Was kostet ein Politiker?

Durch den Wald vor Kiew sehe ich ein kleines Rudel jener Hunde streunen, die ausgesetzt wurden. Die Hunde fliehen in die Wälder. Entweder sie krepieren dort. Oder sie verwandeln sich in Wölfe zurück. Die Ukraine vor den Parlamentswahlen.

Košice-Uschgorod. Nach vielen Jahren fahre ich wieder mit dem Autobus über die slowakisch-ukrainische Schengengrenze. Alles ist anders. Auf sämtlichen Fensterplätzen haben Kartons mit Joghurts, Chips und Biskotten Platz genommen. Außer mir gibt es nur einen authentischen Fahrgast, eine junge ukrainische Nonne, die später in einer tschechischen Sexualberatungsbroschüre für Pubertierende versinken wird. Die Nonne starrt die Lebensmittel an wie das biblische Manna. Es dauert, bis wir das neue Schmuggelschema verstehen: Wegen der geringen Preisunterschiede zwischen der Slowakei und der Ukraine lohnt nur der Transport von großen Mengen Aktionsware, die man nur unter Mitarbeit eingeweihter ukrainischer Zöllner über die Grenze bekommt. Die Umsatzsteuer holt man sich legal zurück, das schmuggelnde Personal ist auf drei athletische Frauen reduziert.

Es ist schon dunkel, als eine feinsinnig lächelnde Zöllnerin den Bus betritt. „Warum so spät?“, fragt die Ukrainerin den Fahrer. Sie dreht kein Licht auf, schreitet gemessenen Schrittes durch den Bus, ihr Blick schweift vage über die gestapelten Biskotten hinweg. „Sehr gut“, sagt sie. Und steigt aus.


Im Schlafwagen Uschgorod-Kiew. Ich verbringe 16 Stunden mit einem ukrainischen Ehepaar mittleren Alters. Der Ehemann, mit einem adlerscharf geschnittenen Gesicht und schulterlangen Haaren, beeindruckt mich. Er küsst seine Frau am Abend und am Morgen, liest ihr aus seinem Smartphone Witze vor. Die Ansicht einer geglückten Ehe währt bis kurz vor Kiew, als der Adler mit der vierten Mitreisenden ins Gespräch kommt. Er stellt sich als Assistent eines Abgeordneten der „Partei der Regionen“ vor, der Partei von Präsident Viktor Janukowitsch. Die vierte Mitreisende neigt der Opposition zu, dem „orangen“, „westlich orientierten“ Lager, ist aber hauptsächlich traurig über ihr Land. Der Adler erklärt mit stechendem Blick, er sei neun Mal klinisch tot gewesen, in Afghanistan hätten ihn Heckenschützen erwischt. „Das Problem der Ukraine ist ein Mangel an Selbstachtung.“ Er sagt, in seinem Wahlkreis hätten die Leute Arbeit und Sicherheit.

Die Vierte versucht ihn festzunageln: „Sie haben bestimmt die bombastischen Villen der Zöllner in Uschgorod gesehen. Sagen Sie, kann man im Zoll Ordnung schaffen?“ Er antwortet rasch: „Wozu?“ Und nach längerem Überlegen: „Unter den gegebenen Umständen ist das nicht möglich. Sie müssen die nationale Mentalität berücksichtigen.“ Er zeigt aus dem Fenster, in den Wald, dort kommt ihm gerade eine wilde Mülldeponie zurecht. „Haben das Janukowitsch und seine Abgeordneten hingelegt?“

Er führt an, dass er ein großes Gasunternehmen vertrete. Er sagt wörtlich: „Wir haben drei Abgeordnete für zwei, drei Millionen gekauft, damit sie im Parlament unsere Interessen vertreten.“ Ein Politiker mit Gewissen würde bis zu zehn Millionen Dollar kosten, fügt er hinzu. „Wie zynisch Sie sind!“, stößt die Mitreisende hervor. Der liebende Ehemann darauf: „Soll ich an Hunger krepieren für Ihren Romantizismus?“


Ich fahre eine Woche
durch die Ukraine, vor den Parlamentswahlen am 28. Oktober. Ich will keine Fragen stellen und die Bevölkerung unauffällig belauschen, unterwegs und um das Charkower Gefängnis herum, in dem die Oppositionsführerin Julia Timoschenko ihre vorläufig siebenjährige Haftstrafe absitzt. Unter Timoschenkos Regierungszeit hörte ich übrigens ähnliche Geschichten.

Eigentlich ist mit den Worten des Adlers alles gesagt. Durch den Wald vor Kiew sehe ich ein kleines Rudel jener Hunde streunen, die in der Krise ausgesetzt wurden. Zunächst streunten sie nur in den Städten, nun sind sie sogar schon in den Karpaten zu sehen. Die Hunde fliehen in die Wälder. Entweder sie krepieren dort. Oder sie verwandeln sich in Wölfe zurück.


Donezk, Leninplatz,
die Hochburg des Regierungslagers. Im ganzen Land sind auf der Grundfläche von vier Quadratmetern dünne Wahlkampfzelte aufgestellt, an jeder Ecke des Leninplatzes steht eines der „Regionalen“. Ein Dutzend Polizisten bewacht den Aufbau einer Bühne, in sieben Stunden tritt Julia Timoschenkos Ersatzmann als Listenführer der „Vereinigten Opposition“ auf. Arsenij Jazenjuk ist ein schmächtiges Professorenkind aus Czernowitz, er gewinnt im Kohlerevier keinen Blumentopf. Dabei liegt die Opposition gar nicht schlecht, wenn man Vitali Klitschkos aufstrebende Partei „Schlag“ und die galizischen Faschisten zusammenzählt. Alle rechnen dennoch mit einer Fortsetzung der „Regionalen“-Herrschaft. Die Hälfte der 450 Mandate werden neuerdings über Einerwahlkreise besetzt. Dieses Wahlrecht galt schon 2002, die 225 Lokalmatadore haben sich rasch mit der Macht arrangiert.

Donezk hat sich wie keine andere ukrainische Stadt verändert. Zwischen den Abraumhalden sind Glastürme und englische Aufschriften aufgetaucht, nur der faulige Gestank ist geblieben. Ein grauhaariges Männlein hält vor einem Zelt und zeigt auf das Porträt der lokalen Einerwahlkreis-Kandidatin: „Mit der bin ich in die Schule gegangen!“ Die Studentinnen im Zelt blicken gelangweilt von ihren Skripten auf.


Ukrainka,
eine hübsch am Dnjepr gelegene Kleinstadt, Zone der Opposition. Zwei Pensionistinnen sitzen im Wahlkampfzelt der „Vereinigten Opposition“ und lösen Kreuzworträtsel. Wenn einer fragt, preisen sie Julia Timoschenko als furchtlose Märtyrerin der Nation, ansonsten sitzen sie ihre acht Stunden täglich ab und verdoppeln sich in zehn Tagen ihre Pension.

Ich lausche von außen, als eine alte Frau das Zelt betritt. „Eines muss ich schon sagen,“ legt die Alte los, „man macht sich keine Vorstellung, was so ein Schlaganfall bedeutet.“ Die Wahlkämpferinnen geben der Besucherin höflich recht. Mit der Zeit dämmert mir, dass die Alte das weiße Zelt der Opposition mit dem ebenfalls weißen Zelt einer Initiative zur Vorbeugung gegen Schlaganfälle verwechselt haben muss.


Dnjepropetrowsk. Die Ukraine ist ein hochpolitisiertes Land. Die großen Fernsehsender strahlen täglich bis tief in die Nacht politischeRingkämpfe aus, moderiert von Talkmastern aus Russland; dort haben sie keine Arbeit, dort wird nicht diskutiert. Auch die Gespräche in den Schlafwagen des Mittelklasse-Typs „Coupé“ streifen fast immer die Politik. Kein Ukrainer bringt dabei die Herzensthemen der EU-Vertreter auf – die Inhaftierung der Ex-Oligarchin Timoschenko oder das kürzlich eingebrachte Gesetz über ein Verbot „homosexueller Propaganda“.

Ukrainer haben andere Sorgen, aber ich genieße die rhetorische Gewandtheit, die Lebensklugheit und den Humor dieser Diskussionen im Coupé. Da wäre der pensionierte Facharbeiter eines Kohlebergwerks aus dem Donbass, der seiner Niere etwas Gutes tun will mit dem Heilwasser der Karpaten. Die Objektivität seiner politischen Analyse raubt mir beinahe den Atem. In Krasnoarmejsk steigt ein Pensionistenpaar zu, „Kurortniki“ auch sie. Ich ziehe mich auf die obere Pritsche zurück. Als sie vom Kurtratsch zur Politik kommen, bespricht der pensionierte Kohlekumpel dieselben Themen mit einer deutlich anderen Färbung. Nun greift er Janukowitsch nicht mehr persönlich an, und statt der vorher sehr differenzierten Bewertung nennt er Timoschenko nun einfach nur noch einen „kranken Menschen“.

Wen lügt er an, mich oder die Landsleute aus dem Donbass? Haben die Donezker mit der Fußballeuropameisterschaft Eurosprech gelernt? Und noch eine Frage: Wenn in den ukrainischen Schlafwagen alle so klar das Problem begreifen, warum bleibt das Land gefesselt in seiner Korruptokratie? Ist es der eingeübte Zwang, letztlich doch zu einem der beiden Lager zu halten? Wählt der Hungerleider die Raubtiere seines Lagers, nur damit nicht die Raubtiere des anderen Lagers regieren?


Kiew-Charkow.
In einem der sechs für die Euro angekauften Züge, über die das Land ein Jahr diskutiert hat. Mein doppelzüngiger Kohlekumpel hat diese Hyundais „unseren ersten Schritt nach Europa“ genannt. Man sitzt wie im Flugzeug, für Ukrainer ungewohnt. Niemand diskutiert. Es gibt keine Abfallbehälter, dafür geht fortwährend eine Bedienstete durch und murmelt: „Müll, Müll.“ Diese Frau, zu einem laufenden Mistkübel degradiert, geht Tag für Tag viele Schritte Richtung Europa.


Charkow.
Bei Nacht das frühsowjetische Gespenst einer Stadt, bei Tag tut sich im Zentrum der Millionenstadt doch so etwas wie urbanes Leben auf. Ich stolpere unwillkürlich in eine russisch-orthodoxe Buchmesse. Bemerkenswert viele Blinde sind auf der Suche nach Lektüre. An einem Stand rangeln sich die Leute um ein Büchlein, das Stalin auf dem Cover zeigt. Ein adretter Typ in einem bodenlangen Ledermantel ruft mir zu: „Nehmen Sie es, es ist das letzte Exemplar!“ Es ist sehr billig, der Name des Autors wird geheim gehalten, ich nehme es. Das Werk erweist sich als eine gegen Freimaurer und Zionisten gerichtete Verschwörungstheorie, die Stalin zu einem Verteidiger des russisch-orthodoxen Glaubens erhebt.

Ich gehe mit dem Mann auf einen Kaffee. Anhänger des Moskauer Patriarchats, schreibt Bücher über spirituelle Phänomene, ich ordne ihn automatisch dem „östlich orientierten“ Regierungslager zu. Ich frage ihn, wen er wählt. Er zieht mit verschwörerischer Miene einen Kalender. Der Kalender zeigt – den „westlich orientierten“ Vitali Klitschko. Ich erzähle ihm, dass ich zur „Kolonie Nr. 54“ will. „Arbeitskolonie Nr. 54“, bessert er mich aus. Er mokiert sich, dass Europas berühmteste Gefangene nicht arbeitet. Diese Kritik höre ich öfter.


Nach Katschanowsk
fährt keine Metro. Meine Zielbeschreibung verwirrt den Taxifahrer. Ich sage: „Wo Julchen einsitzt.“ Jetzt kennt er sich aus. Er lässt mich in einem flach bebauten Außenbezirk aussteigen, viele Firmen. „Bitte, hier sitzt Julchen ein.“ Die Straße heißt vollkommen zutreffend Kastanienstraße. Julia Timoschenko wurde 2010 in diesem Wahlkreis von immerhin 25 Prozent gewählt, sie ist nicht in absolutem Feindesland. Reichlich Mauern und Zäune, um den Stacheldrahtzaun einer Firma rankt sich Weinlaub, alte Ahornbäume. Es mag der milden Herbstsonne zuzuschreiben sein, dass das Viertel einen harmonischen Eindruck auf mich hinterlässt.

Über dem Eingangstor des Knasts hängt ein Werbeplakat für das Produkt, das von den Insassinnen hergestellt wird – farbenfrohe Arbeitskleidung. Vor dem Knast liegt ein junger Mann im Laub. „Stehen Sie auf!“, fordert ihn eine Passantin auf. „Ich kann nicht aufstehen“, gibt der Liegende zurück.

Innerhalb weniger Minuten versorgt ein Rettungswagen den Besoffenen. Ich sehe in den Halbkeller der Firma „Ukrainskij Express“ hinein. Dort unten sitzen Frauen, holen Plastikschmuck aus Kartons, stecken die Schmuckstücke in kleine Plastiktüten und binden sie zu. Ich sehe ihnen vom Gehsteig aus zu, lange. Ukrainskij Express zahlt wohl nach Stückzahl, niemand bemerkt mich.

Ich setze mich ins nächstgelegene Café. Es heißt „Gangster Pizza“. Die Barfrau ist schon Witwe, ihr Mann starb mit 40, „Wodka“. Jeanna nennt das Viertel arm, es sei auf Charkows ehemaliger Mülldeponie errichtet worden. Sobald Jeanna weiß, dass ich wegen der ehemaligen Premierministerin durchziehe, schlägt sie einen giftigen, ja eifersüchtigen Ton an: „Wenn sie dich so interessiert – sie ist wieder zu haben. Ihr Mann hat sich mit der Kohle nach Tschechien abgesetzt.“

Jeanna behauptet, dass sie vom Balkon ihrer Wohnung auf Timoschenkos Zelle sieht: „Wenn sie nicht im Spital auf krank macht, läuft sie dauernd in der Zelle auf und ab. Sie kann nicht ruhig sitzen.“ Dass Julia Timoschenko verurteilt wurde, findet Jeanna richtig: „Es sollten noch viel mehr sitzen.“ Jeanna wirft der Ex-Premierministerin vor, schuld an der Schließung des Cafés zu sein, in dem sie früher gekellnert hat: „Da kamen Busladungen von Demonstranten an, die wollten alle mit Tee versorgt werden. Das hat der Laden nicht überlebt.“

Weiters höre ich bei „Gangster Pizza“ die Klage, dass am Gagarin-Boulevard die Linden abgeholzt worden sind, vier Reihen. „Ist auch daran Timoschenko schuld?“, frage ich. „Nein“, sagt Jeanna, „das war die Regierung. Der Gagarin-Boulevard verbindet den Flughafen mit dem Stadion. Da sind die Gäste der Euro durchgefahren. Die Regierung wollte, dass das hier schön europäisch aussieht.“


Busfahrt Ukrainka-Kiew.
Die Strecke führt auf der Länge von 20 Kilometern an den abgeschirmten Villenkolonien der oberen Zehntausend vorbei. Die Ukraine ist kein Land des Waldes, es ist ein weites, offenes Land der Felder und Haine, die ukrainische Elite wohnt aber im Wald. Es ist ein dichter, ziemlich hässlicher Nadelwald, viel Sonne kriegen die gekauften Abgeordneten nicht ab. Es gibt bislang keinen Hinweis, dass sie sich dort von Wölfen zurück in Menschen verwandeln. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2012)

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