Vom Leihen des Ohrs

In manchen Kulturen gilt es als Privileg, zuhören zu dürfen. Bei uns steht, wer zuhören muss, im Ruf des Subalternen. Dabei entgeht uns so einiges. Ein Plädoyer für den sozialen Sinn.

Kein anderer Sinn vermag so genau zu differenzieren wie der Hörsinn. Kein anderes Sinnesorgan ist so komplex wie das Ohr. Rund um die Uhr reagieren wir selbst auf leiseste Geräusche und erst recht auf sprachliche Äußerungen. Dennoch werden der Hörsinn und das Zuhören in vieler Hinsicht grob vernachlässigt. Nur wenigen ist bewusst, dass Zuhören als Fähigkeit und als Haltung erst entwickelt und gelernt werden muss. Dabei ist kaum ein privater oder beruflicher Kontext denkbar, in dem richtiges Zuhören nicht eine grundlegende Rolle spielen würde.

Aber was am Zuhören kann man lernen? Und wie? Was hindert uns am guten Zuhören? Fest steht: Zuhören braucht Zeit. Es lässt sich nicht beschleunigen, wie zum Beispiel das Lesen. Wir können querlesen, die Worte überfliegen. Aber quer zuhören? Kursorisch hinhören? Schon die bloße Vorstellung führt sich selbst ad absurdum. Denn zuhören passiert immer in Echtzeit. Es braucht Hinwendung. Und Achtsamkeit. Zuhören ist eine Kunst.

Das Zuhören verbindet uns mit den anderen. Es ist unser sozialster Sinn. Für den Komponisten und Akustiker Peter Androsch ist das Zuhören überhaupt die vornehmste Eigenschaft, denn es lässt den anderen ein Stück weit in uns ein. Schließlich ist uns die Hoffnung, im anderen auf Resonanz zu treffen, zutiefst eingegeben. Aber wer sich „äußert“, bedarf auch eines Gegenübers, das ihm „ein Ohr schenkt“.

Leider hat das Zuhören einen schweren Stand. Im allgegenwärtigen Gerenne und Gehetze bleibt es immer öfter auf der Strecke, weil wir meinen, dafür nicht (mehr) die nötige Zeit erübrigen zu können. Dabei trifft häufig genau das Gegenteil zu. In Wahrheit spart gutes Zuhören eine Menge Zeit. Ein Beispiel dafür führt Wolf Langewitz im Radiointerview aus. Langewitz ist leitender Arzt am Universitätsspital Basel. Der Internist und Psychotherapeut ist ein Experte auf dem Gebiet der Arzt-Patient-Kommunikation. „Ein 54 Jahre alter Patient erwähnt in der Arztpraxis, dass er links oben in der Brust ein komisches Gefühl habe. Sofort fällt ihm der Arzt ins Wort und fragt, ob es bei Belastung schlimmer wäre. Denn der Arzt denkt, dass Schmerz links oben in der Brust ein Hinweis auf eine koronare Herzkrankheit ist.“

In Wahrheit hätte der Patient dem Arzt erzählen wollen, dass er zum ersten Mal in dieser Saison paddeln war. Eigentlich wollte er den Arzt fragen, ob es sich um eine Zerrung handeln könnte. Doch anstatt zuzuhören und den Patienten ausreden zu lassen, hat der Arzt die Chance vertan, rasch zu einer zutreffenden Diagnose zu kommen.

Wolf Langewitz zitiert Studien, nach denen Patienten im Schnitt bereits nach 20 Sekunden unterbrochen werden. Schließlich ist die überwiegende Mehrzahl der Ärzte davon überzeugt, sich längeres Zuhören nicht leisten zu können. Tatsächlich ermuntert das bestehende Vergütungssystem sie ja eher dazu, teure und aufwendige technische Untersuchungen zu verordnen, statt ihren Patienten länger ihr Ohr zu schenken.

„Das übliche Gesudere?“

Dabei ist ganz offensichtlich, dass all die weiten Extraschleifen und Umwege, die darauf zurückzuführen sind, dass nicht zugehört wird, nicht nur allen Beteiligten eine Menge Ärger, sondern auch enorme Kosten verursachen. Ärzte, die ihren Patienten gut zuhören, sparen also nachweislich Zeit – und damit auch enorme Kosten. Zudem heilt Zuhören. Vor allem in der Psychotherapie. Aber nicht nur dort.

Auch Manager sind gut beraten, ihren Mitarbeitern ein weit offenes Ohren zu schenken. Tun sie es nicht, kommt es häufig zu Fehlentscheidungen, die in der Folge nicht selten Millionenbeträge kosten. Nicht zufällig gilt es in einigen Kulturen als Privileg der Mächtigen, nicht dauernd reden zu müssen, sondern ausgiebig zuhören zu dürfen. „Die Natur hat uns nur einen Mund, aber zwei Ohren gegeben, was darauf hindeutet, dass wir weniger sprechen und mehr zuhören sollten.“ So hat es Zenon der Ältere vor mehr als 2500 Jahren formuliert. Denn wer dauernd nur selbst redet, erfährt nichts Neues, und er lernt nichts dazu.

Dementsprechend ist in Japan bei Businessmeetings derjenige der Mächtigste, der zuhören darf. Bei ihm fließen die meiste Information und das größte Wissen zusammen. In Europa dagegen steht das Zuhören im Ruf des Subalternen. „Sprechende und Hörende werden zu zwei Klassen, das Verhältnis von Sprechen und Zuhören wird zu einer sozial verfestigten hierarchischen Teilung von Einwirken, Zufügen, Aufnehmen, Erleiden, Gehorchen.

Grob gesagt ist es das Privileg dominanter Gruppen, dass sie sich jederzeit Gehör verschaffen können und das Zuhören nach unten nicht nötig haben – es sei denn zum Zweck des Abhörens und Aushorchens.“ Das schreibt die Erziehungswissenschaftlerin und Feministin Christina Thürmer-Rohr in ihrem Essay „Achtlose Ohren – zur Politisierung des Zuhörens“, nachzulesen in ihrem Buch „Verlorene Narrenfreiheit“. Und sie führt weiter aus: „Umgekehrt ist es die Realität dominierter Gruppen und Minderheiten, dass sie in der Mehrheitsgesellschaft kein Gehör finden und zum eigenen Schutz aufs Zuhören nach oben angewiesen sind.“

Dem damaligen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer war 2008 in Donawitz wohl nicht nach Zuhören zumute. Er befürchtete, „das übliche Gesudere“ anhören zu müssen. Das Nicht-Zuhören-Wollen des Ex-Kanzlers wurde daraufhin zur Metapher für mangelnde Wertschätzung und fehlenden Respekt. Trotzdem kassierte Gusenbauer in der Folge fette Honorare. Allerdings fürs Reden. Zuhören mussten dann jene, die dafür bezahlten. Denn wer wem zuhört, wie lange und wie intensiv, wer zuhören muss und wer zuhören darf, das hat allemal mit Machtverhältnissen zu tun und mit unterschiedlichen Interessen. Im Allgemeinen gilt: Wer eine Stimme hat, der hat auch Macht. Den Mächtigen wird zugehört. Nicht zufällig nennen wir das Votum des Wählers seine „Stimme“. Die „Wählerstimme“ ist aber bei Weitem nicht der einzige Begriff, der auf den engen Zusammenhang von Macht und Zuhören verweist.

Manche Begriffe aus dem Wortfeld „hören“ und „zuhören“ sind negativ konnotiert. Das Verhör, das Gehorchen, der blinde Gehorsam zum Beispiel. Andere verweisen auf das Zuhören als wesentliche Instanz der Prüfung: Die „Audits“ im Finanzwesen verdanken ihren Namen der Tatsache, dass Buchungen früher laut vorgelesen wurden. Der Zuhörende hatte sie zu kontrollieren. Auch die „Anhörung“ und die „Audienz“ stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zuhören. Und die Abgeordneten im englischen House of Commons rufen bis heute noch „Hear! Hear!“.

Im psychischen und im kognitiven Kontext kommen andere Aspekte zum Tragen als in der politischen Sphäre. Roland Barthes, der französische Literaturkritiker und Philosoph, gab einem seiner Essays den Titel: „Zuhören als Haltung“. Für Roland Barthes ist Zuhören ein Prozess des Entzifferns und Sondierens. „Zuhören heißt, mit vollem Bewusstsein hören wollen“, schreibt Barthes. Und er lotet aus, was die nur oberflächlich schlichte Aufforderung „Hör mir zu“ in all ihrer Tiefe eigentlich bedeutet: „,Hör mir zu‘heißt: Berühre mich, wisse, dass ich existiere.“

Normalerweise arbeitet der Hörsinn gemeinsam mit allen anderen Sinnen. Information wird mittels der Integration von Sinneseindrücken verarbeitet. In bestimmten Situationen sind wir aber völlig auf das Zuhören angewiesen. Beim Telefonieren zum Beispiel. Das Telefon beseitigt alle Sinne mit Ausnahme des Gehörs. Und doch: Obwohl wir am Telefon den anderen nicht sehen, geschweige denn berühren können, ermöglicht uns genaues Zuhören über das technische Medium hinweg, die andere Person intensiv zu erfahren. Nicht zufällig steckt in dem Wort „Person“ das lateinische „sonare“ – „klingen“. „Per-sonare“ bedeutet also „hindurchklingen“. Durch alle Masken. Selbst am Telefon. Roland Barthes: „Die Stimme, an der man die anderen wiedererkennt (wie die Schrift auf einem Briefumschlag), zeigt uns deren Wesensart, deren Freud oder Leid, deren Befindlichkeit an; sie transportiert ein Bild ihres Körpers und darüber hinaus eine ganze Psychologie (man spricht von einer warmen Stimme, einer eisigen Stimme).“

Man sollte annehmen, dass die Förderung der Basiskompetenz „Zuhören“ in der Kindererziehung und im Schulwesen eine wesentliche Rolle spielen. Tut sie aber nicht. Jedenfalls nicht jenseits der Hörübungen im Fremdsprachenunterricht (die auf Englisch korrekterweise nicht „hearing“-, sondern „listening exercises“ heißen).

Das Projekt „Ganz Ohr Sein“

Im muttersprachlichen Unterricht ist Zuhörförderung in der Schule ein Stiefkind, zumindest in Österreich. In Deutschland ist das anders. Dort wurde das Projekt „Ganz Ohr Sein“ von der Bund-Länder-Kommission ebenso gefördert wie vom Land Bayern. Und seit 2002 ist auch die gemeinnützige „Stiftung Zuhören“ in Deutschland bundesweit aktiv in der Förderung der Kulturtechnik und Medienkompetenz „Zuhören“. Sie hat in mehr als 2000 Schulen und Kindertagesstätten Hörclubs initiiert, in denen dem Hören und Zuhören Zeit und Raum gewidmet wird. Nach einer Weile der Förderung würden die Lehrerinnen und Betreuer immer wieder die gleichen positiven Veränderungen bei den Kindern konstatieren, berichtet Volker Bernius, der Leiter des Projekts „Hörclubs“ bei der deutschen „Stiftung Zuhören“: „Die Wahrnehmung, die Sprachkompetenz und die Kommunikationsfähigkeit der Kinder verbessern sich. Und ihr Konzentrationsvermögen.“

Nebenbei erweitert sich auch der Hörhorizont der Kinder. Der Begriff beschreibt die Gesamtheit des individuellen Hörwissens und der eigenen Hörerfahrungen. Je weiter der Hörhorizont ist, desto besser können wir Neues verstehen und nutzen. Oder einfach genießen. Letzteres zum Beispiel, wenn man seinen musikalischen Hörhorizont über familiäre oder schichtspezifische Prägungen hinaus erweitert hat.

Wer seinen Ohren heute Hörenswertes zuführen will, dem stehen längst großartige technische Möglichkeiten zur Verfügung. Radiosendungen können heruntergeladen und gespeichert werden. Wir können ihnen zuhören. Ortsungebunden und zeitautonom. Über kleine technische Geräte, die all das ebenso ermöglichen, wie das permanente Kommunizieren rund um den Globus. Sie schaffen allerdings nur die technischen Voraussetzungen. Für die Qualität der Inhalte bleiben wir ebenso selbst verantwortlich wie für die humane Qualität des Zuhörens. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.