Pray and pay!

Die Vereinigten Staaten sind immer noch ein tief gläubiges Land. Doch die Zahl der „Nones“, der Menschen ohne Bekenntnis, wächst. Die großen Verlierer sind die Katholiken.

An einem strahlend schönen Sonntagmorgen fuhr Will Barrett, die Hauptperson in Walker Percys Roman „Die Wiederkehr“, durch eine kleine Stadt im Süden der Vereinigten Staaten. Als er mit seinem Mercedes durch die Church Street kam, strömten gut gekleidete Kirchgänger nach den Gottesdiensten aus ihren verschiedenen Gotteshäusern. Barrett fuhr an folgenden Kirchen vorbei, die sich rechts und links von der Straße befanden: die Christian Church, Church ofChrist, Church of God, Church of God in Christ, Church of Christ in God, Assembly of God, Bethel Baptist Church, Independent Presbyterian Church, United Methodist Church und Immaculate Heart of Mary Roman Catholic Church. Auf einer Hinweistafel las er: „African Methodist Episcopal Church: vier Häuserblocks, Starlight Baptist Church: acht Häuserblocks.“ Die Romanszene schließt mit folgender Feststellung: „Er lebte in der christlichsten Nation der Welt, den USA, im christlichsten Teil dieser Nation, dem amerikanischen Süden, im christlichsten Staat im Süden, North Carolina.“

Für viele Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks stellt die Romanszene die amerikanische Religiosität akkurat dar: die USA als ein Land frommer Kirchgänger, eifriger Beter, gottesfürchtiger Christen. Die im Juni 2008 veröffentlichte „Religious Landscape Survey“ des renommierten „Pew Forum for Religion and Public Life“ zeigt auf, dass mehr als neun von zehn Amerikanerinnen und Amerikanern an Gott oder eine höhere Macht glauben, 89 Prozent an Wunder, 74 Prozent an den Himmel und immerhin noch 59 Prozent an die Hölle. 58 Prozent der Amerikaner beten einmal am Tag oder öfter zu Gott, und 89 Prozent der Beter sind davon überzeugt, dass ihre Gebete zumindest manchmal erhört worden sind.

Das Wort „Gott“ ist in den Vereinigten Staaten fast allgegenwärtig, Religion nahezu überall spürbar. Trotz einer formal strengen Trennung von Staat und Kirchen ist der Einfluss der Religion auf Gesellschaft und Politik beträchtlich: Amerikanische Schülerinnen und Schüler müssen jeden Morgen ein „Pledge of Allegiance“ genanntes Treuegelöbnis aufsagen, in dem ihr Land als „Nation under God“ bezeichnet wird. Auf den Geldmünzen und Geldscheinen ist „In God we trust“ zu lesen, und so gut wie jede Rede eines amerikanischen Politikers endet mit „God bless America“.

Diese öffentliche und öffentlich zur Schaugetragene Religion – der Religionssoziologe Robert Bellah bezeichnete sie als „Zivilreligion“ – prägt und überhöht das amerikanische Gemeinwesen. Sie kann leicht in nationalen Chauvinismus umschlagen, wie etwa die Amtszeit des evangelikalen, „wiedergeborenen“ Christen George W. Bush deutlich zeigte. Im Glauben, die Vereinigten Staaten seien „God's own country“, huldigte Bush einem dualistischen Freund-Feind-Denken und führte einen Kreuzzug des Guten gegen die dunklen Mächte des Bösen.

„Wirf ein Ei aus dem Fenster eines Schlafwagenwaggons“, schrieb der Journalist H. L. Mencken in den 1920er-Jahren, „und du wirstheute fast überall in den Vereinigten Staaten einen Fundamentalisten treffen.“ Dieser Satzstimmt wahrscheinlich heute noch, vor allem in den Südstaaten, wo Fernsehprediger ihre „Pray-and-Pay“-Botschaft verkünden, Megachurches aus dem Boden schießen, Pfingstbewegte („Pentecostals“) in Zungen reden und Kreationisten die Vermittlung der Evolutionslehre in Schulen beseitigen wollen. Aber nicht alle Evangelikale sind bornierte Fundamentalisten, und der Erfolg von Tele-Evangelisten erklärt sich häufig dadurch, dass sie Glauben und Lebenscoaching, Jesus und positives Denken professionell zu kombinieren wissen. Zudem ist der Glaube an die Unfehlbarkeit der Bibel zurückgegangen: Waren in den 1970er-Jahren noch 40 Prozent der Amerikaner von der Verbalinspiration, der Lehre, die Bibel sei wortwörtlich von Gott diktiert, überzeugt, so sind es heute nur noch etwas über 30 Prozent. Das ist natürlich noch immer ein vergleichsweise hoher Prozentsatz.

Die an der Harvard University lehrende Religionswissenschaftlerin Diana L. Eck nenntdie USA „die religiös vielfältigste Nation der Welt“. Das Bild, das sie von der religiösen Landschaft der USA zeichnet, stimmt nicht mit Walker Percys eingangs geschilderter Südstaaten-Szenerie überein: Es stimmt zwar,dass es eine Unmenge von christlichen Kirchen und Konfessionen oder – so der in den USA bevorzugte Begriff – „Denominationen“ gibt. Die liberale Einwanderungspolitik Mitte der 1960er-Jahre führte aber auch dazu, dass zahlreiche Muslime und Buddhisten, Hindus und Sikhs, Jains und Zoroastrier aus allen Teilen der Welt in die Vereinigten Staaten kamen und das Land in eine höchst religionsplurale Gesellschaft verwandelten. In Silver Spring, Maryland, einer Stadt mit über 70.000 Einwohnern unweit von Washington, D.C., wurde mir diese „Verbuntung“ (Paul M. Zulehner) der religiösen Landschaft Amerikas deutlich bewusst: In der Nähe des Hauses eines amerikanischen Kollegen und Freundes, in dem ich vor einigen Jahren wohnte, befanden sich unterschiedliche christliche Kirchen, eine ukrainisch-orthodoxe etwa, eine evangelikale und eine römisch-katholische. Aber es gab auch zwei Moscheen, einZentrum der Jains, einenmormonischen und einenbuddhistischen Tempel. In Los Angeles gibt es über 300 buddhistische Tempel und mehr Varianten des Buddhismus als in jeder anderen Stadtder Welt. Im Gegensatz zu Muslimen und Hindus sind zwei Drittel der Buddhisten nicht Einwanderer aus Asien, sondern US-amerikanische Konvertiten.

Die religiöse Landschaft Amerikas bietet auch eine Reihe von Religionen, die in Amerika selbst entstanden sind: Neben den indigenen Traditionen der amerikanischen Indianer sind vor allem die Mormonen zu nennen,deren prominentester Repräsentant zurzeit zweifellos Mitt Romney ist, aber auch Adventisten und Zeugen Jehovas, die Christlichen Wissenschaften und die Scientologen. Und trotz der Dominanz eines politisch konservativen Christentums gibt es in den USA einige Denominationen, die selbst ungehorsamenkatholischen Priesternals häretisch erscheinen würden: liberale Quäker etwa, deren gottesdienstliche Treffen in Stille und ohne Programm ablaufen und die weder Riten noch Geistliche kennen. Oder den unitarischen Universalismus, der Weisheitslehren aus verschiedenen Traditionen aufgenommen hat und kein verbindliches Glaubensbekenntnis kennt. Sowohl Quäker als auch Unitarier zeichnen sichübrigens durch ihr starkes Engagement für Frieden und soziale Gerechtigkeit aus.

Mehr als die Hälfte der amerikanischen Erwachsenen haben ihre Religionszugehörigkeit zumindest einmal in ihrem Leben gewechselt. Immer häufiger wechseln Amerikaner allerdings nicht von einer religiösen Gemeinschaft zu einer anderen, sondern zu gar keiner, sie werden zu – wie sie in den USA genannt werden – „Nones“, zu Menschen, die bei der Frage nach ihrer Religionszugehörigkeit „none“ („keine“) ankreuzen. Die „Nones“ sind die am stärksten wachsende „religiöse“ Gruppe der USA. Betrug ihre Zahl1957 nur drei Prozent der amerikanischen Bevölkerung, so ist sie laut einer Anfang Oktober dieses Jahres veröffentlichten Studie des„Pew Forum for Religion and Public Life“ auf knapp 20 Prozent angewachsen. Ein Teil der „Nones“, immerhin sechs Prozent der amerikanischen Gesamtbevölkerung, bezeichnet sich als Atheisten oder Agnostiker, der größere Teil aber sind Menschen mit frei vagabundierender, eklektischer Religiosität, religiös beziehungsweise spirituell nicht uninteressiert, aber unwillig, sich einer konkreten, institutionell verfassten Religionsgemeinschaft anzuschließen.

Religiöse Überzeugungen haben in den USA viel mit Wohnort und Alter zu tun. Die Menschen in den Südstaaten und in Utah sind wesentlich religiöser als jene in den Neuenglandstaaten oder im Nordwesten. DieReligionswissenschaftlerin Patricia O'Connell Killen bezeichnet den Pazifischen Nordwesten der USA, die Bundesstaaten Oregon, Washington und Alaska, als „None Zone“. Es gebe dort mehr Menschen ohne religiöses Bekenntnis als irgendwo sonst in den USA, nämlich über 30 Prozent. Ebenfalls 30 Prozent beträgt der Anteil der Bekenntnislosen in ganz Amerika bei den 20- bis 30-Jährigen („Millennials“). In dieser Altersgruppe sind zudem überdurchschnittlich viele Atheisten und Agnostiker zu finden, was zumindest teilweise auf die hohe mediale Präsenz religionskritischer Vordenker wie Richard Dawkins, Sam Harris, Bill Maher und den im Vorjahr verstorbenen Christopher Hitchens zurückzuführen ist.

Seit 2010 ist Patricia O'Connell Killen Vizerektorin der Gonzaga University in Spokaneim Pazifischen Nordwesten der USA. Ich kenne sie, weil ich an dieser Universität des Jesuitenordens im vergangenen Studienjahr als Gastprofessor tätig war. Ich mochte den offenen und sozial engagierten Katholizismus dieser Uni. Die am Campus gelegene Pfarrkirche St. Aloysius war an Sonntagvormittagen immer gut besucht, die Musik war lebendig, die Predigt exzellent. Das ist nicht in allen katholischen Kirchen so. Insgesamt nimmt die Bindungskraft des Katholizismus in den USA stark ab: Die katholische Kirche ist jene Religionsgemeinschaft, die zahlenmäßig und prozentual die höchsten Austrittezu verzeichnen hat. Für ein Viertel der Ausgetretenen waren die unzähligen Fälle klerikaler sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche undderen Vertuschung durchdie Bischöfe der entscheidende Grund dafür. Zwar ist mehr als jederfünfte Amerikaner einKatholik, doch jederzehnte ist bereits Exkatholik. Einer von drei Amerikanern, die als Katholiken aufgewachsen sind, bezeichnet sich heute nicht mehr als solcher. Die Mitgliedszahlen der katholischen Kirche sind nur wegen der vielen Latinos, die in die USA eingewandert sind, nicht dramatisch eingebrochen.

Der (sonntägliche) Gottesdienstbesuch in den Vereinigten Staaten ist wesentlich geringer, als man lange Zeit glaubte. Nach dem Religionssoziologen Mark Chaves liegt er eher bei 25 Prozent der Gläubigen als bei 35 Prozent oder gar 40 Prozent, wie zahlreiche Umfragen behaupteten. Viele Amerikaner orientieren sich nämlich bei der Beantwortung von Fragen über ihren Kirchenbesuch stärker am gesellschaftlichen Erwartungsdruck als an Tatsachen, ein Verhalten, das in der Umfrageforschung als „Tendenz zur sozialen Erwünschtheit“ bekannt ist.

Es gibt eine stark positive Korrelation zwischen Kirchenbesuch und politischem Konservatismus: 43 Prozent der Gläubigen, die wöchentlich oder öfter in die Kirche gehen, wählten 2008 Barack Obama, 55 Prozent jedoch den Republikaner John McCain. Dabei war die Unterstützung der Kirchgänger für Barack Obama noch wesentlich höher als jene für John Kerry und Al Gore vier beziehungsweise acht Jahre davor. Würde Mitt Romney am 6. November 2012 zum amerikanischen Präsidenten gewählt, hätten die eifrigen Gottesdienstbesucher maßgeblich dazu beigetragen.

Dass die hohen Zahlen über den Kirchenbesuch in den USA nicht den Tatsachen entsprechen, hat also auch sein Gutes. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2012)

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