Mein Tipp: Hotel „Metal“

Geh nach Košice, Wanderer, solange es noch steht! In ein paar Jahren werden drei Viertel davon plattgewalzt sein. Europas Kulturhauptstadt 2013: ein Vademecum der anderen Art.

Trägt es dich nach Košice, Wanderer, so lege ich dir das Hotel „Metal“ ans Herz. Du schaust vom Hotel „Metal“ auf ein gewaltiges Stahlwerk, 14 Quadratkilometer, 12.000 Mitarbeiter, täglicher Kohleverbrauch 2000 Tonnen, jährliche Roheisenkapazität 4,5 Millionen Tonnen, eine eigene Breitspurbahn führt zu den ukrainischen Eisenminen von Krivoj Rog. Ich jedenfalls habe mich gut erholt im „Metal“. Du willst nicht im entlegensten Stadtteil von Košice absteigen, in einer nie vollendeten Eisenhüttenstadt, 15 Kilometer vom Zentrum? Hm, du hast das Zentrum noch nicht gesehen. Lass dir den Preis auf der Zunge zergehen: 11,79 Euro. Gewiss, das „Metal“ nimmt sich von außen düster aus, die Toiletten sind am Gang, und um das Handtuch von der Größe eines Geschirrtuchs hast du dich tagtäglich bei der Rezeptionistin zu bewerben. Nebenbei, frag die Rezeptionistinnen nichts! Die Hübschen wussten nicht einmal von der Konditorei gegenüber, in dem gelben neoklassizistischen Stalinbau mit Kolonnaden. Ja, der entlegene Košicer Stadtteil Šaca atmet spätstalinistische Mythologie. Aufbau und Paranoia der Fünfzigerjahre, der Judenhass des sterbenden Stalin, die Sonnenstadt der Träume, ein Schauprozess nach Moskauer Muster. Den jüdischen Generalsekretär „Slanský hat Stalin wegen Huko hinrichten lassen“, sagt der Bürgermeister. Wegen Huko, des ersten Projekts eines Hüttenkombinats auf der Wiese vor Košice.

Das ist lange her, es blieb nur ein Dutzend flacher Wohnbauten. Dein erster Eindruck wird ein anderer sein: Inzwischen machen Roma ein Drittel der 6000 Stadtteilbewohner aus.

Du setzt dich ans Fenster deines Zimmers im Hotel „Metal“. Die Sonne kommt heraus, die Kornfelder hinter dem Stahlwerk leuchten auf. Die Kornfelder schwingen sich zu dem grünen Höhenzug hinauf, der die Grenze zu Ungarn bildet. Du sitzt in der Dämmerung am Fenster, wenn auf 161 Schloten rote Lichtpunkte leuchten und wenn Rauchsäulen und Dampfgebilde aus den 161 Schloten in den nie ganz dunklen Himmel steigen. Auf dem geschwungenen Beton der Kühltürme, die visuell an Atommeiler erinnern, hocken bläulich weiße Wattebäusche, dicht und flauschig und scharf umrissen. Du meinst, du könntest dich auf diese Bäusche fläzen. Mach ruhig das Fenster auf, atme tief durch! Das Werk gehört „US Steel“, die Amerikaner haben den Rahm abgeschöpft und verkaufen das Werk weiter, Filter haben sie aber eingebaut. Rauch dir ruhig eine an, schenk dir eins ein, im „Metal“ kannst du den Herrgott einen guten Mann sein lassen. Du blickst auf ein dampfendes Gemälde.


Obwohl ich in der Slowakei lebe, war die zweite slowakische Großstadt immer nur ein Transitraum für mich. In zehn Jahren machte ich 20-mal halt und musste zusehen, wie sie das letzte Kaschauer Kaffeehaus zu Tode schändeten. Wie die Hauptstadt Bratislava war auch Košice eine multinationale Kleinstadt, aus der durch Gewalt und Massenzuzug eine slowakische Großstadt wurde. Auf die ungarisch-deutsch-jüdische Kulturträgerschicht folgte keine slowakische, der Beitrag der europäischen Kulturhauptstadt 2013 zur slowakischen Gegenwartskultur ist erschütternd unterproportional.

Als mich der Aufruf zu diesem Aufsatz ereilte, wollte ich daher einer anderen Neigung nachgeben – meinem Hang zur vorfabrizierten sozialistischen Behausung des Plattenbaus. Mehr als drei Viertel der Košicer Wohnungen befinden sich in Plattenbauten. Der Panelák ist das erste, das zweite und das dritte Gesicht der Stadt.

Die Plattenbauten reichen bis in das umliegende Bergland hinauf,gleich zwei Kränze von Plattenbausiedlungen umkreisen den Elisabethdom. Ich fuhr in die jüngste Siedlung, nach Ťahanovce. Seit man die Wohnblöcke mit Wärmedämmung versieht und neu bemalt, wird das Auge des Slowakeireisenden geprüft. Ich hatte schon viel gesehen. Drei stechende und sich schlagende Farben, in unförmigen Abstufungen aufgetragen – das hatte ich längst als Normalfall hingenommen. Ich war darauf eingestellt, dass Slowaken farbenblind sind. In ahanovce aber sah ich einen Wohnblock in zwölf Farben. Jede Stiege hatte ihre eigene Kombination aufgebracht; jeder Verstoß gegen jede je aufgestellte Farbenlehre war an diesem Haus ausgeführt.

Dann stieß ich auf aca. aca hat keine Plattenbauten, seine Expansion zum slowakischen Nowa Huta brach vor der Massen-Panelákisierung ab. Als ich das Hotel „Metal“ fand, gewann ich Košice zum ersten Mal ein bisschen lieb.


Ich behaupte nicht,aca sei im engeren Wortsinne schön. aca hat große Arbeiterwohnheime, eine Berufsschule für das Hüttenwesen, einen großen Knast und ein Krankenhaus, spezialisiert auf beim Stahlgießen anfallende Verletzungen. „Die Verbrannten“, prahlt eine Lokalpatriotin, „tragen sie aus der ganzen Slowakei herbei.“

Alle diese Gebäude sind hässlich. Am besten schauen noch die flachen Wohnblöcke aus der Stalinzeit aus, deswegen Murovačky genannt, weil sie noch richtig schön gemauert wurden, hochgemauert für die Ewigkeit. Du erkennst mit einem Wimpernschlag, in welchen Häusern die Zigeuner wohnen. Wenn du mich fragst, so finde ich nur die Murovačky der Zigeuner schön, mit ihren abgeblätterten Fassaden, mit ihren offenen Fenstern, mit ihren Satellitenschirmen, mit ihrer heraushängenden Wäsche. Du zuckst zusammen? Ästhetisiert hier einer Armut und Ausgrenzung des Volkes, das man im Slowakischen unanpassungsfähige Bürger oder einfach nur das Ethnikum nennt?

Du musst kein schlechtes Gewissen haben, ein Kommunitätszentrum kümmert sich um die Roma, finanziert von Sponsoren wie „US Steel“ und den Mormonen. Ich hatte einen guten Eindruck. Die Betreuerin war eine lustige Romni mit dem Herzen am rechten Fleck. Wunderhübsche Mädchen drängten sich um die angejahrten Rechner und tauschten sich in den Online-Netzwerken Facebook und Pokec aus. Seit das Kommunitätszentrum dieRomakinder auf dieSchule vorbereitet, müssen einige ihre Schulpflicht nicht mehr in der C-Gruppe fristen, derNulljahrgang im Nebengebäude konnte aufgelöst werden. Keine Frage, die Häuser der Zigeuner sind überfüllt und heruntergekommen, zwischen den Blöcken steht dauernd die Jugend herum, das Gras ist niedergetrampelt. Spaziere aber wenigstens einmal am Abend entlang! Du siehst in ihre schön ausgemalten Wohnungen hinein, siehst ihre gerahmten Bilder hängen, und wenn das heimelige Licht warmgelber Lampen aus einer karminrot gestrichenen Wohnung auf dich fällt, dann musst du schon aus Stein sein, wenn dir nicht warm wird ums Herz.


Falls du darauf bestehst, kannst du vom „Metal“ aus auch ins Zentrum fahren. aca ist vom öffentlichen Nahverkehr gut erschlossen. Bleibt die Frage, wozu du das Zentrum brauchst. Viel zauberhafter gestaltet sich dein Tag, wenn du aca erst gar nicht verlässt. aca wird Schatza ausgesprochen, damit kommen wir der Wahrheit schon nahe. Wenn du nicht schon ab sechs Uhr morgens beim Branntweiner „Venuša“ vorglühst, kannst du ab zehn dein Frühstück in der Konditorei „Añi“ nehmen. Bring unbedingt drei 20-Cent-Münzen mit, sonst spuckt Añis Maschine keinen Kaffee aus.

Der Tagesausklang nimmt sich zunächst als Problem aus. Der Jugendklub „Metal“ im „Metal“ wurde nach Tätlichkeiten geschlossen, und wenn du nicht gerade am 18. des Monats kommst, schlafen dir in den empfohlenen Lokalen die Füße ein. Am 18. wird die Notstandshilfe ausgezahlt. Glaube den Rezeptionistinnen bitte nichts!

Für den Abend habe ich dir doch etwas gefunden, gut versteckt, die Bar „Javorina“. Hinter dem Tresen hing ein Poster, das vier Bikini-Mädels zeigte, die lachend aus einem Feuerwehrschlauch spritzen. In der „Javorina“ setzte sich ein Besoffener zu mir. Seine Worte waren einerseits slowakisch, klangen aber aufgrund der Aussprache wie ein bizarres Polnisch. Er arbeitete als Geländefahrer des Stahlwerks und erklärte mir, dass die renovierten Murovačky von aca voll seien mit Kerlen aus den hungrigen Grenzwäldern zu Polen und zur Ukraine, voll von Rusinen, Rusnacken, Ruthenen. Am Tresen stand ein alter Zigeuner, er rauchte mit kiefermahlend hochgerecktem Kinn eine Zigarre. Ich fragte ihn: „Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?“

Mach so etwas besser nicht! Mir schwebte in diesem wacholderschnapshellen Moment eine Art interethnische Verständigung vor, zwischen zwei Landsleuten von der polnischen und ungarischen Grenze, zwischen Giraltovce und Buzice, zwischen einem irgendwo slowakischsprachigen Rusnacken und einem ungarischsprachig aufgewachsenen Zigeuner. Es kam nicht dazu. Der Rusnacke ließ dem Zigeuner den Rücken zugedreht, fixierte mich mit einem kopfschüttelnden Blick und verließ bald die Bar. Erst dann setzte sich der alte Zigeuner zu mir. Er schimpfte auf den Abgegangenen: „Der Ujo-Bácsi hat mich beleidigt!“ Ujo und Bácsi bedeutet dasselbe, Onkel auf Slowakisch und auf Ungarisch. „Wir sind Menschen und keine Tiere“, klagte der Beleidigte, „auch die Polizei hat mir aufs Maul gegeben. Wenn ich noch einmal 15 wäre – tsching, tschang!“ Er sprach von einem Ort namens Velka Ida. Dort gebe es Roma, die anders seien als seine Leute in den Stalinblöcken von aca. Sie sprächen nicht Ungarisch oder Slowakisch, sondern Romanes. „Die dröhnen sich mit Drogen zu, auch die Kinder, die Eltern erlauben das.“ Im Blick des alten Zigeuners lag Abscheu.


Du kannst im Wagen um das Stahlwerk fahren. Du fährst von aca nach Süden, zu deiner Linken der Zaun des Stahlwerks, zu deiner Rechten ein Sonnenblumenfeld. Auf das, was dich kurz danach erwartet, muss ich dich vorbereiten. Vielleicht hast du im Leben noch nichts Erschreckenderes gesehen. Eine Tafel markiert den Übergang von Košice-Stadt zum Landkreis Košice-Umgebung, du passierst den Beginn der slowakisch-ungarischen Sprachgrenze. Der Ort, der dich erwartet, ist sogar dreisprachig, Slowakisch-Ungarisch-Romanes. Du passierst eine dreisprachige Ortstafel.

Du fährst in Velka Ida ein. Auf einmal gewahrst du links und rechts der Straße eine unübersehbare Ballung von Chaos, Bewegung und Schmutz. Hütten, Verschläge, Leute; schwarze Köter und splitternackte Mädchen laufen auf schwarzem Dreck. Zwei Männer, einander eingehängt stützend, stieren dich mit einem debilen Grinsen an. Am Beginn des Slums ein einstöckiges Rußhaus – es könnte einmal ein Repräsentativbau gewesen sein –, der Balkon nun ohne Geländer, die zerschlagene Fensterfront ausgebrochen, alles hundertmal abgebrannt und verkohlt; und da lagern tätowierte, halb nackte Männer, und kein Glas, kein Möbel und kein Geländer stört ihren Ausblick auf die Welt. Und unten, zwischen den zugedröhnten Halbwüchsigen, den Kötern und dem Dreck, stolzieren Teenagerinnen wie auf dem Laufsteg, leichtfüßige Prinzessinnen in strahlendem Rosa und Weiß.


Du kannst auch andersrum um das Stahlwerk fahren. Der Weg ist schwer zu finden, wenig befahrene Betonwege führen über die stillen Reste von Huko an den Zaun des Stahlwerks heran. Dort kannst du bestaunen, was eine Tafel als „US-Steel“-Haldenbewirtschaftung bezeichnet und was ich den Bergkamm der Eisenhütte nenne. Diese Berge sind flach und wiesengrün, dann wieder werden sie aus kahlem, abweisendem, graubraunem Abraum gebildet; da wächst von selber nichts. Dazwischen eine steile Halde, aus der keinerlei Gras sprießt, doch ragen ansehnliche Büsche und Bäume aus dem schroffen Hang heraus. Du siehst Ortsgebiet vor dir und seitlich ein Tor, Deponie für gefährlichen Abfall. Wo du herauskommst, findest du dich bereits zurecht. Die zugedröhnten Zigeuner von Velka Ida wohnen direkt an der Halde.


Ich habe Glück. Einer der Erbauer des wahren Košice lebt noch, und er fährt mit mir in seine Plattenbausiedlung. „Die Helden von Dargov“, Baubeginn 1976, 34.000 Einwohner. Man könnte sich einen, der in Prag normierte Plattentypen wie T08B/ T06B zu einem Stadtteil montieren lässt, als Ungeheuer vorstellen. Alexander Bél, 79, ist das Gegenteil: Er ist vielsprachig, geistreich und kultiviert, ja er repräsentiert aufs Trefflichste die so bitter vermisste Kaschauer Kulturträgerschicht.

Bald fällt mir auf, wie schlecht sich Bél in seiner Siedlung auskennt. Schon bei der Suche nach einem Café fehlt ihm die Orientierung. Er wohnt in einer guten alten Murovačka im Zentrum. Die Farbschocks der wärmegedämmten Plattenbaufassaden hämmern auf mich ein, und ich platze mit der unerlässlichen Frage heraus: Was hält Bél von diesen Anstrichen? Sie seien „von niedrigem bildnerischem Niveau“, sagt er. Ich komme auf die Ästhetik der Zigeuner zu sprechen. Er: „Die lieben auch schreiende Farben.“ Ich: „Aber sie verstehen sie zu kombinieren.“ Er überlegt kurz. Und stimmt mir zu.

Nebenbei kündigt der Erbauer, ganz unaufgeregt, „ein großes Problem“ an. Die Platten bestünden im Inneren aus Eisen, der Sozialismus habe bei der Qualität gespart: „Nach der Korrosion haben wir ein großes Problem.“ Ich bin nicht sicher, ob ich ihn richtig verstehe. „Ja, die Plattenbauten haben eine Lebensdauer von 50 Jahren. Das Eisen in den Platten rostet. Das lässt sich nicht reparieren. Man kann diese Häuser nur wegschmeißen.“

Das ist eine Nachricht. Stell dir das einmal vor. In zehn Jahren, wenn viele ihre Wohnungskredite noch laufen haben, beginnt der Abriss von Košice. Was in 25 Jahren von Košice bleibt, das sind die Altstadt, die Villenviertel und die Nachbarschaft des Hotels „Metal“. 75 Prozent der Stadt werden plattgewalzt sein. Fahr nach Košice, Wanderer, solange es noch steht!


Es brach ein Wolkenbruch los, ein Öffnen aller Schleusen, wie es nicht alle Tage vorkommt. Ich saß gerade im Wagen und hatte nur einen Wunsch: Ich wollte sehen, was die Zigeuner an der himmelschreiend verrotteten Ortseinfahrt von Velka Ida im Platzregen machen. Ich fuhr ganz langsam in Velka Ida ein. Sie hatten schon einige Minuten zum Unterkriechen gehabt, dennoch rannten einige Kinder im Freien herum. Vom Rest des Slums sah ich fast nichts. Alles schwamm. Ich fuhr weiter, in den Ortsteil der Weißen. Der Schauer erreichte seinen Höhepunkt, die Straße rutschte unter mir weg. Schlagartig hörte der Regen auf. Ich fuhr wieder zu den Zigeunern.

Und was sah ich da? Keine Minute später, auf dem schwarz verschlammten Platz zwischen den Verschlägen, da tanzten Dutzende Kinder. Sie tanzten zu Techno, jedes auf seine Weise, alle streckten sie die Hände in die Höhe. Nur knapp über ihnen, vor dem blauschwarzen Himmel, senkte sich eine dieser großen wattigen Wolken aus den Kühltürmen zu ihnen herab. Die Wolke lag tiefer als die Halden von „US Steel“, sie berührte fast das Wellblech der Hütten. Sie hing weiß und flauschig über dem aufgewühlten Dreck. Als wäre sie gekommen, die Tanzenden aufzunehmen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2013)

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