He doesn't exist, the bastard

He doesn't exist, the bastard
He doesn't exist, the bastarddpa/Julian Stratenschulte
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Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund. Der Horizont ist unser metaphorisches Äquivalent für Ewigkeit. Über Gott 2012.

Der Horizont war vielleicht schon immer die größte Versuchung der Künste, wobei auch der Horizont nur eine Metapher ist,denn der Horizont ist lediglich die Nahtstelle, an der Himmel und Erde aufeinandertreffen, die Linie, die unsere subjektive Wahrnehmung schafft. Wie soll man sichdem, was jenseits unserer Wahrnehmung, jenseits unseres Denkens liegt, auch anders nähern als durch Metaphern und Chiffren? Der Horizont ist immer die Grenze dessen, was wir erfassen, was wir begreifen können, mit den Augen oder mit dem Verstand. Aber der Horizont ist keine feste Linie, er ist eine verschiebbare, relative und imaginäre Grenze, die keine Eigenschaft der objektiven Wirklichkeit ist, sondern von jedem Wahrnehmenden anders erlebt wird.

Der Horizont ist aber auch ein metaphysisch aufgeladener Begriff. Im Leben wird unser Horizont durch die Dinge verstellt, die unseren Alltag ausmachen, aber in den meisten Menschen sitzt die Sehnsucht nach dem Anderswo, dem, was jenseits dieses Alltags liegt. Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens, wie Rainer Maria Rilke es formuliert, beim einsamen Gipfelgang, sehen wir mehr von der Welt, aber der Horizont verlässt uns nicht, er wird nur ein wenig weiter. Der Horizont ist immer da, er begleitet uns unser Lebenlang, er rahmt unser Leben ein mit dem vorgeburtlichen Nichtsein und dem Verlöschen im Tod, und lässt uns keinen Augenblick unsere Endlichkeit und unsere Kreatürlichkeit vergessen. An dieser Schnittstelle des Horizonts setzen wir die Vorstellung der Unendlichkeit an. Der Horizont ist unser metaphorisches Äquivalent für Ewigkeit.

Emily Dickinson, die bedeutendste amerikanische Lyrikerin des 19. Jahrhunderts, schrieb gegen Ende ihres kurzen Lebensdieses Gedicht: Der Wechsel von der trauten Welt / In die, die Rätsel bleibt, / Ist wie des Kindes Zwiespalt, / Wenn jeder Hügel reizt, /Hinter dem Kamm liegt Zauber, / Ist alles unbekannt, / Nur lohnt auch das Geheimnis / Den einsamen Gipfelgang? – Jedes einzelneBild dieses Gedichts weist in die gleicheRichtung, angefangen beim Bild von derSchwelle zwischen der vertrauten Welt und jener, die Rätsel bleibt, über die kindliche Neugier auf das Ferne, Unerforschte, wohin sich nur die Fantasie wagt, bis zum Zauber,dem Geheimnis, das seinen Preis fordert und ihn vielleicht nicht wert ist. Und in jedem Bild wird die zentrale Sehnsucht nach dem Unbekannten jenseits des Horizonts, diesem die Menschen von jeher quälenden Stachel,angesprochen, aber zugleich auch die Ambivalenz thematisiert, die dieser Sehnsucht innewohnt. Dickinson war eine geübte Grenzgängerin, eine einsame Gipfelgängerin mit unbeirrtem Blick auf das Geheimnis des Unsagbaren. So weit wie sie haben sich nur wenige über den Rand des Sichtbaren und Sagbaren gebeugt. Sie ist jedoch nicht die einzige, nicht einmal eine Ausnahme, unter den Dichtern der Weltliteratur, die sich nicht mit der sichtbaren, greifbaren Wirklichkeit begnügten.

Es gibt Landschaften, die mehr als andere den Blick auf das Jenseitige, mit Sprache nicht mehr Erreichbare suggerieren und nicht zuletzt dadurch die ehrfürchtige Scheu vor dem Numinosen hervorrufen. Das ist vor allem die Unendlichkeit des Meeres und der Wüste. Nicht zufällig nimmt die Gottesvorstellung der Hebräer in der überwältigendenLeere der Wüste währendder 40-jährigen Wanderung eine nicht mehrgreifbare, jede Definitionübersteigende Dimension an. Abrahams Gott war noch keine Stimmeaus dem Jenseits, vielmehr ein Familiengott,der ihn besucht, mit ihm speist und mit sich handeln lässt. Erst in der Wüste wird Gott der ganz Andere, eine die Vorstellung übersteigende Gegenwart. Der ursprüngliche Familiengott verwandelt sich nach und nach in reine Transzendenz. Die Wüste ist Abwesenheit und Leere, aber ihre Leere ist eine dichte, ungreifbare Gegenwart, die kreatürliche Angst und ehrfürchtiges Staunen erzeugt, ein Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts einer als Ewigkeit erlebten Dimension. In ihr wird das Numinose spürbarer als an anderen Orten und zugleich abstrakter, unfassbarer.

Auch das Meer ist Ewigkeitslandschaft. Inder Kunst wird das Meer spätestens seit der Romantik als Unendlichkeitstopos abgewandelt, unter anderen bei Caspar David Friedrich und William Turner. Mit der Erfahrung der Grenzenlosigkeit angesichts des weiten Horizonts von Meer und Wüste stellt sich das Gefühl menschlicher Begrenztheit, seiner Kreatürlichkeit und Verwundbarkeit ein. Das Festland zu verlassen und Kurs auf den Horizont zu halten bedeutet, eine existenzielle Grenze zu überschreiten und sich einerganz anderen Erfahrung respektive der Erfahrung des ganz Anderen auszuliefern, dem Eintritt in ein Mysterium, das auch mit Sprache nicht mehr zu erreichen ist.

Das, was jenseits des Horizonts liegt, ist nicht nur magischer Ort der Sehnsucht und Ahnung der Transzendenz, sondern auch – und das bereits seit dem Gilgamesch-Epos – Ort der Auslöschung, der Vernichtung, des Todes. Daher ist auch jede versuchte Annäherung an den Horizont sowohl faszinierendes Versprechen einer Erweiterung des Erfahrungshorizonts als auch ein Ort der Todesfurcht. Egal, wie wir es anstellen, der Horizont liegt immer vor uns, sei es der Horizont des Erkennens oder der Erfüllung, sei es die Vorstellung von Ewigkeit und Transzendenz oder der Auslöschung, des Nichts. Aus diesem Bewusstsein entstand vermutlich der lineare Zeitbegriff und löste die ursprünglich zyklische Zeitauffassung ab, die sich am Jahreskreis von Wachsen und Vergehen orientierte. Mit einem Horizont, auf den der Mensch sich zubewegt, wird das Leben zu einer Reise mit einem Ziel, das sich weit weg, vielleicht unerreichbar, irgendwo am Horizont befindet. Aus der Sehnsucht nach dem Verborgenen erklärt sich die religiöse Erwartung der Erlösung, die Utopie und das Prinzip Hoffnung in seinen religiösen, aber auch politischen und gesellschaftlichen Manifestationen.

Daraus erwuchsen auch die Innovationen, Erfindungen und Entdeckungen imLauf der Menschheitsgeschichte, die Schritt für Schritt den Horizont des Machbaren und Vorstellbaren weiter hinausschoben und immer neue Horizonte schufen. Die Grenzendes Denkbaren werden immer wieder neu und anders definiert als von der vorangegangenen Epoche, und die Zeiträume verkürzen sich mit der zunehmenden Akzeleration. Seit der Aufklärung hat sich die westliche Gesellschaft gründlich säkularisiert und den Blick längst von der Vorstellung des Horizonts als Ort religiöser oder auch philosophischer Transzendenz abgezogen und ihn statt dessen auf technische, naturwissenschaftliche und technologische Innovationsmöglichkeiten verlegt. Auf diesen Gebieten scheint es tatsächlich so, als sei jeder neue Horizont innerhalb absehbarer Zeit einholbar. Die Entwicklung der Künste dagegen ist nicht linear, und Fortschritt ist kein Kriterium, sondern eine Illusion. Auch eine Rückbesinnung, wie sie in den Künsten immer wieder stattfand, etwa in der Renaissance oder der Romantik, ist immer auch Neubewertung aus dem Blickwinkel der Gegenwart. Der Literatur ist die Sehnsucht nach dem Unsagbaren und der Grenzgang zwischen Sprache und Schweigen nicht auszutreiben. Ihre besten und bleibendsten Werke halten an der Vorstellung einer Grenze des Sagbaren fest und unternehmen immer von Neuem Versuche einer Annäherung an ein Mysterium, das mit Metaphern wie Horizont, Abgrund oder auch Geheimnis umschrieben wird.

Die Logik dagegen kennt kein Unfassbares oder Unsagbares und keine Transzendenz als Ort des Absoluten. Die Welt ist alles, was der Fall ist und Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt heißen zwei der oft zitierten Sätze Ludwig Wittgensteins. Den Horizont in eine zeitliche oder räumliche Ferne zu rücken erscheint Wittgenstein gefährlich. Er schließt die Möglichkeit einer Überschreitung des Horizonts des Denkbaren und Sagbaren nicht aus, aber in seinem philosophischen System lässt sich nichts darüber sagen außer Unsinn. Es gibt keine Außenansicht der Grenze – weder von oben noch von draußen. Was jenseits des Sprachhorizonts liegt, der zugleich auch Denkhorizont ist, kann kein sinnvolles Reden sein, es ist Mystik und Schweigen. Für Wittgenstein hat die Sprache ausschließlich eine soziale Funktion und besteht aus gesellschaftlichen Vereinbarungen, sie erschließt uns kein Jenseits. Ist nun die Rede vom Horizont lediglich verschwommenes Denken oder Teil unseres Weltbildes? Über Sehnsucht, spirituelle Bedürfnisse und Hoffnungen lässt sich bei Wittgenstein nichts aussagen, aber was dem Leben und der Welt Wert gibt, räumt er ein, muss außerhalb der Welt liegen. Nicht wie die Welt ist, sondern dass sie ist, ist das Mystische.

Die Sprachkrise, die aus dem Auseinanderfallen der Sprache der Fakten und der Sprache der Dichtung entstand, manifestierte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Strömungen: im Surrealismus, im Dadaismus, im Expressionismus und auch bei manchen Dichtern, die weiterhin an der Darstellbarkeit der Welt festhalten, bei Hofmannsthal, bei Kafka, bei Schnitzler. Nicht das Bedürfnis, das Unsagbare auszudrücken, verschwindet, sondern das Vertrauen in die Tragfähigkeit der Sprache und die Benennbarkeit der Dinge, vor allem der abstrakten Begriffe. Was verloren geht, ist die Überzeugung, Sprache und Wirklichkeit könnten restlos zur Deckung gebracht werden. Das Vertrauen in die Existenz eines unsichtbaren Zusammenhangs mit einer Welt hinter der alltäglichen und die Möglichkeit, sie im metaphorischen Sprechen sichtbar zu machen, kommt nun selbst den Dichtern abhanden. Damit wird auch die Gewissheit, jenseits des Horizonts befände sich etwas Erfahrenswertes, ins Zufällige und Irrationale verlegt. Mit Sprache und Verstand danach zu suchen ist jedenfalls nicht möglich.

Die im frühen 20. Jahrhundert aufgebrochene Tradition einer fundamentalen Sprachskepsis führte die Literatur dazu, sich dem realistischen Erzählen mit Vorsicht und Vorbehalten zu nähern und sich mit der Erzählbarkeit der Welt und der Verlässlichkeit eines wahrnehmenden Ichs auseinanderzusetzen. Das Unsagbare war nun nicht mehr das, was jenseits des Horizonts lag, im Gegenteil, die Wirklichkeit und die Erkenntnisfähigkeit wurden in Zweifel gezogen. Die Sprache als Zeichensystem verweigerte sich dem Dienst an der Wirklichkeit und wurde dadurch selber zum Objekt der Untersuchung und des Experiments.

Der Blick auf den Horizont lässt sich jedoch nicht so leicht auf Innerweltliches ablenken. Nicht nur die Sprache, auch das einzelne Wort hat einen Hang zum Metaphysischen. Die magische Kraft des Wortesscheint eine menschliche Grunderfahrung zu sein. Sie geht in der Menschheitsgeschichte weit zurück. Auch das Tetragramm, der unaussprechliche Name Gottes, der im Hebräischen nur umschrieben ausgesprochen werden kann, ist reiner aspirierter Atem ohne Konsonanten, ein Ein- und Ausatmen, für das es als Lautfolge keine Entsprechung gibt. Der Name Gottes darf nicht ausgesprochen werden, und gerade das hat ihn in der jüdischen Religion mit einer Tiefe ausgestattet, an die kein Begreifen heranreicht. Weiter kann die Abstraktion, der Rückzug der Transzendenz hinter den Horizont des Sagbaren, nicht getrieben werden. Der Name Gottes hat kein sprachliches Äquivalent, nur Umschreibungen, die alle auf das Unsagbare verweisen.

In Kulturen mit ausschließlich mündlicher Überlieferung, die noch keine schriftliche Aufzeichnung kennen, ist, so heißt es, der Atem, die Luft, Archetyp des Unsagbaren und Unsichtbaren. Daher zielt jede Annäherung an das Unsagbare auf eine Welt jenseits der Sprache. Es sei eine fundamentale Annahme des mythologischen Bewusstseins, so Ernst Cassirer, dass Wesen und Name identisch seien. Nach Gershom Scholem liegt der Name Gottes allen Sprachen zugrunde. Das Wort hat göttliche Schöpferkraft. Das Wort, als kleinster semantischer Bestandteil der Sprache, reicht –in der Menschheitsgeschichte und in derEntwicklung des Einzelnen – stets über die Repräsentation eines realen Gegenstands hinaus. In seinem Essay Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschenschreibt Walter Benjamin, es sei selbstverständlich, dass das geistige Wesen, das sich in der Sprache mitteilt, nicht die Sprache selbst, sondern etwas von ihr zu Unterscheidendes ist. Das impliziert, dass auch die Sprache immer etwas enthält, das über ihre Funktionalität hinausweist, nämlich den Rest seines Ursprungs aus dem ersten Schöpfungsakt, den Walter Benjamin dem Menschen zuschreibt, nämlich das Benennen der Dinge in einer Sprache, die vollkommen erkennend gewesen sei. Sie ist das Urbild der Sprache, Wort und Bedeutung sind in dieser Adamischen Sprache noch identisch, der Name ist die exakte und vollständige Beschreibung des Gegenstands. Als den Sündenfalls des Sprachgeistes bezeichnet Benjamin, dass das Wort noch etwas anderes mitteilt als sich selbst, also die Funktionalisierung der Sprache.

In der Dichtung ist das Wort nie bloßes Kommunikationsmittel, es ist das – wenn auch unzulängliche – Instrument, mit dem wir in unserem Leben und in der menschlichen Existenz einen Sinn zu erkennen suchen. Dass wir dabei auf vieles stoßen, woran Denken und Sprache scheitern, bedeutetnicht, dass nicht auch noch aus dem Scheitern eine Erkenntnis zu gewinnen wäre. Benjamin und Scholem sprechen von Gott, wennsie das Mysterium meinen, das jenseits des Horizonts von Denken, Wahrnehmung, Verstehen und Sprache liegt. Die fortschreitende Tabuisierung unserer Zeit hat uns gegenüber religiöser Terminologie eine Schamhaftigkeit auferlegt, wie sie im 19. Jahrhundert nur der Sexualität zukam. Wir erlauben uns nur mehr von Transzendenz, dem ganz Anderen, dem Unsagbaren zu sprechen, nicht einmal mehr, wie Heinrich Böll, von jenem höheren Wesen, das wir verehren. Die Sehnsucht und die zumScheitern verurteilten Annäherungsversuche bestehen jedoch nach wie vor. Aber Gott ist nur noch ein Gerücht für Fromme oder, wie Beckett in Endgameseinen Protagonisten Hamm sagen lässt: He doesn't exist, the bastard. Das Problem und das Paradox des Menschen besteht wohl darin, dass es ihm nicht auszutreiben ist, sich nach etwas zu sehnen, etwas ergründen zu wollen, das nie bewiesen oder verstanden werden kann.

Von der prekären Situation, wo Sprache nur mehr eine brüchige Brücke über den Abgrund darstellt, der zwischen Verhüllen und Enthüllen todbringend und Erkenntnis versprechend aufblitzt, führt der Weg ins Verstummen, ein Weg, den Paul Celan konsequenter als jeder andere gegangen ist. Im Jahr 1958, in seiner Dankesrede zum Bremer Literaturpreis, thematisiert Celan das Trauma des Überlebens und des Verlustes, nicht nur seiner Toten durch die Vernichtung der osteuropäischen Juden, sondern auch des prekären Besitzes der deutschen Sprache: Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.Der Abgrund liegt nicht nur vor ihm, er liegt auch hinter ihm. Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund, zitiert er Georg Büchner. Dichten ist Ausgesetztsein, ein Hinaustreten aus dem Menschlichen. Der Abgrund ist das Nichts, Gott ist Niemand. Das Nennen der namenlosen Ermordeten und die Notwendigkeit derVergegenwärtigung ihres Todes ist das Sprechen am Rand des Schweigens.

Der Abgrund (das Verstummen), auf denCelans Dichtung konsequent zuhält, reduziert die letzten Wegweiser der Realität auf eine Schutt- und Ödlandschaft, aufReste des Anorganischen, Schotter, Geröll, Kiesel und Nacht, und lässt nurmehr vereinzelte Worte als dunkle Zeichen stehen: ... Zeitunterheiligtes schleudernd, / längst, auch ich, auf der Straße, / tret ich, kein Herz zu empfangen, / zu mir ins Steinig-Viele / hinaus.

Der Zivilisationsbruch der Shoah hat dem bislang metaphysisch aufgeladenen Begriff des Unsagbaren eine neue Bedeutung gegeben. Vor allem die in deutscher Sprache schreibenden Überlebenden, wie Paul Celan, sahen sich dem Dilemma gegenüber, in der Sprache der Täter Zeugnis ablegen zu müssen von einer Erfahrung, die nicht mitteilbar ist und sich der empathischen Fantasie und dem rationalen Verstehen verschließt. Dem Imperativ, die Shoah dem Schweigen zu entreißen, steht die Schwierigkeit gegenüber, eine Erfahrung zu kommunizieren, die tief ins Schweigen hineinreicht.

Ist der Abgrund eine neue Metapher für das, was in unschuldigeren Zeiten der Horizont war? Und ist der Abgrund die Summe des Unsagbaren oder das lautlose Verschwinden im Nichtsein? Hat der Horizontvielleicht überhaupt ausgedient, weil sich unser Weltbild verändert hat und es nur mehr den Unvernünftigsten einfällt, einem unzugänglichen Punkt hinterherzujagen, von dem am Ende nur das Hinterherjagen übrig bleibt? Es ist doch sonderbar, schreibt Georges-Arthur Goldschmidt (in seinem Buch In Gegenwart des abwesenden Gottes),dass man sich der Sprache, die in den Netzen dessen, was sie sagen will, gefangen ist, bedienen muss, um an das Undenkbare heranzukommen. Noch einmal anders gesagt: Ich kann das Undenkbare nicht denken. Gibt es eine nichtigere und lächerlichere Vorstellung als einen denkbaren Gott, einen Gott, der in irgendeiner Hinsicht dem Denken zugänglich wäre? Wie Wittgenstein ist Goldschmidt davon überzeugt, dass dieFunktion der Sprache eine soziale ist, fürdie Suche nach dem Verborgenen ganz und gar ungeeignet. Er kommt zu dem Schluss, dass die Suche nach dem ganz Anderen, der Unendlichkeit oder wie immer man die Abwesenheit jenseits des Horizonts nennt, nichts anderes ist als der an der Sprache scheiternde Versuch der Seele, sich selbst zu denken: Sie ist es, die wir für Gott halten. Seine ganze Geschichte hindurch blieb der Mensch für sich das große Unbekannte, das größte Geheimnis.

Die Dichter haben einen weiten Weg zurückgelegt, seit Gilgamesch aufbrach, um jenseits des Horizonts die Unsterblichkeit zu suchen und den Tod zu besiegen. Der Horizont ist im 21. Jahrhundert endgültig abhandengekommen, die Frage Emily Dickinsons, nur lohnt auch das Geheimnis den einsamen Gipfelgang?, ist immer noch offen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2012)

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