Wem gehört, was war?

Wem gehört, was war?
Wem gehört, was war?Tim Brakemeier dpa/lbn
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Denkmäler werden infrage gestellt, andere neu errichtet, Verkehrsflächen werden umbenannt und Tausende Wiener Straßennamen auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundkonsens der Zweiten Republik untersucht. Warum erst jetzt?

Nichts scheint schwieriger zusein, als im derzeitigen Gedenkmarathon Schritt halten zu wollen. Ehrungen werden aufgehoben, neue Ehrungen beschlossen; Denkmäler werden infrage gestellt, Verkehrsflächen umbenannt und TausendeWiener Straßen-, Gassen- und Platznamen auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundkonsens der Zweiten Republik im 21. Jahrhundert untersucht. Der Held von anno dazumal hat ausgedient. Hier und heute zählen die Opfer.

Das hat gewiss alles einen Sinn. Es zeigt auch, wie groß die Speicher des Gedächtnisses sind, wenn es gilt, Erinnerung zu inventarisieren und zu verschieben. Letztlich ist es aber ein Stück Geschichtspolitik, das dabei betrieben wird. Ein Dreivierteljahrhundert nach dem sogenannten Anschluss macht man sich vornehmlich in Wien daran, eine Flurbereinigung besonderer Art vorzunehmen. Alles, was noch immer an das NS-Regime und die von ihm ausgegangenen Katastrophen und Verbrechen erinnert, soll zum Verschwinden gebracht werden. Anderes hat an seine Stelle zu treten. Und wenn das Wissen nicht ausreicht, dann muss die Vermutung herhalten. Nun kann man sich natürlich fragen: Warum erst jetzt? Oder auch: Warum gerade jetzt? Gehen wir einmal davon aus, dass noch immer Nachholbedarf besteht. Wohl wurde schon im April 1945 damit begonnen, die Zeichen der nationalsozialistischen Herrschaft zu tilgen, doch manches brauchte seine Zeit. Um dem neuen Staat das Stigma des Reaktionären zu nehmen, nannte ihn Karl Renner: Zweite Republik. Ein Neubeginn sollte deutlich werden.

Der erste Staatssekretär für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten, Ernst Fischer, soll diesen Neubeginn – den Erinnerungen von Adolf Schärf nach – mit der Forderung umrissen haben, man müsse gerade der Jugend das Österreichische nahebringen. „Die glorreiche österreichische Vergangenheit müsse gewürdigt werden, und der Radetzkymarsch müsse zum Schul- und Volkslied werden.“ Fischer meinte zwar, nachdem er das gelesen hatte, er sei nie so ein „Trottel“ gewesen, eine derartige Forderung aufzustellen, doch gerade er tat alles, um die Symbole und die Erinnerung an die NS-Zeit zum Verschwinden zu bringen.

Und es wurde weithin sichtbar re-austrifiziert. Der Wiener Adolf-Hitler-Platz wurde schon am 27. April 1945, dem Tag der österreichischen Unabhängigkeitserklärung, wieder zum Rathausplatz, die Straße der Julikämpfer hieß wieder Siebensterngasse, und so ging es weiter. Schließlich waren allein in Wien in der NS-Zeit weit mehr als 100 Straßen, Gassen und Plätze umbenannt worden, darunter 64, die „jüdische“ Namen wie Mahler, Altenberg, Spinoza, Heine und Mendelssohn getragen hatten. In den anderen Gauhauptstädten war man etwas weniger radikal vorgegangen. Einen Adolf-Hitler-Platz wollten aber die meisten nicht missen.

1945 fing die Rückbenennung an. Die Verkehrsflächen – nicht alle – bekamen ihre alten Namen wieder. Bis 1949 war das erledigt. Und obendrein waren 8.-Mai-Plätze und -Straßen dazugekommen, um an die Befreiung Österreichs durch die Alliierten zu erinnern. In Wien ging man freilich einen Schritt weiter. Über Initiative des kommunistischen Kulturstadtrats Viktor Matejka und mit uneingeschränkter Zustimmung der Abgeordneten aller Parteien wurden im April 1946 etliche durchaus traditionsreiche Brücken und Straßen russifiziert und hießen nun Malinowskibrücke, Brücke der Roten Armee, Tolbuchinstraße und Stalinplatz. Doch bei der Abrechnung mit der unmittelbaren Vergangenheit ging es nicht nur darum, etwas um- oder neu zu benennen. Da gab es ja noch anderes, das entsorgt werden musste. Nicht zuletzt Mentales.

Wohl hatten die Alliierten geholfen, den Müll des Tausendjährigen Reichs wegzuräumen, hatten vernichtet und beschlagnahmt. Doch natürlich entging ihnen manches. Sie kümmerten sich auch bei Weitem nicht um alles. Auch den österreichischen Verantwortlichen wollte etliches nicht auffallen, und sie handelten durchaus im Einklang mit der von Bundespräsident Renner 1947 ausgegebenen Parole: „Auch der Mitbürger, der ganz tief gefallen ist, ist für mich ein Österreicher.“ Letztlich hatten aber alle ihren Beitrag zur Flurbereinigung zu leisten. Manches geschah bestenfalls zähneknirschend. Zur Flurbereinigung gehörte auch die Abrechnung. Österreichische Volksgerichte sprachen 43 Todesurteile aus, von denen 30 vollstreckt wurden. Alliierte Militärgerichte taten ein Übriges. Gegen 136.829 Personen wurden Erhebungen gepflogen, rund 13.000 wurden schuldig gesprochen und Tausende Jahre Kerker und Gefängnis verhängt. Doch die schematische Abrechnung, die dann auch für alle 547.000 ehemaligen Nationalsozialisten Sühnestrafen vorsah, konnte immer noch nicht verhindern, dass etliche aus der Tätergeneration durchschlüpften. Wenn es aber in der Folge und auch nach der Aufhebung der Volksgerichtsbarkeit 1955 zu fragwürdigen Gerichtsverfahren kam, schaute man auf jene, die sich hatten entziehen können, nicht aber auf jene anderen, die das Abrechnen mit der Vergangenheit deutlich machten. Und es hagelte Vorwürfe. Warum so spät? Warum ohne Sühne? Warum, warum, warum?

Doch bleiben wir chronologisch. Die nächste Abrechnung mit der Vergangenheit kam 1955. Da wurde dann die Erinnerung an die Besatzungszeit getilgt. Nicht zur Gänze, doch im Fall des sowjetischen Elements durchaus konsequent. Da man mittlerweile vergessen hatte, dass die Russifizierung des öffentlichen Raums 1946 von österreichischer Seite initiiert worden war und als ein schlichter Akt der Captatio Benevolentiae gedacht war, galt das Re-Austrifizieren als Entstalinisierung. Allerdings rieten Beamte der Kulturabteilung des Wiener Magistrats von Rückbenennungen ab. Man sollte nicht schon wieder umbenennen, hieß es. Und dann wurde es philosophisch: „Es muss auch vielleicht in diesen Fällen ein gewisses historisches Moment geltend gemacht werden. Es handelt sich immerhin um Bezeichnungen, die an eine Zeit erinnern, die aus der Geschichte Österreichs nicht wegzudenken sein wird.“ Es nützte nichts: Am 13. April 1956 wurde die Rückbenennung beschlossen. An einer Gruppe von Erinnerungen ließ sich freilich nicht rühren, nämlich den sowjetischen Sieges- und Kriegerdenkmälern. Sie waren durch den Staatsvertrag geschützt.

Nach NS-Zeit und alliierter Besetzung schien Österreich wieder einmal seinen Platznicht nur in Europa, sondern in der Geschichte gefunden zu haben. Ein Land mit einer großen Vergangenheit, die man immer mehr auf die letzten Habsburger einzuschränken begann. Ein Land, dem Schlimmes widerfahren und Böses angetan worden war, so wie das Karl Renner in der Proklamation zur Unabhängigkeitserklärung so fragwürdig formuliert hatte: „Angesichts der Tatsache, dass der Anschluss des Jahres 1938 einer wehrlosen Staatsleitung abgelistet und abgepresst, endlich durch kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist und das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt“ wurde... Diesem Land war ein Neubeginn vergönnt. Normalität breitete sich aus.

Doch 30 Jahre später schien das alles plötzlich nicht mehr zu gelten. Österreich mutierte von Everybody's Darling zu einer „hässlichen, kleinen, an Amnesie leidenden Alpenfestung, voll von unverbesserlichen, fremdenfeindlichen Neonazis“, wie französische Kommentatoren schrieben. Ausgehend von der Person Kurt Waldheims, wurden Österreich schwere Defizite bei der Aufarbeitung der Vergangenheit vorgehalten. Da nützte nichts, dass man auf das Geleistete verwies und die gute Absicht bekundete. Damals begann die Abrechnung mit der Nachkriegsgeneration, der generell vorgeworfen wurde, sie habe es sich zu leicht gemacht, sei immer wieder den bequemen Weg gegangen, Österreich als Opfer einer hitlerischen Aggression zu sehen und nicht als Täter.

In jenen Jahren wollte bei mir Ärger aufkommen. Und er strahlte in zwei Richtungen aus: Ich wollte mir vom Ausland nicht vorwerfen lassen, wir würden einen schlampigen Umgang mit der Geschichte pflegen. Ich habe das persönlich, vielleicht zu persönlich genommen. Man musste sich aber auch fragen, mit welchem Recht sich Menschen über einen hermachten, die bestenfalls Halbverdautes von sich gaben und offensichtlich auch von eigenen Problemen ablenkten, indem sie mit dem Finger auf andere zeigten – Deutschland nicht ausgenommen. Doch natürlich gab es auch ernsthafte und zu berücksichtigende Dinge, ließen sich Verdrängungsmechanismen orten und wurde vor allem im Fall der materiellen Wiedergutmachung und der Restitution von Kunst- und Kulturobjekten ein gravierendes Versäumnis deutlich. Zwangsarbeiter waren nicht entschädigt, Leid war nicht ausreichend zu mildern gesucht worden. Da gab es Nachholbedarf, und der internationale Druck half kräftig nach. Das Jahr 2000 markierte eine weitere Zäsur.

Und wenn man auch nur im Mindesten gesonnen war, sich umzusehen, dann konnte man an den großen und kleinen Denkmälern, die nach und nach auf dem Wiener Albertinaplatz gegen Krieg und Faschismus oder auf dem Judenplatz für die Opfer des Holocaust errichtet worden waren, nicht vorbeischielen, musste die Partisanen-, Deserteurs- und Widerstandsdenkmäler zur Kenntnis nehmen, die Tafeln, die auf die Opfer des Nationalsozialismus oder auch auf ehemalige Synagogen hinweisen, und schließlich die von Jahr zu Jahr steigende Zahl von Bronzetäfelchen, die auf den Gehwegen davon künden, dass hier einmal jemand wohnte, der in einem Konzentrationslager umgebracht wurde. Derzeit entsteht eine nationale Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Wiener Zentralfriedhof. Das sind ebenso Belege für Trauerarbeit wie jene Projekte, die vom Österreichischen Nationalfonds, vom Versöhnungsfonds und vom Zukunftsfonds der Republik initiiert oder unterstützt wurden. Das alles übersehen zu wollen, grenzte schon an Absicht. Doch es kam (und kommt) vor!

Der Ärger strahlte aber auch in die andere Richtung aus, und zwar immer dann, wenn von durchaus gebildeten und in jedem Fall ehrenwerte Leuten gesagt wurde: Davon haben wir in der Schule nichts gehört. Mag schon sein, dass man nicht bis zur Zeitgeschichte vorgedrungen ist. Doch nach Tausenden zeitgeschichtlichen Büchern, nach Tausenden Stunden Filmen, Diskussionssendungen, Vorträgen, Hörfunkkollegs war das einfach nicht glaubhaft. Und ich musste mich fragen, wie man jemanden beurteilen würde, der nach 20 und mehr Jahren EDV nicht über die notwendigen Kenntnisse verfügte oder auch die Stirn hätte, sich damit zu rechtfertigen, dass man von gängigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in der Schule nichts gehört habe. So jemand würde doch recht rasch als nennenswerter Idiot bezeichnet werden. Nur wenn man behauptete, in der Schule nicht über den Ersten Weltkrieg hinausgekommen zu sein, sollte das noch immer als Entschuldigung für Unwissen herhalten können. Da stimmte etwas nicht! Dabei war man doch immer wieder gefordert, Stellung zu beziehen.

Auslösend war in der Regel, dass etwas störte. In der Landesverteidigungsakademie störte eine Gedenktafel für den Generaloberst der deutschen Wehrmacht Alexander Löhr. Sie gehörte nicht dort hin und wurde entfernt. Die Namen von Löhr und dem SS-General Arthur Phleps fanden sich auch auf einer Tafel im Vorraum der Hofburgkapelle. Ihre Namen wurden – so wie es der zuständige Ressortminister angeordnet hatte – „steinmetzmäßig entfernt“. Damnatio memoriae war angesagt. In der Wiener Staatsoper störte 2002 der Eiserne Vorhang von Rudolf Eisenmenger. Er wurde jahrelang verhängt. Eisenmenger war in der NS-Zeit Präsident des Wiener Künstlerhauses gewesen. Das war bekannt, gehörte aber letztlich in die Gruppe der selektiven Wahrnehmungen. In einem anderen Fall wurde nämlich ein Plätzchen nahe der Ringstraße nach einem bekannten Maler und Ehrenbürger der Stadt Wien benannt. Da störte nicht, dass auch er einmal „der Partei“ angehört hatte. Auch das war bekannt. Nahe der Ringstraße störte das Denkmal Karl Luegers, wohl weniger deshalb, weil er Antisemit war, sondern weil ihn Hitler in „Mein Kampf“ so positiv hervorgehoben hatte. Auch an der Ringstraße störte der Name Lueger und musste jüngst dem Universitätsring Platz machen.

Am Heldenplatz störte fast alles, wie sich das Wort vom Helden überhaupt als scheinbar anstößig erwies. Auf dem Wiener Zentralfriedhof störte das Ehrengrab des Jagdfliegers Walter Novotny. Im September 2003 wurde eine Ehrengräberkommission eingesetzt, die alle während der NS-Zeit erfolgten Ehrengrabwidmungen auf Wiener Friedhöfen untersuchen sollte. Nach einem Jahr und langen Diskussionen um den Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg sowie den Fußballer Matthias Sindelar stellte sich heraus, dass es ein Streit um des Kaisers Bart gewesen war, denn seit den Überleitungsgesetzen des Mai 1945 waren ohnedies alle Widmungen obsolet. Man musste also gar nichts aberkennen, wohl aber wurde 37 österreichischen Juden, deren Verdienste um Wien, um Kultur und Wissenschaft unbestritten waren, posthum Gräber ehrenhalber gewidmet. 2011 wurde die nächste Kommission eingesetzt. Sie sollte die Grabwidmungen der Wiener Stadtverwaltung zwischen 1934 und 1938 überprüfen. Auslösend für das besondere Interesse an dieser Zeit war das Grab von Engelbert Dollfuß auf dem Hietzinger Friedhof. Seine vermeintliche Widmung störte.

Ebenso wurde aber etwas überraschend darüber zu diskutieren begonnen, ob einige der höchsten Militärs des alten Österreich, unter anderem der Generalstabschef der gesamten bewaffneten Macht Österreich-Ungarns, Franz Conrad von Hötzendorf, zu Recht in ehrenhalber gewidmeten Gräbern lagen. Ihnen wurden Präventivkriegsdenken, die Führung eines Angriffskriegs und Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung vorgeworfen. Das hatte nun etwas Denkmalstürmerisches an sich, denn die Anwendung von Kriterien des Kriegs der deutschen Wehrmacht auf andere Zeiten würde einen regelrechten Kahlschlag in der österreichischen und vor allem der Wiener Denkmallandschaft nach sich ziehen. Und davon wären nicht nur ein paar Militärs, sondern vor allem die „obersten Kriegsherren“ betroffen, die Kaiser und Könige. Das kollektive Gedächtnis könnte solcherart fast orientierungslos werden.

In der Wiener Gräberkommission gab es schließlich eine fast salomonische Lösung. Es wurde vorgeschlagen, die ehrenhalber gewidmeten Gräber in „Historische Grabstätten“ umzubenennen. Da konnte dann alles so bleiben, wie es war. Zudem wurde auch das Dollfuß-Grab in diese Kategorie gereiht, denn es war entgegen der Meinung jener, die den Anstoß zur Kommissionsarbeit gegeben hatten, nie ehrenhalber gewidmet gewesen. – Die nächste Initiative für eine Kommission gab es im Herbst 2010, als es um die Errichtung eines Denkmals für Deserteure der deutschen Wehrmacht ging. Damit war man von den realen Friedhöfen auf jenem Friedhof der Namenlosen angelangt, der Heldenplatz heißt. Denn das Deserteursdenkmal sollte am Heldenplatz entstehen. Fast zeitgleich mit dieser Initiative rückte das Äußere Burgtor ins Blickfeld. Es beherbergte nicht nur den Weiheraum, in dem der Opfer des NS-Regimes gedacht wird, sondern auch die Krypta. In ihr wurden die Bücher verwahrt, in denen die Namen der aus Österreich stammenden Gefallenen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs verzeichnet sind. Nicht alle waren Helden, so wie es der Begriff „Heldendenkmal im Äußeren Burgtor“ suggeriert, doch sie gehörten überwiegend einer im weitesten Sinn militärischen Opferkategorie an. Verbrecher hatten in diesen Verzeichnissen nichts verloren. Man müsste allerdings die Biografie eines jeden der rund 190.000 Gefallenen des Ersten Weltkriegs und der 247.000 im Zweiten Krieg getöteten oder an ihren Verwundungen gestorbenen Angehörigen der deutschen Wehrmacht österreichischer Herkunft zu erforschen suchen, um auch nur annähernd über Lebensverläufe Bescheid zu wissen. Eine evidente Unmöglichkeit! Im August 2012 wurden die Bücher entnommen und dem Österreichischen Staatsarchiv übergeben.

Es gab aber noch ein weiteres Ärgernis, von dem man wohl auch schon lange wusste: Der Bildhauer, der die Gestalt des toten Kriegers für die Krypta geformt hatte, Wilhelm Frass, hatte 1936 in einer Kapsel ein glühendes Bekenntnis zum Nationalsozialismus eingemauert, nicht in der Annahme, dass man sich in einer zweiten österreichischen Republik drüberbeugen würde. Das war Herrn Frass wohl unvorstellbar. Doch er erzählte seine Geschichte einem Redakteur des „Völkischen Beobachters“, der sie auch prompt veröffentlichte. Die Geschichte geriet in Vergessenheit. So lange, bis jemand darauf stieß und es ihn störte. Ein Gehilfe des Wilhelm Frass tat es seinem Herrn und Meister gleich, nur dass er nicht den NS-Gedanken eingemauert wissen wollte, sondern ein pazifistisches Bekenntnis. Da könnten ihm – zumindest heute – wohl noch die meisten folgen. Im Juli 2012 wurde die Marmorskulptur des toten Soldaten angehoben, die Kapseln wurden entnommen und dem Heeresgeschichtlichen Museum zur Verwahrung übergeben. Seit Bücher und Kapseln aus dem Äußeren Burgtor entfernt worden sind, herrscht Schweigen in der Gruft.

Abseits dessen steht noch das Deserteursdenkmal an. Sein Aufstellungsort am Ballhausplatz ist definiert, und es stört wohl nicht, dass damit Deserteure generell aus der Gruppe der Gegner des NS-Regimes herausgehoben werden sollen. Sie sehen sich anders als jene Angehörigen des Widerstands, die meist unter dem Fallbeil ihr Leben lassen mussten oder wie Robert Bernardis oder Carl Szokoll am 20. Juli 1944 am Tyrannenmord mitwirken wollten. Das ist zu respektieren. Auch andere Gruppen können geltend machen, dass sie sich im Weiheraum des Äußeren Burgtors nicht wiederfinden, die Homosexuellen, die Roma und Sinti, die Zeugen Jehovas und vielleicht noch andere. Nichts wäre freilich schlimmer, als wenn sich aus der Aufsplitterung der Gegner und Opfer des NS-Regimes eine Frage der Rangordnung ergeben würde: Wer legt dann wo und in welcher Reihenfolge Kränze nieder? Das würde den Gedenkmarathon unzulässig verlängern. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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