Moloch? Motor!

Der weltweite Drang in zentrale Räume ist nicht zu stoppen. Aber wäre es überhaupt erstrebenswert, die Verstädterung aufzuhalten? Wie Megacitys vom Problem zur Lösung werden.

Der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan sprach nicht zufällig vom „Jahrtausend der Städte“: Bis 2050 könnten fast neun Milliarden Menschen eine Erde bevölkern, die jetzt schon an Ressourcenknappheit leidet und dann mitten im globalen Klimawandel stecken wird. Mehr als zwei Drittel werden dann in Städten leben. Das Tempo dieser Umschichtung und Verdichtung ist historisch ohne Beispiel und stellt die Innovations- und Strategiefähigkeit aller Betroffenen auf eine harte Probe: Die Stadtbevölkerung nimmt jährlich um über 60 Millionen Menschen zu, bereits 2010 existierten – je nach Ausmaß der Einbeziehung des Umlandes – mehr als 450 Millionenstädte.

Die meisten davon liegen in den Entwicklungsländern, nicht wenige in Schwellenländern. Dort ist nicht nur das Bevölkerungswachstum anhaltend stark, sondern auch der Aufholbedarf an städtischen Lebensweisen am größten: Die urbane Wende der Dritten Welt wird von tiefschürfenden wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Beweggründen angetrieben. Push-Faktoren (Auswanderungsdruck: Arbeitslosigkeit, Umweltprobleme, Naturkatastrophen) und Pull-Faktoren (Zuwanderungssog: Hoffnung auf Arbeit, Wohlstand, Bildung, Anonymität) bewirken zusammen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund rapider Globalisierung, dass bis 2030 etwa zwei Milliarden Menschen in die Ballungsräume der Entwicklungsländer gezogen sein werden.

Ob Traum für wenige oder Alptraum für viele, der weltweite Drang in zentrale Räume ist weder zu stoppen noch umzukehren. Doch wäre es überhaupt erstrebenswert, die globale Verstädterung (Urbanisierung) aufzuhalten? Wohl kaum. Die wachsende Bevölkerung des Planeten Erde in ländlichen und dörflichen Gemeinschaften unterzubringen ist naive Illusion – erst recht, wenn der Lebensstandard der Industrieländer gewollt wird. Und das steht außer Frage, angesichts der Konsumkultur der neuen, jungen Mittelschichten, die lange schon die schicken Malls vor allem (süd)ostasiatischer und lateinamerikanischer Citys stürmen. Dichte Siedlungsmuster der Städte werden für künftige Generationen unabdingbar werden, um Raum und Ressourcen nicht zu überbelasten. Mehr noch: Die Entstehung von Riesenballungsräumen, sogenannten megaurbanen Regionen, ist nicht nur ein lokaler Prozess weit weg, sondern hat mittelfristig drastische Auswirkungen für uns alle. So werden 85 Prozent der anthropogenen Treibhausgase von Städten emittiert, deren Abwässer Grundwasser und Weltmeere verschmutzen. Und ihr Hunger nach Ressourcen heizt Raubbau aller Art auch in entlegenen (peripheren) Weltregionen an.

Ob bloß groß, sehr groß oder übergroß: Die Städte werden nicht mehr aufhören zu wachsen, wenngleich das Tempo der 1990er nachgelassen hat und in Europa, Angloamerika und Lateinamerika eine Sättigung abzusehen ist: Zunahmen erfolgen hier vor allem durch hohe Geburtenraten der (früher oder kürzlich) zugezogenen Migranten und weniger, wie in Afrika und Asien, durch weitere Zuwanderung in die Metropolen und deren suburbanes Umland. Der gemeinsame Nenner weltweiter Urbanisierung scheint massive Verdichtung – von Menschen, sozialen Interaktionen und Wissen, aber auch von Ressourcen, Waren- und Kapitalströmen.

Das Perlfluss-Delta (Hongkong-Guangzhou-Macao) oder die untere Jangtse-Region (Shanghai-Nanjing-Hangzhou) etwa sind in China längst zu Agglomerationen geworden, die beide in naher Zukunft mehr als 100 Millionen Menschen zu versorgen haben. Die Korridore São Paulo–Rio (Brasilien) oder Jakarta–Bandung (Indonesien) zeigen ähnliche Muster,stehen aber global weniger im Blickfeld: Die Abhängigkeit von Einzugsgebieten und Versorgungsachsen (Waren, Ressourcen, Energie, Arbeitskräfte, Information) bewirkt vielfach ein Zusammenwachsen von megaurbanen Räumen, deren sozioökonomischer und ökologischer „Fußabdruck“ oft weit größer als das eigentliche Territorium ist – nicht zuletzt eine Folge der Globalisierung der Weltgesellschaft, die latente Effekte drastisch verstärkte: So ist der Fußabdruck von London 120-mal so groß wie die Stadtgröße, kalkuliert man die täglich erforderlichen Ressourcen aus den Weizenfeldern von Kansas, den Teefabriken von Assam und den Kupferminen Sambias ein. Städte nehmen zwar weniger als zwei Prozent der Erdoberfläche ein, verbrauchen aber mehr als drei Viertel ihrer Ressourcen: In den meisten Forschungsdisziplinen werden Metropolen zumeist als Risikogebiete wahrgenommen, die mitUmweltverschmutzung, Ressourcenausbeutung und menschlich verstärkten Problemfeldern (Wasserknappheit, Wirtschaftskrisen, ethnisch-religiöse Auseinandersetzungen), mit wachsender Armut zu kämpfen haben und gegen Segregationsprozesse vielfach machtlos sind.

Vor allem Megacitys enthalten, produzieren und verstärken Gefahrensysteme und sind daher Opfer und Täter zugleich, wie zahlreiche Publikationen im Rahmen der „MegaCity TaskForce“ der International Geographical Union belegen. Während „reiche“ Megacitys als Produktionszentren von der Einbindung in globale sozioökonomische und politische Netzwerke profitieren und als Schaltzentralen der Weltwirtschaft fungieren (London, New York, Tokio), gelten „arme“ Megacitys als Absorptionsräume ruraler Migration und Armut.

Der Trend geht zur „Exclusive City“ mit einer massiven Polarisierung zwischen Arm und Reich, das Konzept der humaneren „Inclusive City“ für alle Bevölkerungsschichten bleibt meist auf dem Reißbrett der Theorie: Randstädtische Hüttenviertel etwa beherbergen teils immer noch mehr als 40 Prozent der Megastadtbevölkerung. Diese Favelas oder Slums sind nicht nur ungünstig gelegen (rutschungsgefährdete Hänge, periodische Überschwemmungsgebiete, Bahndämme), sondern zu drei Vierteln informell, also ohne behördliche Genehmigung, entstanden. Und so wuchern suburbane Satellitensiedlungen oft genug konzeptlos in das städtische Umland, wo sich die Urbanisierungsgewinner in den Parallelwelten von „Gated Communities“ vor Lärm, Gestank und Schmutz verschanzen, den Golfplatz mit Stacheldraht und Security gegen die Wellblechhütten rundum abgesichert: Der Trend zu Marginalisierung und Segregation scheint aktueller denn je. Nachhaltigkeitsprobleme verschärfen sich daher in allen drei Dimensionen – wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, sozialer Teilhabe, ökologischer Tragfähigkeit –, teilweise sogar exponentiell, was etwa Verkehrsbelastung und Müllentsorgung betrifft. Je rascher die Stadt wächst, je stärker natürliche Verdichtung gegeben ist (etwa im Talkessel von Mexico-Stadt oder in den Flussdeltas von Hanoi oder Kolkata), desto schwieriger wird nachhaltige Entwicklung; je korrupter und schwächer politische Ordnungsinstitutionen entwickelt sind und je ärmer die Stadt ist, desto unrealistischer wird sie. Konkreter gesagt: Ohne rasche Maßnahmen zur Steuerung wachsender ökonomischer Aktivität in Stadtregionen könnten sich von 1990 bis 2020 allein die Bleiemissionen weltweit verneunfachen. Mehr als 500.000 Todesfälle gehen jetzt schon jährlich auf die Wirkung von Schadstoffpartikeln zurück, mehr als 400.000 auf Schwefeldioxid.

Bei aller begründeten Skepsis zur Zukunft der Megacitys: Verdichtung und Verflechtung sind nicht hoffnungslos. Auch New York oder London wurden nach Phasen ungeregelten Wachstums und schwerster Missstände auf allen Ebenen wieder regierbar und bieten attraktive Lebensumfelder. Die Verfallszenarien der 1970er haben sich dort nicht bewahrheitet. Singapur und vor allem Tokio gelten heute als Musterbeispiele für Mega-Urbanisierung, die aufgrund rigider Raumplanungskonzepte überhaupt ohne größere Krisenerscheinungen wachsen konnten – trotz Verdreifachung der japanischen Hauptstadtbevölkerung innerhalb der vergangenen 60 Jahre auf über 37 Millionen Einwohner.

Die positiven Entwicklungspotenziale der Metropolen werden weiterhin nur wenig thematisiert: Verstädterung kann auch nachhaltig sein. Oder sie muss es werden – denn einseitige mediale Molochisierung von urbanen Parasiten, die auf Kosten von Umland und Umwelt unregierbare Ballungszentren generieren, ist kaum zukunftsfähig. Urbanisierung muss nicht zwangsläufig ausschließlich negative Folgen nach sich ziehen. Ob Verringerung des Pro-Kopf-Flächenverbrauchs oder optimierte Transportsysteme: Ballungsräume bilden globale Brücken und innovative Milieus aus, die Nachhaltigkeit erst möglich machen.

Selbst in der Dritten Welt liegen Lebenserwartung, Bildungsgrad oder das Gesundheitsniveau der Stadtbevölkerung deutlich über Vergleichswerten aus dem ländlichen Umland – zweifellos indirekte Migrationsmotive, die vielfach unbeachtet bleiben. Wirtschaftliche Leistungen wiederum können schneller, effektiver und innovativer erbracht werden, was zu Produktivitätssteigerung und – gerechte Verteilung vorausgesetzt – Einkommenszuwächsen führen kann.

Dazu erlaubt die Komprimierung von Menschen und Wohnräumen eine Senkung des Ressourcenverbrauchs, weil sich die Versorgungswege verkürzen. Weiters lassen sich in Ballungsräumen Stoffkreisläufe leichter schließen (etwa durch Recycling), wodurch sich die Folgen höherer Konsumintensität zumindest teilweise ausgleichen lassen.

Doch die Voraussetzungen müssen stimmen. Ohne nachdrückliche, gezielte Stadtentwicklung und ohne das Zusammenspiel von wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Steuerfaktoren werden nachhaltige Visionen unrealisierbar bleiben. Ohne frühzeitiges Gegensteuern zur Vermeidung irreversibler Fehlentwicklungen bleibt Stadtgestaltung meist ein Spielball von Investoren, Lobbyisten und inkonsistenter Regionalpolitik. Und ohne ein Mindestmaß an Wohlstand und Wirtschaftswachstum bleiben die Handlungsspielräume eng – zu eng für viele der neuen Metropolen an den Peripherien der globalen Schaltregionen in Europa und Angloamerika, die sich selbst auch aus demografischen Gründen längst von unkontrollierter Urbanisierung abkoppeln konnten.

Dabei sind Visionen dringender nötig denn je. Gerade Megacitys sind Arenen sozialer Transformation, die ständig neue Entwicklungsperspektiven fordern. Eine nachhaltige Gestaltung der Urbanisierung könnte zur entscheidenden Überlebensfrage des Planeten werden – vor allem in den „Megastädten von morgen“, wo die Handlungschancen mehr Erfolg versprechen als in zahlreichen Ballungsräumen der Gegenwart, die sich vielfach bereits jenseits realistischer Steuerungsmöglichkeit befinden: Urbane Nachhaltigkeit ist der Schlüssel für jede zukunftsfähige globale Entwicklung. Man muss ihn nur noch finden, fertigen und finanzieren. Und zwar schnell. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2012)

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