Was wiegt die Welt?

Wir messen, was nicht zu messen ist, fassen in Zahlen, was sich nicht in Zahlen fassen lässt: Lange her, die Zeit, in der Zahlen noch differenzierte Weltbetrachtung verhießen. Über Politbarometer, ECTS-Punkte, Umwegrentabilitätsstudien und andere Kleinigkeiten.

Barack Obama und Sebastian Kurz: Viele Gemeinsamkeiten dürften die beiden nicht haben. Dennoch, sowohl der Präsident der Vereinigten Staaten als auchder jüngste Staatssekretär in der österreichischen Bundesregierung, beide gingen einst mit einem einhelligen medialen Urteil – wenn auch mit entgegengesetzten Vorzeichen – ins politische Rennen. Der eine als neuer Messias, als Weltenretter, der mit dem Friedensnobelpreis bekränzt die Bush-Jahre auf den Komposthaufen der Geschichte kippt. Der andere als überforderter Jungspund, als belächelter Parteiaufsteiger, der noch nicht grün hinter den Ohren ist. Die veröffentlichte Meinung war sich in beiden Fällen erstaunlich einig. Differenzierungen musste man mit der sprichwörtlichen Lupe suchen. Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass Obama gar nicht so viel später als gescheiterter Held gehandelt wurde, während Sebastian Kurz als Integrationsstaatssekretär mittlerweile selbst schärfste Kritiker mit einer überraschend guten Performance verstummen ließ.

Held oder Depp, Skandal oder Wunder, schwarz oder weiß – jeder wird in ein binäres Schlagzeilenraster gepresst, Grautöne scheinen abgeschafft. Das neue mediale Maß ist digital, alles unterliegt einem binären Code: gut oder böse, ja oder nein, null oder eins. Die digitale Information, die Basis der modernen Informationstechnologiescheint sich auf unser Denken auszuweiten. Sie kommt unserem Bedürfnis nach Eindeutigkeit in einer vieldeutigen Welt entgegen. Die Welt, zerlegt in Bits. Obama gut, Kurz böse, Obama böse, Kurz gut, Banken böse, Markt gut, Banken gut, Markt böse und so weiter.

Wenn man die Welt aber genauer betrachten will, dann ergeht es einem wie der Hauptfigur in Michelangelo Antonionis Film „Blow up“. Beim Entwickeln eines Fotos entdeckt ein Fotograf Hinweise auf einen Mord, die er unwissentlich in einem Park fotografiert hat. Durch Vergrößern der Abzüge will er dem Mörder auf die Spur kommen, doch je stärker er vergrößert, desto mehr verliert sich das Bild des Mörders in einer Ansammlung von schwarzen und weißen Punkten auf dem Fotopapier. Je näher wir die veröffentlichte Welt um uns betrachten, desto weniger verstehen wir sie. Der Schritt zurück, um die Punktesammlung wieder zum Bild werden zu lassen, dieser Schritt ist nicht die Stärke unserer schönen, neuen Medienwelt. Alles zerfällt in kleine binäre Urteile, in kleine binäre Info-Happen, in kleine binäre Entscheidungen. Die Welt als Gesamtphänomen zerrinnt uns zwischen Nullen und Einsern.

Obama und Kurz werden auch noch analog gemessen: mit Beliebtheitswerten, in Politbarometern und anderen Rankings. Nicht nur Politiker werden für die staunende Öffentlichkeit in Werteraster gezwängt. Der schönste Politiker, das beste Krankenhaus, die beste Schule Österreichs. Die Zahlen fliegen tief, sie verschonen nichts und niemanden, um dem Publikum zu einer vermeintlichen Orientierung zu verhelfen. Schöner, größer, besser – da sind sie, die Zwischentöne, die stufenlose Werte zwischenMinimum und Maximum. Augenarzt X um 0,5 Punkte vor Augenarzt Y. Absurde Quantifizierungen, vermeintlich Berechenbares, vorgetäuschte Genauigkeit. Präsentiert wird eine aberwitzige Exaktheit, die weder der Realität noch einer vernünftigen mathematischen Approximation entspricht. Deutlicher gesagt: Schwachsinnig vermessener Schwachsinn. Freilich,derartiger Schwachsinnkann auch sinnstiftend wirken, denn alles, was quantifiziert ist, ist auch kapitalisierbar. Sag mir,welchen Platz du auf der Skala einnimmst, undich sage dir, wie viel du wert bist. So könnenRankings bares Geldbringen. Die Aufmerksamkeit, die als neue Währung in unserer Mediengesellschaft gilt, kann auf diese Weise durch Quantifizierung scheinbar objektiviert und damit verwertbar gemacht werden.

Die Vermessung der Welt hat sich längst von der erkenntnisgetriebenen Humboldtschen Neugier einem neuen Zweck zugewandt: Vermessung zum Geldverdienen. Die Anwendung falscher Skalen, falscher Maßstäbe soll diesem Zweck nicht im Wege stehen.

Ein weiteres Beispiel für das Vordringen fragwürdiger Maßstäbe in alle Ritzen und Ecken unserer Gesellschaft. Eine Szene beim Reifenhändler. Mit routinierten Handgriffen hat der Monteur die Sommerreifen Ihres Autos abmontiert und die neuen Winterreifen befestigt. Nach etwa zehn Minuten Arbeit fragt Sie der Händler nach ihrem Umsatz, den Sie als Selbstständiger erwirtschaften. Daraus errechnet er 2,5 Prozent, macht beispielsweise 2500 Euro, und weil sie Stammkunde sind, reduziert er die Rechnung für das Umstecken der Reifen schließlich auf kulante 2000 Euro. Natürlich würden sie diese Rechnung empört zurückweisen. Sie wollen nur die erbrachte Leistung bezahlen, also Arbeitszeit, Materialkosten, anteilige Personalkosten, Miete für die Werkstatt und allfällige Steuern. Macht möglicherweise 100 Euro, aber nie und nimmer 2000. Aber die Argumentation des Reifenhändlers, seine Dienstleistung ermögliche eben zu einem gewissen Anteil das Erwirtschaften ihres Umsatzes, weil sie ihren Wagen ja beruflich nutzen, diese Argumentation ist von der wirtschaftlichen Praxis nicht weit entfernt, auch wenn sie immer mehr Menschen obszön finden.

Die prozentuelle Entlohnung von Dienstleistungen ist in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Bereichen üblich geworden und hat – im wahrsten Sinne des Wortes – neue Maßstäbe gesetzt. Aber worin liegt die Logik, eine Dienstleistung am Wert des Objekts zu berechnen und nicht am Wert der eigentlichen Tätigkeit, also am Zeitaufwand, Wissenstransfer, Materialeinsatz, Personalkosten und Steuern? Warum bekommt ein Makler für die Vermittlung einer teuren Wohnung mehr als für die Vermittlung einer billigeren Wohnung, selbst wenn der tatsächliche Aufwand gleich groß ist? Was macht die Aufsetzung eines Kaufvertrages teurer, wenn das Objekt 100 Millionen Euro kostet statt nur zehn Millionen? Warum wird eine Tätigkeit höher entlohnt, wenn durchdiese Tätigkeit eine größere Geldmenge bewegt wird? Leistungsgerechtigkeit sieht anders aus, die Frage „Wos war mei Leistung?“ bekommt dabei einen tieferen Sinn.

Entlohnung auf Prozentbasis ist ein falscher Maßstab, der für beträchtliche Asymmetrien bei Honoraren, Löhnen,Gehältern sorgt und damit direkt in die Obszönität der ausufernden Bonuszahlungen führt. Vor allem, wenn Umsatz oder Auftragssumme als Basis der Prozentberechung herangezogen werden, denn dabei entfällt eine etwaige prozentuelle Beteiligung am Misserfolg. Mit anderen Worten: Die oben beschriebene Entlohnungspraxis lässt die Gewinnskala nach oben offen, während das Verlustrisiko ausgeschlossen wird. Anteil am Erfolg, ohne das Risiko mittragen zu müssen. Das kommt Ihnen bekannt vor? Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren – das Erfolgsrezept skrupelloser Landvermesser in der Welt der unbegrenzten Finanzmöglichkeiten.

Dass diese Provisionitis im Finanzdienstleistungssektor auch dazu führte, dass sich die Beratung immer weniger an den Bedürfnissen der Kunden, aber dafür immer mehr an der Steigerung der Provisionseinkünfte der Finanzdienstleister orientiert, sei nur nebenbei erwähnt und kann mit Sicherheit bei diversen Prozessen, die geprellte oder irregeleitete Anleger angestrengt haben, eingehend studiert werden. Falsche Maßstäbe zum Vorteil der Mächtigen, zum Vorteil der Schlauen, zum Vorteil der Insider, zum Vorteil der Freunde?

Auch der sogenannte Bologna-Prozess hat den Universitäten eigenartige Bewertungsmaßstäbe beschert. Die Messung der Studienleistung in ECTS-Punkten solltedie Transfermöglichkeiten bei Universitätsstudien erhöhen – in der Praxis stellt sich das neue Punktesystem als Mobilitätshindernis heraus, weil zwar das Punktesystem europaweit dasselbe ist, aber die Modulinhalte verschieden bewertet und nur schleppend angerechnet werden. Auch hier haben wir es mit einer scheinbar objektiven Skala zu tun, die der Realität aber kaum gerecht wird.

Fragwürdig erscheint auch die Bewertung von Wissenschaftlern durch deren Publikationshäufigkeit. Jedem vernünftigen Menschen müsste doch klar sein, dass Häufigkeit in erster Linie die Häufigkeit misst und nicht zwangsläufig die Qualität. Rankings, die auf der Zahl der Veröffentlichungen beruhen, spielen aber eine wichtige Rolle bei der Vergabe von Professuren und bei der Zuteilung von Forschungsgeldern. Ähnlich die Problematik beim PageRank-Algorithmus von Google, bei demdie Anzahl der Links als Ausgangspunkt fürdie Reihung der Treffer nach ihrer Bedeutung dient. Ein weiterer fragwürdiger Versuch, Wissen oder Qualität der Information zu messen.

Nicht zu vergessen der oft praktizierte Zahlenmissbrauch bei Studien zur sogenannten Umwegrentabilität. Kaum eine öffentliche Investition, kaum eine öffentlich finanzierte Großveranstaltung, die nicht mit einer Umwegrentabilitätsstudie nachträglich legitimiert wird. Oft enthalten diese Studien haarsträubende Zahlenfriedhöfe, die weder Transparenz noch Schlüssigkeit aufweisen. Da kann es schon vorkommen, dass für die Berechnung von zusätzlichem Umsatz einer Region – verursacht durch die Besucher einer Sportveranstaltung – selbst die zusätzliche Menge an Senf beim Würstelverkauf ins Kalkül gezogen wird.

Lange her, die Zeit, in der die Zahlen noch differenzierte Weltbetrachtung und Harmonie verhießen. Die Pythagoreer im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung legten mit ihrem Weltbild den Grundstein für einen Rationalisierungsschub, der vor allem ab der Neuzeit wirksam wurde. Die Zahl als zentrales Element der Naturbetrachtung emanzipierte den Menschen vom Mythos, machte den menschlichen Verstand dem göttlichen ebenbürtig. Auch für Gott ist eins plus eins gleich zwei, wir haben es ihm vorgerechnet. Eine Emanzipation, die später Galileo Galilei beinahe zum tödlichen Verhängnis wurde. „Messen, was messbar ist, und messbar machen, was nicht messbar ist“, noch nie wurde Galileo Galilei so missverstanden wie heute. Der Siegeszug der zahlenbasierten Rationalitätund der Quantifizierung der Welt pervertiert zur Kapitalisierung mit allen Mitteln. Die pythagoreische Befreiung von Gott, mündet nun in eine Unterwerfung unter den Götzen Profit.

Mediale Schwarz-Weiß-Malerei, nichtssagende Rankings, ungerechte Provisionitis, fragwürdige ECTS-Punkte für die „Bildung bolognese“, Wohlstandsmessung anhand des Bruttoinlandsproduktes – überall krumme Stäbe an gerade Linien. Wir sollten die Vermessung der Welt endlich mit den richtigen Maßstäben in Angriff nehmen. Wir müssen über das rechte Maß aller Dinge noch einmal gründlich nachdenken. Alles andere, denke ich, wäre wohl vermessen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2013)

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