Das große Rauschen

(c) FABRY Clemens
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„Es gibt nichts Schöneres, als die Zeitungen zu lesen und zu sehen, was in der Welt los ist“, sagte mein Vater. Ja, es gibt nichts Schöneres, ich, wir, die Welt. Ach ja? Plötzlich ist das, was ich lese, nicht mehr meine Welt. Wo bin ich?

Glück hat im Deutschen immer auch die Bedeutung von Zufall. Aber es ist in der Regel keinZufall, der das Glück zunichtemacht. Wer hat diesen Satz geschrieben? – Ein Mann mittleren Alters liegt auf einem Sofa, er raucht, die Rauchkringel schweben zur Decke. Auf einem Beistelltischchen steht ein Glas Wein, auf dem Boden neben dem Sofa liegen Zeitungen und einige aufgeschlagene Bücher. Die Zeitungen sind mit sich identisch, sie sind Altpapier, aber die Bücher wirken wie aus dem Nest gefallene Vögel mit ausgebreiteten Flügeln, und im Licht der Stehlampe funkelt der Wein wie bernsteinfarbenes Meer in einer kleinen menschenleeren Bucht vor dem Sturm.

Das Pathos und der Kitsch dieses Bildes können nur eines bedeuten: Der Mann hängt gewichtigen Gedanken nach. Aber er tut das nicht. Ich weiß das. Denn ich habe diesen Mann erfunden. Ich betrachte diesen Mann und frage mich: Wieso sehe ich mich von außen? Was ist passiert, dass ich mich als einen erlebe, der außer sich ist, neben sich steht und alles, was ihn betrifft, als etwas Fremdes, Peinliches, ihm gar nicht Zugehöriges, als Verwechslung empfindet?

Ich habe, seit ich schreibe und publiziere, ein Bild von mir, in das ich schlüpfen, in dem ich leben wollte, einen Anspruch, der nie ein Gefühl von Einzigartigkeit erzeugen konnte, im Gegenteil: Mein Anspruch war, mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten so zu leben und zu arbeiten, wie es uns allen seit dem Eintritt in die Mündigkeit aufgetragen ist: nämlich die vorgefundenen Bedingungen unseres Lebenszu verstehen, sie nicht als fremde Macht,sondern als menschengemacht zu begreifen, also als etwas, das uns in die Hand gegeben ist, um es gemeinsam menschengerecht zu machen. Meine Arbeit würde mir ermöglichen, Ich zu sagen, zugleich würde der Anspruch, den ich hatte, mir auch ermöglichen, buchstäblich aus vollem Herzen Wirsagen zu können.

Pathetisch? Zugleich auch noch kitschig? Vielleicht. Vielleicht ist das der Anspruch und der Gedanke nur des Mannes auf dem Sofa – Sie entschuldigen das bitte, ich beobachte und erzähle nur. Andererseits: Was ist das für eine Zeit, in der dieser Anspruch als pathetisch oder gar als kitschig empfunden wird?

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeitgenossenschaft ist eine eigentümliche Angelegenheit: Sie ist meines Wissens der einzige Fall, der einen tautologischen Akt, eine Verdopplung erfordert, um eine einfache Identität herzustellen: Jeder ist Zeitgenosse, aber man muss erst diesen Anspruch haben und sich zu einem Zeitgenossen machen, um praktisch einer zu sein.

Nur „die Krone“, das „rote Sudelblattl“, führte unser Trafikant nicht

Das ist schon wieder ein bisschen peinlich theoretisch, ich bin eigentlich ein Erzähler, ich erzähle Ihnen etwas: Mein Eintritt in die Zeitgenossenschaft geschah als Kollateralglück einer unglücklichen Jugend, damals war ich zwölf Jahre alt und ein Scheidungskind. Es waren die „großen Ferien“, zwei wunderbar lange Sommermonate. Meine Eltern mussten beide arbeiten, hatten keinen Urlaub, zumindest nicht so lange, wie ich Ferien hatte – wohin mit dem Kind? Zur Großmutter, die in einem niederösterreichischen Dorf lebte. Meine Mutter kam jeden Freitagabend nach Arbeitsschluss übers Wochenende, aber auch mein Vater, der grundsätzlich einmal wöchentlich Besuchsrecht hatte, wollte über den langen Sommer den Kontakt zu seinem Sohn nicht ganz abreißen lassen, was ich ihm hoch anrechne, und beschloss, die Reise anzutreten und mich in diesem langen Sommer einmal zu besuchen. Er kam nach dem Mittagessen, wollte am selben Abend nach Wien zurückfahren, das hieß: Wir hatten etwa vier Stunden, die wir zusammen verbringen sollten. Das war eine große Herausforderung: Denn welche Möglichkeiten gab es denn für eine aufregende, verschworene, liebevolle, irgendwie sinnvolleVater-Sohn-Aktion in diesem Nest, wie Vater dieses Dorf im Waldviertel nannte.

Wir konnten in den Wald gehen, Schwammerln suchen. Nun war aber meinem Vater, damals ein berühmter Fußballspieler, jegliche Art von Bewegung, bei der kein Ball im Spiel ist, völlig wesensfremd. Der Satz meines Vaters „Was mache ich im Wald, ich bin ja kein Reh“ ist erst später Anton Kuh zugeschrieben worden – was insofern legitim ist, als der Satz, dass Kuh kein Reh ist, erst wirklich vertrackter österreichischer Humor ist. Aber egal. Die zweite Möglichkeit war, dass mein Vater mich bei meinen Feriengeschäften begleitete und also dabei zusah, wie ich das tat, was ich jeden Nachmittag in den Sommerferien tat, nämlich mit den anderen Buben des Dorfs Fußball zu spielen. Das aber lehnte er kategorisch ab. „Kannst du dir vorstellen“, sagte er, „wie Paganini seinem Sohn freiwillig dabei zuschaut, wie er eine Geige zersägt?“ Das kam also als Programm für den Besuchsnachmittag auch nicht infrage. Und die dritte Möglichkeit?

Die erfand mein Vater. Sie müssen sich das vorstellen: Vier Stunden mit einem fußballerisch untalentierten, im Übrigen schwermütigen Kind, das den Vater bewunderte und fürchtete, das den Vater zurückerobern wollte, in einem Provinznest, dessen Angebote naturgemäß ausgeschlagen werden mussten – was tun? Nun, mein Vater ging mit mir in die Trafik, kaufte sämtliche verfügbaren Zeitungen, ausgenommen die „Kronen Zeitung“. Er hätte allerdings auch die „Kronen Zeitung“ gekauft, aber der Trafikant führte sie nicht, der ein kriegsinvalider Nazi war, der sich weigerte, diese „Gewerkschaftszeitung, dieses rote Sudelblattl“, wie er es nannte, im Sortiment zu haben. Das waren noch Zeiten, sie sind so vergessen, dass nicht einmal Faymanns Brief an die „Kronen Zeitung“ Erinnerungen daran weckte.

Jedenfalls, mein Vater kaufte alle verfügbaren Zeitungen, marschierte mit mir zu einer Bank auf dem Kirchenplatz, wir setzten uns auf diese Bank, auf der sinnigerweise stand „Gewidmet von der Raiffeisen Bank“, und mein Vater legte den Stapel Zeitungen zwischen uns und sagte – ich bin immer wieder aufs Neue erregt, wenn ich daran denke, obwohl ich sicher bin, dass sich mein Vater heute nicht mehr daran erinnern kann, er wollte doch nur Zeit totschlagen, aber ich bin damals in meine Lebenszeit eingetreten, Zeitgenosse in Anspruch und Praxis geworden –, mein Vater sagte doch tatsächlich: „Es gibt nichts Schöneres, als die Zeitungen zu lesen und zu sehen, was in der Welt los ist!“

Dann nahm er eine Zeitung, begann zu lesen und bedeutete mir irgendwie, es ihm gleichzutun. „Es gibt nichts Schöneres“, hatte er gesagt, und ich war kein Kind, das quengelte, wenn mein Vater sagte, dass es nichts Schöneres gab, und ich wagte es auch nicht, „fad!“ zu sagen, wenn es darum ging, zu sehen, „was in der Welt los ist“.

Ich war zwölf, ein Scheidungskind: In den Ferien las ich alle Zeitungen

Und ich werfe meinem Vater auch nicht den kleinen Betrug vor, dass er, als österreichischer Zeitungsleser-Profi, die Zeitung von hinten anfing zu lesen, also beim Sport, während er, solange ich still blieb, mich nicht daran hinderte, die Zeitung so wie ein Buch zu lesen zu beginnen, also von vorne, mit dem politischen Leitartikel. So saßen wir also nebeneinander, mit großem Ernst, in großer Verbundenheit.

Ich gab dann in diesem Sommer mein ganzes Taschengeld für Zeitungen aus, kannte am Ende der Ferien alle Staatschefs der Welt sowie die Namen der Spieler der portugiesischen Nationalmannschaft, die in diesem Sommer bei der Fußballweltmeisterschaft 5:3 gegen Nordkorea gewann, nachdem Nordkorea bereits 3:0 geführt hatte, wobei ich ziemlich sicher bin, dass ich als der einzige Zwölfjährige außerhalb Nordkoreas wusste, wer Kim Il-sung war und dass der Koreakrieg kein Fußballmatch gewesen ist.

Warum erzähle ich das? Ich bin zwar ein Dichter geworden, aber ich wollte zeigen, dass dies, trotz der zweifellos etwas anders gearteten Ansprüche der Literatur, für mich untrennbar verbunden ist, nein: war, mit der Lust, dem „Nichts-Schöneren“, die Zeitungen zu lesen, um zu wissen, „was in der Welt los ist“. Ich habe vorhin „Kollateralglück“ gesagt: Ich wollte als Sohn anerkannt sein – und wurde Zeitungsleser...

Es hat auch mit Zeitungen zu tun: Ich wollte einen Roman schreiben, der in Brüssel spielt und dessen Hauptfigur ein Beamter der Europäischen Kommission ist. Das kann man nicht am Marmortisch eines Wiener Kaffeehauses schreiben, mit der Brüssel-Ausgabe von „Anders reisen“ vor sich. Also flog ich nach Brüssel, nahm mir eine Wohnung und versuchte sogenannte Eurokraten kennenzulernen, um zu sehen, ob sie überhaupt romantauglich sind, ob man sie typisieren, sie zu einer exemplarischen Romanfigur verdichten kann. Eine schrullige Idee? Ja und nein. Ich habe vorhin von meinem Anspruch gesprochen, mich in meiner Zeitgenossenschaft zu reflektieren, zu verstehen, wie meine Lebensrealität zustande kommt, und ich dachte eben, dass in „Brüssel“, dieser Stadt in Anführungszeichen, heute die Rahmenbedingungen meiner Lebensrealität produziert werden, meiner und unser aller Lebensrealität auf dem ganzen Kontinent, und dass ich also in diesen Maschinenraum der Realitätsproduktion hineingehen müsse, um einen wahrhaft zeitgenössischen Roman zu schreiben.

Dieser ganze Meinungsjournalismus ist ein einziges Verhängnis!

Es wäre eine glückliche, produktive Zeit gewesen. Ich sammelte Beobachtungen und hatte interessante Einblicke. Da brach die Krise aus. (Es brechen immer Krisen aus, wenn ich glücklich bin, das nur nebenbei!) Die Finanzkrise. Griechenland. Plötzlichwurde aus meiner Romanrecherche ein multiples Postgraduate-Studium: in Finanz- und Wirtschaftswissenschaften, Politologie, Geschichte, Medientheorie. Es gab in Brüssel kein anderes Thema mehr als das, wofür heute „Griechenland“ als falsche Chiffre herhalten muss, und es wurde in allen Facetten diskutiert. Und ich lernte und bekam ein Bild – und plötzlich drehte sich die Welt: Es gibt nichts Schöneres, als in den Zeitungen zu lesen, was in der Welt passiert – ach ja? Was ich in den Zeitungen las, stimmte nur in Bruchstücken überein mit dem, was ich sah, was ich erfuhr, was ich recherchierte, was ich erlebte, was ich hörte, was ich begriff als die Welt, in der ich forschte und in der ein denkendes Gemüt gleichermaßen selbstbewusst Ich und Wir sagen kann.

Ich habe gelernt, was die Europäische Idee ist, an der sehr viele Menschen in Brüssel arbeiten. Nichts oder kaum etwas davon las ich in den Zeitungen. Brächten die Zeitungen nur ein einziges Mal auf den Sportseiten falsche Ergebnisse von Fußballspielen, es folgte ein Sturm der Entrüstung. Aber in Hinblick auf den Lebensnerv unserer Existenz geht jeder faktische Unsinn, jeder eitle Ausdruck von Geschichtsvergessenheit, jede inkompetente Meinung – wenn ich das schon höre! Meinung! Inkompetente Meinung ist eine Tautologie! Dieser ganze Meinungsjournalismus ist ein einziges Verhängnis! –, geht jede ideologische Verblendung als „Information“ durch, die nur Ressentiments schürt, die die Medien dann glauben immer weiter bedienen zu müssen.

Nach einiger Zeit begriff ich, dass der Widerspruch zwischen der europäischen Realität und ihrer Widerspiegelung in den Medien tatsächlich eine getreue Widerspiegelung des inneren Widerspruchs der EU selbst ist: nämlich des Widerspruchs zwischen der nachnationalen Entwicklung, die mit der Gründung und Etablierung supranationaler Institutionen in Europa begonnen wurde, und der Renationalisierung, der sturen Verteidigung sogenannter nationaler Interessen, die wir gegenwärtig erleben, ein Widerspruch, der das Gefüge zum Knirschen und Krachen bringt. Und es ist eben genau dieser Widerspruch, den die Medien, vielleicht ohne anders zu können, reproduzieren: Es werden europapolitische Entscheidungen getroffen, aber die Fakten und die Informationen werden durch nationale Medien gefiltert. Es gibt keine anderen. So wird die Frage „Wie können wir die Finanzkrise lösen?“ zu der Frage transformiert: „Was kostet das uns Deutschen?“ Oder: „Was bedeutet das für Österreich?“

So kam es also, dass ich in Brüssel schöpferisch wurde: Ich schöpfte Verdacht. Kann es sein, dass die Krise letztlich nichts anderes ist als die Folge systembedingter Orientierungslosigkeit? Kann irgendeines der Probleme, mit denen wir uns heute auseinanderzusetzen haben, nationalstaatlich gelöst werden? Sicherlich nicht mehr. Können sie supranational gemeinschaftlich gelöst werden? Offenbar noch nicht. Das ist der Punkt, an dem wir uns befinden. Und darüber habe ich nichts gelesen. Wenn man aber herumtaumelt zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht und einem das klar wird, dann sollte doch auch klar sein, in welche Richtung man gehen muss. Das Nicht-mehr ist definitiv, das Noch-nicht kann überwunden werden. Kann man es den nationalen Medien verübeln, wenn sie Schwierigkeiten haben, dies zu schreiben und zu diskutieren?

Das war doch die Idee der Gründerväter des Europäischen Projekts: die Überwindung des Nationalismus und langfristig das Absterben der Nationalstaaten. Und sind wir auf diesem Weg nicht schon ein beträchtliches Stück vorangekommen? Rund 80 Prozent ihrer Souveränitätsrechte haben die Mitgliedsstaaten der Union bereits an die supranationalen Institutionen abgegeben, Europa hat seine längste Friedensperiode bei wachsendem Wohlstand und wachsenden Freiheiten produziert, ja, mit vielen Fehlern, vielen Problemen, wie alles Menschengemachte, aber das hat ja auch keiner geglaubt: dass die Rue de la Loi in Brüssel die Straße ins Paradies ist...

Kann man von den Medien nicht doch erwarten, dass ihnen ab und zu etwas auffällt? Mein ganzes Schriftstellerleben habe ich so gelebt: den Vormittag im Kaffeehaus sitzend, alle Zeitungen lesend, es gibt nichts Schöneres, ich, wir, die Welt. Plötzlich ist das, was ich lese, nicht mehr meine Welt. Wo bin ich? Ein verträumter Mann, der auf einem Sofa liegt und Rauchkringeln nachblickt. In den Zeitungen, die auf dem Boden liegen, Berichte über die Friedensnobelpreis-Verleihung an „die EU“. Kein Satz, kein Kommentar zu diesem kleinen, aber typischen Skandal, den ich im Fernsehen mitverfolgt habe: Ratspräsident Van Rompuy bedankte sich artig mit den Worten: „Die EU hat erfolgreich die Aussöhnung zwischen den Nationen betrieben und wird auch in Zukunft ein gedeihliches Zusammenleben der europäischen Nationen und bla...“, und daneben steht Kommissionspräsident Barroso und grinst. Zusammenleben der Nationen in der Zukunft – ging es nicht um etwas ganz anderes? Und niemandem fällt etwas auf? Diese Männer nehmen den Friedensnobelpreis entgegen – und produzieren, von den Nationen der Zukunft schwätzend, Bürgerkriege, weil sie sich die Lösung eines europäischen Problems nur als Verschärfung nationaler Probleme vorstellen können und Mitglieder der Union zu nationalen Kraftanstrengungen in Form nationaler Austerity-Politik zwingen, gegen die die Menschen zu Recht rebellieren.

Stellen Sie sich vor, es gibt 2013 eine Feierstunde anlässlich des 65-Jahr-Jubiläums zur Deklaration der Menschenrechte, und der Generalsekretär der Vereinten Nationen würde in einer Rede sagen: „Wir bekennen uns zu dem Auftrag, auch in Zukunft die Neger und Zigeuner artgerecht zu behandeln!“

Zwei Gründe, warum „die Intellektuellen“ heute schweigen

Oder der französische Präsident würde am 14. Juli eine Rede halten, in der er versichert: „Wir werden auch in Zukunft die Ideale der Französischen Revolution hochhalten: Freiheit der Finanzmärkte, Gleichheit der Ware Arbeitskraft und Brüderlichkeit bei den Preisabsprachen!“ Wären die Zeitungen nicht voll mit Kommentaren und Kritik an der Verballhornung großer historischer Ideen? Doch die Verballhornung der Europäischen Idee ist mittlerweile so sehr Gemeingut geworden, dass Van Rompuys Rede niemanden mehr kratzte.

Interessanterweise aber taucht in den Zeitungen immer wieder die Frage auf, wo denn „die Intellektuellen“ seien, warum sie sich nicht oder kaum zu Wort melden in der europapolitischen Debatte. Das ist in der Tat auffällig. Warum ist das so? Ich glaube, es gibtdafür eine ganz einfache Erklärung: Was ist denn ein sogenannter Intellektueller (einmaldavon abgesehen, dass dieser Begriff in Österreich geradezu als Beleidigung gebraucht wird)? Ein Intellektueller ist ein Mensch, der nicht nur die Zeitungen, sondern auch noch ein paar Bücher gelesen hat, durch die er in Hinblick auf Kunst, Gesellschaft, Politik einige grundlegende Dinge gelernt hat. Mit diesen Büchern im Kopf konnte er jederzeit etwas in den öffentlichen Diskurs einspeisen, das im Rauschen der täglichen Informationen eine singuläre, daher auffällige – und doch vernünftig verallgemeinerbare – Position bezog. Aber all das, was die Intellektuellen gemeinhin gelesen, worüber sie sich intellektuell entwickelt haben, funktioniert in Hinblick auf das Europäische Projekt nicht mehr. Was Europa betrifft, haben sie auch nur, wie alle anderen, die Zeitungen gelesen, was denn sonst? Und wenn sie sich doch einmal über „Brüssel“ äußern, reproduzierensie nur die Ressentiments des Publikums, mit feinerer Sprache, aber nicht einmal mit feinerer Klinge. Alle Kategorien, die ihnen, die uns zur Verfügung stehen, stimmen in Hinblick auf das Europäische Projekt nicht mehr. Zum Beispiel „Demokratie“. Ab und zubeklagt ein kritischer Geist die „demokratiepolitischen Defizite“ der Europäischen Union, das „Versickern der Demokratie“ in den europäischen Institutionen.

Was die Europäische Idee ist: Nichts davon lernte ich aus den Zeitungen

Aber unausgesprochen und unreflektiert reden wir dabei von nationalstaatlicher Demokratie, wir haben keinen anderen Begriff als diesen, den wir gewohnt sind, keine andere Vorstellung von Demokratie als die, die das bezeichnet, was wir gewohnt sind, was uns geschenkt wurde, was wir irgendwie eingeübt haben – und was tatsächlich versickert. Aber wir müssten über nachnationale Demokratie diskutieren, über ein völlig neues Demokratiemodell, das wir entwickeln müssen, so wie die Nationsgründer das ihre entwickelt haben. Aber wir haben noch keinen Begriff davon.

Und es gibt einen zweiten Grund, warum Intellektuelle heute weitgehend schweigen. Begriffe wie „Vision“ oder „Utopie“ sind im Gleichschritt mit dem Niedergang unserer Bildungsinstitutionen in Verruf geraten. Es waren zwar nachweislich Pragmatiker, die die gegenwärtige Krise produziert und verschärft haben, aber jetzt erst recht wird nur von den Pragmatikern auch die Lösung der Krise bei Gefahr des Zusammenbruchs Europas erwartet, während Visionäre, auch wenn sie die besseren Argumente haben, als Spinner verhöhnt werden.

Deshalb ist heute Folgendes leider unvorstellbar geworden: Es war einmal ein französischer Außenminister, Robert Schuman, ein hochgebildeter und polyglotter Mann, ausgezeichnet nicht nur durch die klassischen diplomatischen Fähigkeiten wie Perfektion im Small Talk und beste Tischmanieren,sondern auch politisch erfahren und bestens vernetzt. Und es gab einen Abenteurer und Fantasten, Jean Monnet, einen Lebenskünstler mit Visionen, einen Intellektuellen mit Lebenserfahrung, er sah das Europa, das in Trümmern lag, und er sah ein Bild von einem völlig neuen, schönen, reichen, freien und friedlichen Europa, er war genau der Typ, der heute auf einem Sofa liegen würde, weil es Zeiten gibt, in denen Träume ein gesellschaftlicher Motor sind, und Zeiten, in denen Träume so verschweben wie Rauchkringel, die man zur Decke bläst. Aber damals hörte Schuman ihm zu – und er sagte: „Tres bien! Deine Träume und meine politischen Möglichkeiten. Deine Vision und mein Name! Das ist ein Plan!“

Und so hat mit dem Schuman-Plan alles begonnen. Mit einem Außenminister, der nicht bloß, in Vorwahlzeiten, den Stammtischen sein Ohr leiht, sondern der einem Visionär zuhört. Wenn ich an diese Geschichte erinnere, meine ich damit nicht, dass ich es als mein Verhängnis betrachte, Österreicher zu sein, also den Außenminister zu haben, den wir hier eben haben. Ich wollte nur grundsätzlich daran erinnern, dass wir, wennwir die Zukunft gewinnen wollen, nicht nur neue Kategorien für das Neue entwickeln, sondern auch einiges rekonstruieren und rehabilitieren müssen: den Utopiebegriff und den Vernunftgrund des Weges, den wir seit 60 Jahren gegangen sind.

Die Zeitungen werden nicht sterben. Es gibt nichts Schöneres! Aber es wäre hilfreich, wenn sie sich abseits von Fußball und Wetterkarte befreien würden von dem, was sterben wird: der Fiktion „nationales Interesse“.

Vielleicht ist der Kerl, der da auf dem Sofa liegt, ein Spinner. Lassen wir ihn in Ruhe. Aber was sehe ich da? Er steht auf. Und da steht er. Hier, vor Ihnen. Ich lasse Sienicht in Ruhe! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2012)

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