Bis es kein Zurück mehr gibt

Zentralisierung der politischen Macht, ökonomischer Dirigismus,sinnlose Subvention maroder Peripherien: die Europäische Union auf dem Weg in die Sowjetisierung? Eine Attacke.

Nicht selten wurden kollektive Träume von einer besseren undgerechteren Welt zu monströsen Albträumen und verkehrten die ursprünglichen Absichten in ihr Gegenteil. Über die Geschichte der europäischen Utopien, beginnend mit Platons „Politeia“ bis zu den politischen Religionen des 20. Jahrhunderts, ließe sich ohne Schwierigkeiten ein großer Bogen von großen Illusionen zu herben Enttäuschungen und Katastrophen spannen.

Die Europäische Union war gleichsam die letzte verbliebene Utopie: Eine postnationale Gemeinschaft sollte im Rahmen des politischen Liberalismus geschaffen werden. Nur über die politische Struktur eines geeinten Europas vermochten sich die Eliten des europäischen Einigungsprozesses nicht zu verständigen. Man schuf zwar den Europäischen Rat, die Europäische Kommission und ein Parlament mit höchst eingeschränkten Kompetenzen, die politische Union blieb jedoch eine einzige Baustelle, um es mit den Worten des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jaques Delors auszudrücken. Daran störte sich jedoch kaum jemand: Die Technokraten in Brüssel konnten ihre Befugnisse mehr und mehr erweitern, und die Bürger kümmerten sich herzlich wenig um die europäischen Probleme beziehungsweise um die Zukunft des Kontinents.

Eines der größten Probleme der Europäischen Union ist nach wie vor ihr Demokratiedefizit, weder der Rat noch die Kommission sind demokratisch legitimiert, die politischen Entscheidungsfindungen erinnern in manchen Aspekten an ein Politbüro sowjetischer Prägung. Deshalb dürfte es auch kein Zufall sein, dass die Europäer nicht von Ministern, sondern von Kommissaren regiert werden, die einer parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen sind. Alan Posener umreißt den europäischen Parlamentarismus zutreffend: „Dieses Parlament, in dem es weder eine Regierungsbank noch eine Opposition gibt, funktioniert in Wirklichkeit als erweiterte Beratungsinstanz der Kommission, mit dem es sich einig weiß im Bestreben, die nationalen Parlamenteso weit wie möglich zu entmachten.“ Das Demokratieverständnis der Eurokraten beschreibt der Chef der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, recht freimütig: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Wie weit mittlerweile die Selbstentmachtung der nationalen Parlamente vorangeschritten ist, mag eine „Vereinbarung“ des deutschen Bundestages mit der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 verdeutlichen: Die Regierung darf trotz gegenteiliger Meinung des Bundestages „aus wichtigen außen- und integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen treffen“. Mit diesem Abkommen braucht die Bundesregierung kein „Ermächtigungsgesetz“ mehr, sie ist schon ermächtigt.

Wer diese politischen Zustände kritisiert wird sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt sehen, ein Anti-Europäer zu sein, und unterschwellig wird ihm häufig unterstellt, nationalistische Ressentiments gegenüber dem europäischen Zivilisationsfortschritt zu hegen. Dieser politische Ignorant scheint immer noch nicht begriffen zu haben, von welchen hehren Absichten sich die Eurokraten und die Europäische Union leiten lassen. Hans Magnus Enzensberger belehrt uns wenigstens über die good governance der Union: „Ihre Originalität besteht darin, dass sie gewaltlos vorgeht. Sie bewegt sich auf leisen Sohlen. Sie gibt sich erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie ein gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, dass wir selbst wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir in ihren Augen viel zu hilflos und zu unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden.“ So viel zum zukünftigen Homo europaeus.

Die nicht zu bändigende Regulierungswut unserer Wohltäter lässt sich auch materiell darstellen: Der sogenannte Acquis communautaire – die verbindlichen Rechtsakte und Normensammlung der Europäischen Union – umfasste bereits im Jahr 2004 ungefähr 85.000 Seiten. Im Jahr 2005 wog dieses „Amtsblatt“ der EU schon mehr als eine Tonne und entsprach damit dem Gewicht eines jungen Nashorns. Allein dieser kurze Verweis mag ein Indikator dafür sein, wie ernst die EU das Prinzip der Subsidiarität nimmt.

Die Einführung einer gemeinsamen Währung sollte der Königsweg zur Vollendung der europäischen Vereinigung werden. Der deutsche Kanzler Helmut Kohl verkündete im Jahr 1998 in einer Märchenstunde des deutschen Parlaments: „Die gemeinsame europäische Währung wird Europa als Raum wirtschaftlichen Wohlstands und monetärer wie sozialer Stabilität festigen. Meine Damen und Herren, nach der vertraglichen Regelung gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers.“

Zehn Jahre später wurden diese hehren Versprechungen Lügen gestraft: Die drohende respektive faktische Insolvenz Griechenlands und anderer südlicher Länder stellt die Sinnhaftigkeit einer gemeinsamen Währung massiv in Frage. Nicht wenige kritische Ökonomen sagten das Fiasko des Euro voraus: Der inzwischen verstorbene Milton Friedman darf als Prophet gelten: Zur Einführung der gemeinsamen Währung im Jahr 1999 vertrat er die These, die erste große globale Rezession werdedie Euro-Union auseinanderreißen. Die skeptischen Ökonomen befürchteten, dass die europäischen Staaten wirtschaftlich und mental zu unterschiedlich seien, um auf das Ventil anpassungsfähiger Wechselkurse und eigenständiger Geldpolitiken verzichten zu können.

Der Einführung des Euro lag unter diesen Umständen keine ökonomische Notwendigkeit zugrunde, das Motiv war schlicht eine politische Illusion: Der Euro sollte ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Union sein. Eine gemeinsame Währung steht jedoch in der Regel am Ende eines politischen Einigungsprozesses, der bestehende unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen um der Einheit willen bewusst in Kauf nimmt. Diese Entscheidung setzt jedoch das Vorhandensein eines politischen demos voraus, der die politische Einheit über ökonomische Interessen stellt. Die deutsche Wiedervereinigung ist dafür ein klassisches Beispiel.

Im Fall der Euro-Einführung wurden alle Bedenken leichtfertig vom Tisch gewischt. Ökonomisch schwache Länder wurden mit billigem Geld geschwemmt, die die einzelnen Staaten und ihre Bürger zur Überschuldung geradezu einluden. Der ökonomische Aschermittwoch war damit programmiert: Die Gesetze des Marktes zerstörten die schöne Illusion einer funktionierenden gemeinsamen Währung. Drohende Staaten- und Bankenpleiten, Immobilienblasen und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit hätten die europäischen Politiker zur Einsicht in die Fehlentscheidung eines gemeinsamen Euros und zu gesetzlichen Reformen für die Insolvenz von Staaten und Banken sowie eines geregelten – zumindest zeitlichen Austritts – aus der Eurozone führen müssen.

Jetzt schlug jedoch die Stunde des europäischen „Politbüros“: Die Marktwirtschaft und die demokratische Souveränität der Nationalstaaten wurden unter der Berufung auf den Notstand so weit wie möglich ausgehebelt: Brandmauern – ein Begriff, der bisher nur aus der gesetzlichen Bauordnung bekannt war – sollten errichtet werden, um die europäischen Staaten vor gierigen kapitalistischen Spekulanten zu schützen. Diesem Brüsseler Regulierungswahn waren bisher durch den Vertrag von Maastricht enge Grenzen gezogen, die Eingriffe der Union in die Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik der EU-Staaten untersagten. Verbindliche Vorgaben des Vertrages waren die Höhe der staatlichen Neuverschuldung und die Quote der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttonationalprodukt. Grundsätzlich gilt zwischen den Staaten der Europäischen Union das Prinzip: No bail-out. Kein Staat durfte erwarten, dass er bei unsolider Haushaltspolitik von anderen Mitgliedern der EU unterstützt wird, die Staatsfinanzierung der Staaten untereinander ist untersagt. Das ökonomische Grundprinzip der Union war die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten, um global der stärkste Wirtschaftsraum zu werden.

Alle sinnvollen gesetzlichen Regelungen sind nur noch Schnee – juristisch gesehen: eklatante Rechtsbrüche – von gestern: Die Europäische Zentralbank ist nicht mehr auf die Wahrung der Geldwertstabilität beschränkt, sie darf die Union mit billigem Geld überschwemmen, kauft unbeschränkt Staatsanleihen auf, die oft ihr Papier nicht wert sind. Das Vorbild der Europäischen Zentralbank ist längst nicht mehr die Deutsche Bundesbank, sondern die Banca d'Italia der 1970er-Jahre, die direkt den Staat finanzierte, indem sie Staatspapiere kaufte, die sonst niemand mehr akzeptierte.

Mit der Etablierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und seines Vorläufers, des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM), wurden europäische Institutionen geschaffen, die den Vertrag von Maastricht unterlaufen und zumindest indirekt eine Staatsfinanzierung ermöglichen. Diese Fonds dürfen Staaten und Banken mit Krediten versorgen: Auch in diesem Fall handelt es sich um eine höchst bedenkliche Staaten- respektive Bankenfinanzierung. Das Stammkapital des ESM beträgt 700 Milliarden Euro, dieser Betrag kann vom Gouverneursrat und vom Direktorium jedoch erhöht werden. Der Vertrag des ESM weist ungemein fragwürdige Bestimmungen auf: Die Mitglieder des Gouverneursrats, die Mitglieder des Direktoriums und alle Bediensteten des ESM genießen auf Lebenszeit völlige Immunität hinsichtlich ihrer Tätigkeit, das heißt, sie können niemals gerichtlich belangt werden. Im ESM-Vertrag selbst ist eine Ausstiegsmöglichkeit einzelner Mitglieder nicht vorgesehen.

Eine weitere zentralwirtschaftliche Errungenschaft steht den Bürgern der EU noch bevor: die Eurobonds. Sie sind gleichsam EU-Anleihen, von den Staaten der Eurozone ausgegebene Staatsanleihen: Mit den Eurobonds würden die EU-Staaten Geld am Kapitalmarkt aufnehmen und gesamtschuldnerisch für die Schulden haften, was nichts anderes bedeutet als eine Schuldensozialisierung. Überschuldete Staaten müssten so weniger Zinsen am Kapitalmarkt bezahlen. Damit entsteht jedoch die Gefahr, dass sie in ihren Reformbemühungen nachlässig werden und wieder in die alten Verhaltensweisen zurückfallen.

Die Verursacher der Krise sind – man kann es nicht oft genug wiederholen – nicht die Spekulanten, sondern die führenden Politiker und Parteien der Eurozone selbst. Zuerst haben sie die Staatsschuldenkrise des Euroraumes und die daraus hervorgegangene Bankenkrise durch fortgesetzte und rücksichtslose Verletzung der Kriterien des Vertrages von Maastricht verursacht. Das für ein geordnetes Funktionieren der Eurozone zentrale Bail-out-Verbot wurde in sein Gegenteil verkehrt: Die Geberländer haben grundsätzlich für Schulden anderer Euroländer zu bürgen respektive zu zahlen. Die europäischen Politiker veranstalten somit einen Ball paradox: Die Auslöser der Krise spielen sich nun als Retter auf und behaupten, dies geschehe zum Wohle der Bevölkerungen. Dabei treibt sie die Angst um, der Euro könne zerbrechen und sie selbst und die ganze aufgeblähte Eurokratie hinwegfegen. Um dies zu verhindern, wird dem System über die EZB ständig neues Geld zugeführt. Dieses Geld fließt dann im Ergebnis an die Großgläubiger der bankrotten Eurostaaten, was nichts anderes bedeutet, als das Risiko der Banken auf die Steuerzahler der Geberländer zu übertragen.

Die Staatenfinanzierungen lösen die Probleme nicht im Geringsten, im besten Fall wird die Krise der europäischen Währungsgemeinschaft in die Länge gezogen. Es ist jedoch zu befürchten, dass ein Rettungsring auf den anderen folgen wird und die Beträge sich vervielfachen werden, bis schließlich ein Billionengrab dem Spuk ein Ende bereitet.

Auf das vielleicht größte Problem der Währungsunion soll nur am Rande eingegangen werden: Aufgrund der enormen Unterschiede der Handelsbilanzen zwischen den südlichen Ländern und den meisten nördlichen Ländern entstehen in die Billionen gehende Forderungen der nationalen Zentralbanken der soliden Staaten gegenüber den Krisenstaaten. Einen Ausgleich dieser Verschuldungen sieht das Währungssystem nicht vor, und damit entsteht für die maroden Wirtschaften eine neue, nicht vorgesehene Finanzierungsquelle – ohne die Zustimmung der Geberländer, die vermutlich niemals die Billionen zurückbekommen werden.

Mit diesen Rechtsbeugungen und Vertragsbrüchen verabschiedet sich die Europäische Union immer mehr vom politischen und ökonomischen Liberalismus. Der Weg zur Zwangsvergemeinschaftung ist damit vorgezeichnet: Politische und ökonomische Selbstverantwortung wird einer kafkaesken „Solidarität“ geopfert, die die Nationen spaltet und die alten nationalistischen Ressentiments wieder entstehen lässt.

Die Entwicklung der Europäischen Union verläuft somit in Richtung einer sanften Sowjetisierung, das heißt, einer Zentralisierung der politischen Macht, eines ökonomischen Dirigismus und einer sinnlosen Subvention maroder Peripherien. Aus der versprochenen „Stabilitätsunion“ werden ein europäischer Schuldensozialismus und eine Gemeinschaft der „Rechtsbeugung“. Der Ökonom Hans-Werner Sinn blickt düster in die Zukunft: „Es fällt mir schwer zu sehen, wie aus dieser Rechtsbeugung das neue Europa entstehen kann. Ohne Recht und Vertragstreue wird Europa nie zusammenfinden.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.