Verzögern!

50 Jahre danach: Was lehrt uns die kubanische Raketenkrise für den Fall Iran? Diese historische „Raketenkrise“ trieb die Welt an den Rand eines Atomkriegs.

Washingtons Geheimoperation „Mongoose“ (ein US-Militärschlag gegen Fidel Castro) prallte im Oktober 1962 aufdie Geheimoperation „Anadyr“, Moskaus Versuch, Kuba mittels Stationierung von Atomwaffen unangreifbar zu machen. Diese historische „Raketenkrise“ trieb die Welt an den Rand eines Atomkriegs. Am 27. Oktober 1962, Höhepunkt des Säbelrasselns, fehlten 14 Stunden auf ein globales Armageddon.

Wie knapp am Weltuntergang vorbeigeschrammt wurde, wissen wir dank der Entspannung nach 1990, als die alten Haudegen aus Moskau und Washington eine Reihe von Konferenzen organisierten, um alle Karten auf den Tisch zu legen. Darob gab es in den Folgejahren neue Publikationen zur Intensität der Raketenkrise, mit der Gewissheit über 46.000 auf Kuba stationierte sowjetische Kampftruppen, 90 Atomsprengköpfe, einige Dutzend Abschussrampen für Kurz- und Mittelstreckenraketen und vier um Kuba lauernde russische U-Boote mit je einer startklaren Interkontinentalrakete.

Archivarische Überraschungen kann es inzwischen kaum noch geben. Historiker gehen daher den relativ banalen Fragen des kubanischen Alltags im Herbst 1962 nach. Wie stark wurden die Soldaten verstrahlt? Hätten angesichts der Tropenhitze, der Moskitoschwärme, der allgegenwärtigen Ratten die Raketen überhaupt funktioniert? Hätten die Bomber von US-Luftwaffenchef Curtis LeMay alle Startrampen zertrümmern können? Sicherlich viele, wohl nicht alle. Vor allem der russische, mit einem 14-Kiloton-Atomsprengkopf bestückte FKR-Marschflugkörper (Frontovaya Krylatay Raketa) 20 Kilometer außerhalb des US-Marinestützpunktes Guantánamo (Moskaus freigegebene Fotos zeigen das Gerät versteckt im Palmenhain) hätte bei Beginn der US-Bombardements, da unentdeckt, sofort feuern können.

Mischen: drohen und belohnen

Gerettet haben die Welt damals Kennedyscouragierte Diplomatie sowie Chruschtschows Zögern. Castro, bereit für den Atomschlag, wurde einfach übergangen. Professor Graham Allison, heute Harvard University, publizierte 1971 den Theorie-Klassiker zum Thema: „Essence of Decision. Explaining the Cuban Missile Crisis“.In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „Foreign Affairs“ versucht er die Lehren aus der kubanischen Raketenkrise auf die heutige Situation zu übertragen, in der USA, Iran und Israel in einem atomaren Szenario schwitzen. Kennedys Militärstrategen, so Allison, dachten schwarz-weiß: entweder bombardieren – oder den Schwanz einziehen und die Atomraketen auf Kuba akzeptieren! Kennedy wie auch Chruschtschow konnten diplomatische Nuancen einbringen, die beiden das Gesicht retteten und mit viel Glück den Atomschlag verhinderten.

Genau dies, meint Graham Allison, müsse heute versucht werden: Washington, international breit unterstützt, sollte Teheran mit einer Mischung aus Drohungen und Belohnungen das eigene Atomprogramm vorerst einmal auf Jahre hinauszögern lassen. Gleichzeitig wäre Israel unter Kontrolle zu halten.

Schreibt Professor Allison. Ihm gilt daher als eigentlicher Gewinn die Zeitverzögerung. Dass der Iran nicht für immer zur atomaren Abstinenz verurteilt sein kann, gilt in der Theoriedebatte als ausgemacht. Damit leben zu lernen, auch in Israel, gehört zur eigentlichen Herausforderung von heute. Deswegen bringt „Foreign Affairs“ in derselben Nummer den Essay von Columbia-Professor Kenneth Waltz „Why Iran should get the bomb“, als These, ein nuklearer Iran würde in der Region nicht weniger, sondern mehr Sicherheit erzeugen. – Ob in diesem Fall die Politiker der Theorie folgen wollen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2012)

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