild ironischerweise im Nonkonformismus des Künstlers. So wie dieser die Nacht zum Tage macht, weil es die Inspiration gebietet und kein Dienstplan verbietet, kann der Büro-Performer noch spätnachts einpaar Powerpoint-Folien für die morgige Präsentation fertigen und sich dabei wennschon nicht wie ein Künstler, dann wie ein Held fühlen.

Das Performance-Prinzip hat uns fest im Griff, fast gleich, in welchem Berufsfeld wir arbeiten. Performance ist das Prinzip unserer gegenwärtigen Freiheit. Wir müssen keine fremden Stücke mehr nachspielen, wir dürfen uns unsere Vorgaben und Ziele selber setzen, wir werden nicht mehr geführt, sondern nur noch„controlt“, „gecoacht“ und „gemonitort“, wir befinden uns in einem Freiheitsregime, das uns immer weniger sagt, was wir zu tun haben, weil es mit Recht erwartet, dass wir selbst wissen, was wir zu tun haben, und dass sich unser Tun mit den allgemeinen Erwartungen deckt. Dieneuen Zwänge kommen fastohne die alten Zwangsmittelaus, die uns früher einmal amArbeitsplatz in die innere Emigration, die Entfremdung und Depression trieben. Man könnte denken, dass selbst regierte, hoch identifizierte Performer, sei es in der Kunst oder im übrigen Leben, nicht mehr an den alten Berufskrankheiten erkranken. Wie auch, sind sie nicht im Reich der Freiheit angekommen, in dem sie endlich ihre eigenen Potenziale und Kreativitäten ausleben dürfen?

Man kennt andererseits die Lebens- und Leidenserzählungen von Über-Performern. Sie leisten nicht nur am Arbeitsplatz und in ihrem Familienleben Außerordentliches, sie gehen auch in der verbleibenden Freizeit über sich hinaus, als Triathleten, Extremsportler, und sei es nur, weil das Potenzial es gebietet. Man kennt aus den Medien die Absturzgeschichten der hochperformanten Kreativsubjekte. Ihr Leiden heißt nicht mehr Depression, sondern Burn-out. Voraussetzung für das Burn-out ist freilich, dass jemand brennt. Hätte man früher einen Büroangestellten nicht für verrückt erklärt, wenn er behauptet hätte, für seinen Job zu brennen? Hat etwa Kafka für die Prager Unfallversicherungsanstalt „gebrannt“? Das Brennen ist zur Normaltemperatur des performativen Bürosubjekts geworden.

Das Ausbrennen ist dann nur eine Frage der Zeit. Vor lauter Präsenz, Performanzund Kreativität haben wir uns heiß gelaufen und wissen nicht mehr, wer wir sind. Der Extremismus der Performance-orientierten Lebensführung führt unweigerlich in die Burn-out-Klinik – und aus ihr wieder heraus in neue Phasen der Rekreation und Rehabilitation, in der wir uns den Extremismus wieder, diesmal aber „achtsam“ antrainieren. Man müsste gegen diesen neuen Konformismus der übermäßig Leistungs- und Darstellungsfrohen zum Widerstand aufrufen. Aber worin würde er bestehen? In der Verweigerung der Performance? Aber dann blieben wir ja unsichtbar?

Genau, die Voraussetzung für die Wiederherstellung unserer Souveränität wäre unsere Unsichtbarkeit. Die Nichtpräsentation. Von wem könnte man diese Kunst des Rückzugs lernen? Von Künstlern vielleicht, sicher nicht von Performancekünstlern, sondern von Künstlern des Rückzugs. Vielleicht von dem „alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel“, dem der Autor und Regisseur René Pollesch einen kurzen, aber eindringlichen Text gewidmet hat. „Er ist alt und trägt einen grauen Kittel, und sein Selbst bleibt vollkommen unausgedrückt. Der holt mir keinen Kaffee und erzählt sich dabei eine Geschichte oder träumt von einem diffusen Bereich, der allen offensteht. Der holt mir einfach nur meinen Kaffee. Der schreibt einfach seine Probenpläne. Sein grauer Kittel kann keine Geschichte erzählen einer Selbstverwirklichung. Dessen Selbst bleibt völlig unausgedrückt.“ Das ausdruckslose Selbst, im grauen Kittel: Vielleicht stellen solche Figuren ja etwas von der Würde wieder her, die uns Subjekten durch das Performance-Prinzip abhandengekommen ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2012)

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