Über den Wert alter Gehirne

Das Hirn und Ich
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Die modernen Neurowissenschaften lassen keinen Zweifel: Wir sind nicht mehr als unser Gehirn. Doch was bedeutet das für den demenzgefährdeten alten Menschen – und für die Neurochirurgie?

Iam my brain.“ „Ich bin mein Gehirn.“Dieser Satz des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel (in seinem Buch „The View from Nowhere“, „Der Blick von nirgendwo“, 1986) klingt heute für viele Philosophen und Hirnforscher keineswegs mehr paradox, sondern wird im Gegenteil als selbstverständlich vorausgesetzt. Nagel äußert seinen Standpunkt noch mit Vorbehalt: „And it is a possible hypothesis that I am my brain.“ Das bedeutet, wenn ich den Autor recht verstehe, dass er zumindest die Möglichkeit einräumt, als Person, die mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein begabt ist, mehr zu sein als das eigene Gehirn. Falls er jedoch – wovon er ausgeht – tatsächlich nicht mehr sein sollte als sein Gehirn, müsste sich dieser Umstand aus demonstrierbaren Tatsachen ableiten und daher als eine Hypothese, eine empirisch gestützte Vermutung, formulieren lassen. Anders gesagt: Die Frage, ob wir als Personen mit unserem Gehirn identisch sind oder nicht, wird folglich als ein Problem betrachtet, das im Rahmen der Wissenschaft zu lösen wäre.


Ich persönlich halte diese Auffassung der Identität von Gehirn und Person – der Frage, ob ich mein Gehirn bin – für verfehlt. Denn dabei handelt es sich nicht um eine einzelne Hypothese. Es steht vielmehr ein ganzes Menschenbild zur Diskussion. Es wird ja die Metaphysik des alten und neuen Humanismus grundsätzlich berührt und die Schwelle zu einer radikal anderen Sicht des Menschen überschritten. Bekanntlich galt über die Jahrtausende hinweg jenseits jeden vernünftigen Zweifels, dass der Mensch als Person wesentlich mehr sei als sein Körper. Demnach kann ich, Peter Strasser, zwar ohne meinen Körper nicht funktionieren, bin aber im Übrigen nicht auf meine körperlichen Funktionen reduzierbar. Der Grund: Ich bin ein geistiges, zur inneren Freiheit begabtes, mit einem Sinn für das Wahre, Gute und Schöne ausgestattetes Wesen.

Die Menschen früherer Epochen hatten eine Seele oder jedenfalls etwas Ähnliches, das geeignet schien, den immateriellen Geist zu repräsentieren. René Descartes sprach im 17. Jahrhundert noch von den zwei Substanzen, der res extensa, also dem raum-zeitlich Lokalisierbaren, Somatischen, am Menschen, und der res cogitans, die, ohne räumliche Ausdehnung, als das Ich des Menschen allen Akten des Denkens und Zweifelns zugrunde liegen sollte. Immerhin widersetzten sich bereits die Materialisten des 18. Jahrhunderts, oft Physiologen und Ärzte, der wirkmächtigen Zwei-Substanzen-Lehre. Ich erwähne nur den Radikalaufklärer Julien Offray de la Mettrie, der 1748 in seiner Kampfschrift „L'homme machine“, „Der Mensch – eine Maschine“, die Seele als das Ergebnis komplexer Körperaktivitäten bestimmt, was bedeutet, dass er, der Gottesleugner, eine eigenständige Existenz der res cogitans, der geistigen Substanz, ebenfalls leugnet.

Indes bleibt die Frage, was der Mensch als seelisches Wesen eigentlich sei, bis heute durch eine Art kultureller Schizophrenie charakterisiert. Einerseits zweifelt kaum jemand an den Ergebnissen der modernen Hirnforschung, die überwältigende Befunde dafür zu liefern scheint, dass alle unsere psychischen Phänomene – bis hin zur Ichzentriertheit unseres Erlebens und Tuns – ihre Ursachen im Gehirn haben. Sie werden demnach vom Gehirn nicht nur prozessiert, sondern produziert. Andererseits gibt es zurzeit eine Renaissance religiösen Denkens, welches ohne die Annahme, dass wir als Personen unser Gehirn„übersteigen“, also unser Körperliches transzendieren – ob man das Körpertranszendente nun „Seele“, „Geist“ oder sonst wie nennt –, keinerlei Sinn ergäbe. Unsere Gegenwart ist, zumal in den hoch säkularisierten Gesellschaften, wieder hungrig nach Spiritualität: einer Perspektive, die über das Materielle substanziell hinausgeht.


Unabhängig davon teilen wir
bis auf Weiteres ungebrochen eine Alltagsmetaphysik, die uns bereits mit dem Spracherwerb antrainiert wird. Ihr gemäß haben wir ein Gehirn etwa in der Art, wie wir ein Herz haben. Und so wenig wir unser Herz sind, so wenig sind wir unser Gehirn. Wenn man mich fragt, ob ich mein Gehirn bin, werde ich intuitiv – und ein wenig mit Worten spielend – antworten: „Nein, ich habe ein Gehirn, bin aber keines, nicht einmal mein eigenes.“ Daraus folgt logischerweise, dass ich, als die Person, die ich bin, wesentlich mehr sein muss als die Summe meiner Körperteile. Eine Person zu sein ist demnach – im philosophischen Jargon gesprochen – eine emergente Eigenschaft.

Obwohl wir also sprachlich nach wie vor auf diese Sicht – die Emergenz der Person – festgelegt sind, lässt uns die Entwicklung der Neurowissenschaften im Grunde keine Wahl. Zwar bleibt vollkommen rätselhaft, auf welche Weise unser Gehirn, dessen somatische Funktionsbasis ausschließlich in Begriffen der Physik und Chemie beschreibbar ist, unsere Gefühle, Erfahrungen und Denkweisen „hervorzubringen“ vermag. Doch ändert das nichts an folgender Arbeitshypothese: Es ist nichts in unserem Bewusstsein, was nicht vorher in unserem Gehirn war.

Das gilt natürlich auch für alle Reize aus der sogenannten Außenwelt, die bekanntlich erst neurochemisch „codiert“, also – wie man oft hört – in die „Sprache des Gehirns“ übersetzt werden müssen, bevor sie uns überhaupt bewusst werden können. Und seit den Experimenten des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet, die seit den 1980er-Jahren vielfach wiederholt und variiert wurden, gilt als gesichert, dass unserem zwingenden Gefühl, wir würden uns für eine Sache frei entscheiden, in unserem Gehirn stets eine entsprechende Weichenstellung vorausgeht. Salopp formuliert: Für uns wurde immer schon entschieden, und zwar zerebral. Die Freiheit des Willens ist demnach eine evolutionär herausgebildete, in unseren Genen verankerte Illusion; wir sind aus Gründen des Überlebens neuronal verdrahtet,„hardwired“, um der Illusion zu erliegen, wir hätten uns auch anders entscheiden, auch anders handeln können.

Es ist daher keine besonders gewagte Prognose, wenn man behauptet, dass wir uns an folgendes pragmatische Paradox gewöhnen werden: Während wir in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie der Moral, dem Recht, von der Religion ganz zu schweigen, am Emergenz-Konzept der Person festhalten („Ich bin mehr als mein Gehirn“), tritt in anderen Bereichen, namentlich dem der Hochleistungsmedizin, ein damit unvereinbares Konzept gebieterisch auf den Plan: der zerebrale Fundamentalismus. Ihm zufolge ist alles Geistige, Psychische, Sinnliche seinem Wesen nach ein „Produkt“ unserer Neuronen, die ja in ihrem Zusammenspiel einen Kosmos für sich bilden.


Doch wäre dies weiter schlimm? Hat die Wissenschaft nicht immer wieder unsere eingeschliffene Alltagssicht der Dinge erfolgreich umgestürzt? Haben wir uns etwa nicht daran gewöhnt, dass es physikalische Entitäten gibt, beispielsweise Photonen, die komplementäre Eigenschaften haben, indem sie sich ein Mal als Partikel, ein anderes Mal als Welle verhalten? Gewiss, trotzdem besteht meines Erachtens ein gravierender Unterschied. Wir sagen, dass die Komplementarität der Eigenschaften zur Doppelnatur des Lichts gehört. Hingegen lässt sich Analoges von Personen nicht sagen. Was diese betrifft, so ist der wissenschaftliche Gesichtspunkt letzten Endes, ob offen deklariert oder begrifflich verschleiert, reduktionistisch. Demgemäß habe ich, Peter Strasser, keine psychophysische Doppelnatur. In all meinen personalen Eigenschaften, wie intim oder geistig sie auch sein mögen, bin ich – der reduktionistischen These entsprechend – zurückführbar auf mein Gehirn, und es lässt sich auch gar kein mögliches Experiment denken, welches das Gegenteil beweisen könnte. Beweisbar wäre immer nur, dass sich der Entstehungsort eines psychischen Merkmals bisher im Gehirn noch nicht hat finden lassen.

Die „Emergenz der Person“ ist also überhaupt kein wissenschaftlich darstellbares Phänomen! Dieses Phänomen verkörpert stattdessen einen empirisch transzendenten und daher metaphysisch geprägten Sachverhalt. Und folglich ist auch Thomas Nagels Aussage, er glaube daran, dass er sein Gehirn sei, keine gewöhnliche Hypothese. Denn streng genommen handelt es sich um überhaupt keine Hypothese. Die Aussage „Ich bin mein Gehirn“ bildet vielmehr den Teil einer Weltsicht, die unsere Wissenschaftskultur fundiert. Es handelt sich dabei um den sogenannten Naturalismus, der nichts gelten lässt, was sich der naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit entzieht, ob es sich dabei um Gott, die Seele, das menschliche Ich oder die Freiheit des Willens handelt. Und nun ist offenkundig, dass die naturalistische Sicht der Dinge, einschließlich des Menschen, mittlerweile auch die Hirnforschung weitgehend beherrscht.

Was haben derlei Überlegungen mit dem Alter – mit dem „Wert alter Gehirne“ – zu tun? Ich will meine Antwort in einige – wie ich denke – Hauptpunkte gliedern.

Erstens: Es steht außer Frage, dass in unseren Gesellschaften, die durch Wohlstand und Bildung charakterisiert sind, ein sich beschleunigender Prozess der Überalterung stattfindet. Dieser Befund, welcher noch immer einen negativen Beiklang hat, wird mit der zunehmenden Anzahl von Personen, die ein immer höheres Alter erreichen, als die Herausforderung des 21. Jahrhunderts an die Medizin herantreten. Die Forderung lautet, den alten Menschen zu befähigen, so lange wie möglich eine Person im Normalsinn des Wortes zu sein, ausgestattet mit den dafür erforderlichen psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten. Wenn weiterhin wahr sein soll, wovon das moderne Recht und die ihm zugrunde liegende Ethik ausgehen – nämlich davon, dass die Würde des Menschen absolut und unantastbar ist –, ergibt sich daraus unter anderem, dass der Wert der Person nicht am Alter festgemacht werden darf. Ich,Peter Strasser, bin, bloß weil ich mein 60. Lebensjahr bereits überschritten habe, nicht weniger wert als ein 30-Jähriger.

Zweitens: Was gehört zu meiner Würde? Der Begriff ist notorisch vage und daher angreifbar. Doch er lässt sich präzisieren. Und ich denke, unsere Kultur geht davon aus, dass der Wesenskern menschlicher Würde unter anderem darin besteht, als Person möglichst unbeschädigt existieren zu können (woraus selbstverständlich nicht folgt, dass mit dem teilweisen oder ganzen Verlust typisch personaler Fähigkeiten ein vollständiger Verlust der menschlichen Würde einträte). Jedenfalls sind unsere Institutionen, einschließlich der Medizin, dazu angehalten, auf die Förderung und Erhaltung jener Eigenschaften zu achten, welche im Durchschnitt eine unbeschädigte Person ausmachen. Es besteht somit eine allgemeine und öffentliche Verpflichtung, meine personale Würde nicht zu vernachlässigen oder zu verletzen.

Drittens: Das Gehirn war bereits früher, mit zunehmender Erkenntnis seiner Funktionen, als Leitorgan erkannt und anerkannt worden. Doch heute sind die zerebralen Grundlagen der Person selbst in eine vordem unbekannte Statusposition eingerückt. Wenn im Großen und Ganzen gilt: „Ich bin mein Gehirn“, hat dies, könnte man plakativ sagen, eine sich existenziell verschärfende Bedeutung, je älter der Mensch wird. Der Wert alter Gehirne – so ließe sich argumentieren (und so wird argumentiert) – ist nach wie vor nicht unabhängig von der Lebenserwartung, von Demenzsymptomen, dem Risiko eines chirurgischen Eingriffs et cetera. Es tritt nun jedoch hinzu, dass fortan die Person maßgeblich durch ihr Gehirn repräsentiert wird. Das bedeutet, dass sich der Wert der Person zusehends aus der unbeschädigten Funktionsweise des Gehirns – statt aus einer das Gehirn transzendierenden Substanz, ob Seele, Geist oder Psyche – ableitet.

Viertens: Vor dem Hintergrund des Postulats, wonach ich, als Person, mein Gehirn bin, erwächst speziell der Neurochirurgie eine zunehmend komplexe Verpflichtung ethischer Natur. Unabhängig von meinem Alter ist alles medizinisch Mögliche zu unternehmen, damit ich imstande bin, mein Leben als Person möglichst unbeeinträchtigt bis zum Ende zu leben. Abwägungen zugunsten jüngerer Menschen, in Richtung größerer Leistungsfähigkeit und längerer Lebenserwartung,müssen folgerecht in den Hintergrund treten, ja weitgehend ausgeblendet werden. Denn sie erscheinen angesichts des Prinzips der personalen Würde als unzulässig.Warum? Weil die Fragedes Überdauerns der Person in keine geistige Überwelt jenseits des Gehirns ausgelagert, geschweige denn ins religiöse Jenseits verschoben und dort gleichsam ethisch abgelagert werden kann. Man darf sich angesichts des zerebralen Fundamentalismus nicht mehr darauf stützen, dass das essenzielle Wohl und Wehe einer Person letztlich von ihrer seelischen Verfassung abhängt; nein, es hängt ganz und gar an hirngesteuerten Funktionen.


So erscheint unser moralisches Urteil
eingebettet in das wissenschaftlich favorisierte Weltbild des Naturalismus. Was den Wert alter Gehirne betrifft, ist das sachliche Fundament in der vorausgesetzten Identität von Person und Gehirn zu suchen. Sie ist es, die dem ethischen Begriff der personalen Würde eine zerebrale Deutung gibt. Wir werden in Zukunft Fragen der Würde zusehends im Rahmen einer Ethik diskutieren, für die mir der Ausdruck „Cerebromoral“, obwohl wenig schön, dennoch treffend scheint.

Zum Abschluss möchte ich freilich nicht verschweigen, dass ich – wie andere auch – einer Entwicklung, die von cerebromoralischen Argumenten bestimmt wird, zutiefst zwiespältig und darüber hinaus ratlos gegenüberstehe. Es ist wahr: Die Vorstellung eines personalen Geistes, der über das Körperliche hinausreicht, weil er im Seelischen seinen Ursprung hat, wirkt angesichts der Hirnforschung zunehmend anachronistisch. Einer solchen, „verschleppt religiösen“, Vorstellung fehlt es mehr und mehr an Glaubwürdigkeit.

Trotzdem: Ohne die Bedeutsamkeit der Cerebromoral für den Wert alter Gehirne – und damit alter Menschen – leugnen zu wollen, halte ich folgende Behauptung für unzweifelhaft wahr: Ich bin nicht mein Gehirn! Denn wäre ich der fixen Überzeugung, dass ich nicht bloß ein Gehirn habe, sondern eines bin (nämlich jenes, das unter meiner Schädeldecke hoffentlich seine Arbeit verrichtet), dann würde mit mir etwas nicht stimmen. Ich hätte den Verstand verloren. Würde ich mich also allen Ernstes für mein Gehirn halten, täte ich gut daran, schleunigst ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen – es müsste hoffentlich nicht gleich ein chirurgischer Eingriff sein. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2013)

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