60.000 Tote, kollateral

Nicht mehr arm, noch nicht „entwickelt“? Mexiko zwischen Drogenkrieg und kultureller Vielfalt. Schwerer denn zuvor wiegt heute der 1988 publizierte Klassiker „México profundo“ des Historikers Guillermo Bonfil Batalla.

Schwerer denn zuvor wiegt heute der 1988 publizierte Klassiker „México profundo“ des Historikers Guillermo Bonfil Batalla. Ihm ging es seinerzeit um das drohende Verlöschen der Erinnerung an Mexikos kulturelle Vielfalt durch die Fiktion einer modernen mexikanischen Nation. Demnach verfolgte die aus der Revolution hervorgegangene Oligarchie auf der Ebene eines „imaginären Mexikos“ unter Einsatz aller staatlichen Machtmittel den Weg einer linear voranschreitenden Modernisierung. Ihr standen die Elemente eines profunden, tiefen Mexikos im Weg mit starken Volkskulturen, die eher die facettenreiche Option einer nichtlinearen mesoamerikanischen Moderne sondierten.

Sieben Dekaden lang bewegte sich Mexikos revolutionäre PRI-Staatspartei, oft stalinistisch, innerhalb dieser Spannung. Erst im Jahr 2000 wurde sie an der Wahlurne von der rechtskatholischen PAN-Partei verdrängt. Doch statt eines kulturellen Aufbruchs zugunsten eines „México profundo“ warf die zwölfjährigePAN-Amtszeit fast nur Katastrophen aus. Insbesondere beim Versuch, die Drogenszene, wie von Washington verordnet, auszutilgen. Wie die Autorin Anabel Hernández mit ihrem Buch „Los Señores del Narco“ zeigt, beging der zweite PAN-Präsident, Felipe Calderón (2006 bis 2012), im Rahmen der Militarisierung der Antidrogenkampagne den fatalen Fehler, die tolerante „Polygamie“ zwischen dem (immer korrupten) Staatsapparat und den Drogenbossen zugunsten einer „Monogamie“, die ein einziges Drogenkartell favorisieren wollte, aufzugeben. Resultat war das mörderische Abschlachten im nördlichen Mexiko mit – bis heute – etwa 60.000 Toten.

Darunter litten vor allem auch die Angehörigen des „México profundo“, Indianer, Kleinbauern, Straßenhändler, Menschenrechtler, Studenten, Poeten, Journalisten, von der Polizei zynisch als „Kollateralschaden“ registriert. Deren aller Wahlhoffnung hatte auf die Alternative mit dem sozialdemokratischen Kandidaten der dissidenten PRD-Partei, Andrés Manuel López Obrador (AMLO), gesetzt. Indes, gegen das essenziell betrügerische Wahlsystem, wie von der PRI-Partei erneut aufgelegt, hatten sie alle infolge extremer Wahlenthaltung keine Chance.

Somit übernimmt am 1. Dezember für die nächsten sechs Jahre erneut die siegreiche PRI-Partei die volle Macht, mit dem jungen, feschen, arroganten undtelegenen Enrique Peña Nieto als präsidentiellem Vorreiter.

Mexiko will wieder internationalpunkten und wird die lineare Modernisierung mit noch mehr neoliberalem Elan weiterführen. Und zwar erpicht auf Erfolg. Drogen-Violencia hin oder her. Fährt man zum Beispiel im Bus von Mexiko-Stadt in die Provinz Guanajuato, passiert man endlose Reihen von nagelneuen Gewerbebauten auf beiden Seiten der sechsspurigen Autobahn, flankiert von donnernden Road-Train-Lastzügen und anderen Elementen industrieller Prosperität, mit eingestreuten Elektronik-Clustern, die ein „México profundo“ einfach zuschütten. Wie lautet der Titel einer jüngst vom Wilson-Center in Washington vorgelegten Studie? „Mexico: A Middle Class Society. Poor no more, developed not yet.“ Hierin spiegelt sich der Ehrgeizdes neuen PRI-Präsidenten: offene Türen für eine normierte US-freundliche Mittelklasse-Konsumgesellschaft, die das angeblich rückständige „México profundo“ zum Verschwinden bringen soll.

Aber Vorsicht, Herr Präsident: Dieses „México profundo“, robust vom 100-jährigen Überlebenskampf, verfügt über zähe und tiefe Wurzeln! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2012)

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