Wenn alles zu nichts wird

Am Anfang war das Wort. Und dann? Über die Sprachlosigkeit.

Ad finem laborat, er müht sich dem Ende entgegen, sagt der Hausarzt, als Anton Wildgans ins Krankenzimmer tritt undsich nach dem Zustand seines Vaters erkundigt. Acht Jahre zuvor hatte Wildgans' Vater, gerade 50 geworden, einen Schlaganfall erlitten, und jetzt: Ad finem laborat. Es geht dem Ende zu. Zur Zeit des Schlaganfalls besuchte der Sohn die siebte Klasse des Gymnasiums. Jahre später wird er von den dramatisch veränderten Verhältnissen zu Hause berichten, als er, der Schüler, am Schreibtisch saß und im Schein der Petroleumlampe Schulstoff lernte, während der Vater im Zimmer auf und ab ging, sich mühend, die verloren gegangene Sprache zurückzugewinnen.

Im Alltag sagen wir, wir seien sprachlos vor Entsetzen, es verschlüge uns die Sprache, es fehlten uns die Worte. Wir benutzen Redewendungen, die Sprachlosigkeit ausdrücken. Aber Sprachlosigkeit bleibt uns erspart. Zum Glück. Denn wie am Anfang das Wort war, ist Sprachlosigkeit am Ende. Acht Jahre bis zu seinem Tod habe Anton Wildgans' Vater darum gerungen, die verlorene Sprache wiederzuerlangen. Ohne Erfolg.

Anton Wildgans erwähnt die Verzweiflung, die seinen Vater an den Rand des Selbstmordes geführt habe. Das ständige Misslingen beim Einüben der Wörter habe zu schrecklichen Tränenausbrüchen geführt. Der Sohn saß am Schreibtisch, über die Schulhefte gebeugt, die kleine Tochter spielte mit ihren Puppen, die Ehefrau hantierte im Haushalt. Die Familie war um den Vater versammelt. Und doch: unendliche Verzweiflung. Was hat es mit der Sprache für eine seltsame Bewandtnis, dass sie alles zu nichts werden lässt, wenn wir nicht mehr imstande sind, die Dinge zu benennen?

Über Sprache haben schon klügere Köpfe als ich nachgedacht, doch offenbargehört sie zu den Dingen, die imstande sind, uns vor dem drohenden Nichts zu beschützen. Und offenbar ist Sprachlosigkeit etwas, was uns nachhaltig von dem, was wir lieben, abschneidet, etwas, was so sehr auf den Tod hindeutet wie kein fehlendes Bein und kein fehlendes Auge. Ein fehlendes Bein bedeutet Versehrtheit. Fehlende Sprache aber bedeutet Hinfälligkeit. Hinfallen verursacht Angst. Auf das Hinfallen folgt das Liegen. Auf das Liegen folgt das Sterben. Auf das Sterben folgt der Tod. Hic iacet. Hier ist einer gefallen, hier liegt einer, für immer.

Und dann wächst Gras darüber. Gras. Das Wort strahlt etwas Frisches und Lebendiges aus. Tisch. Das Wort strahlt Festigkeit und Beharrlichkeit aus. Messer. Man hört dem Wort an, dass es Gras schneidet und dass man es ins Tischholz rammen kann. So sind die Wörter.

„Denn es ist kein Wort für euch, das ins Leere läuft, sondern es ist euer Leben.“ So heißt es im Deuteronomium. Ich gebe zu, ich musste das Wort Deuteronomium nachschlagen, weil es sich mir immer wieder entzieht. Jetzt genieße ich es: Deuteronomium. „Denn es ist kein Wort für euch, das ins Leere läuft, sondern es ist euer Leben.“ Deuteronomium, zweiunddreißig, siebenundvierzig. Lauter Wörter! Ankreiden, zum Beispiel. Auch so ein Wort. Blümerant. Auchso ein Wort. Einheimsen. – Einheimsen? Das heißt, etwas mit nach Hause nehmen. Heimtragen. Etwas, was mir von nun an gehört. Und das ich wieder verlieren kann.

Wörter bergen in sich die Möglichkeit, dass wir mit und in ihnen etwas mit nach Hause nehmen. In Wörtern halten wir Erfahrenes fest. In Wörtern wohnen die gemachten Erfahrungen. Gras ist nicht gleich Gras. Tisch ist nicht gleich Tisch. Messer ist nicht gleich Messer. Ich bäume mich auf. – Was sagt das? – Es beutelt mich sehr. – Was heißt das? – Ich schlucke daran. – Woran? – Am Nichts. – Schwer schlucken wir an dem, was nicht mehr ist. Mit dem, was noch da ist, sind wir gewappnet.

Wenn einem die Wörter ausweichen und die Dinge sprachlich nicht mehr fassbar sind, wird einem die Welt fremd, dann ist es schwierig, den Lebensraum bewohnbar zu halten. In einer plötzlichenWelt ohne Wörter wäre es immer Viertel nach drei in der Nacht. Der letzte Faden Licht erloschen, Stummheit und Finsternis, die Dinge eingehüllt wie in ein Leichentuch. Ad finem laborat. Er müht sich dem Ende entgegen. Das ist der Tod. – Am Anfang war das Wort.

In der griechischen Originalfassung der Genesis heißt es: Am Anfang war der Logos. Logos, das heißt Rede, Sinn, Vernunft. Mit Logos soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es ohne Logik keine Welt gäbe. Im Deutschen fehlt ein Wort, das dem griechischen Logos genau entspricht. Die Übersetzung von Luther ist dennoch erstaunlich. Ein so präzises Wort wie Wort statt des abstrakten Logos. Man möchte Luther fragen, was er sich dabei gedacht hat. So oder so, ich würde mich bei ihm bedanken: Eine gute Entscheidung, Herr Doktor!, würde ich sagen. Für Schriftsteller eine geradezu herrliche Entscheidung! Am Anfang war das Wort. Das heißt: Indem ich ein Wort ausspreche, schaffe ich eine Voraussetzung für Welt.

Mein Vater ist an Alzheimer erkrankt. Die Alzheimer-Krankheit macht einen Menschen in seinem Menschsein sichtbar zu etwas Verletzlichem und Zerbrechlichem. Zu etwas Zerbrechendem. Im Frühling des vergangenen Jahres sagte mein Vater: „Ja, gut, heute habe ich nicht viel gemacht, und das Wenige ist nichts geworden... Nicht einmal ein Zufallstreffer... Und wenn ich das weiterdenke, dann ist das... gar nichts ... Traurig... Ich habe nichts, ich kann nichts, es ist eine Katastrophe.“ Wenige Tage später, als ich ihm die Hosenträger befestigte und erklärte, das sei, damit er seine Hosen nicht verliere, sagte er: „Mir wäre lieber, ich würde meinen Verstand nicht verlieren.“ Er verliert den Verstand. Er verliert die Sprache. Und wenn wir sonst auch raue Gesellen sind und hart sein können wie Holzklötze – dem ist keiner gewachsen, erst recht nicht, wenn es ihn selber trifft.

Heute redet mein Vater nicht mehr viel. Selten noch ganze Sätze, sehr selten sind kleine Gespräche möglich. „Ich wollte dir nur sagen...“ sagt er, und ich muss mich zufriedengeben, denn er beendet den Satz nicht. Im Stillen denke ich darüber nach, was er mir – nur – sagen wollte. Die alte Gewohnheit, sich auszudrücken, kommt abhanden. Mein Vater ist der Sprache nicht mehr mächtig. Er ist nicht mehr beschlagen. Nicht mehr mit Wörtern beschlagen. Beschlagen, auch so ein Wort. Wie kurz doch der Weg ist von Beschlagenheit zu Geschlagenheit, von Sinnfälligkeit zu Hinfälligkeit. Wir haben alle panische Angst davor hinzufallen. Wir haben alle panische Angst davor – nicht zu wissen.

Der Vater von Anton Wildgans rang jahrelang um Wörter, ohne Erfolg. Dennoch unternahm er weiter Versuche, das Einvernehmen mit der Sprache wiederherzustellen. „Und dann, einen Augenblick später, ist durch irgendeine Ablenkung das soeben Geübte qualvoll-spurlos dem Bewusstsein entschwunden, muss neuerlich vorgesagt werden, und das Gemurmel geht weiter“, schreibt Anton Wildgans.

Die Hartnäckigkeit von Wildgans' Vater berührt mich; und auch die Verzweiflung angesichts der fortgesetzt erlittenen Niederlagen. Diese Verzweiflung hat mit verlorener Orientierung zu tun, mit verlorener Tuchfühlung. Wörter erzeugen eine Ausgewogenheit zwischen Innen- und Außenwelt. Sie sind Berührungsstellen zwischen mir und der Welt. Deshalb sind Wörter so immens kostbar, sie sind mit nichts aufzuwiegen, das ist zugleich die große Schattenseite der Wörter – dass sie mit nichts aufzuwiegen sind. Wörter. Sprache. Ich liebe diese Sprache. Manchmal ist es schön und manchmal gut und vor allem nie selbstverständlich, in ihr sprechen und schreiben zu dürfen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2012)

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