Was ist, muss nicht so bleiben

„Geistiger Diebstahl“? Das war einmal. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der jeder, der den Eigentumstitel der Urheber auch nur sanft erwähnt, als vorgestrig denunziert wird.Das Urheberrecht: am Anfang seines Endes?

Die nachfolgende kleine Zumutung hat mir durchaus Kopfzerbrechen bereitet. Wie anfangen? Wo aufhören? – Keiner wollte mir einflüstern, und ich saß ganz allein da. Und im Zuge dieserÜberlegungen habe ich dann abends meine Brust von aller schwer bewaffneten Hoffnung auf ein Fertigwerden evakuiert, und mir ist durch den Kopf geschossen, was der leider zu früh verstorbene Peter Rühmkorf einmal dichtete: „Zeitig zu Bett, um morgen mit frischem Mut zu verzweifeln.“

Da steh ich nun und darf Sie mit der daraus erwachsenden Misere konfrontieren... und also werfe ich mich auf das Nächstliegende und will Sie gleich einleitend ordentlich plagen: Die gerade eben dem Dichter Rühmkorf zugeschriebene Gedichtzeile habe ich aus dem Gedächtnis genommen. Mir war entfallen, an welcher Stelle diese Zeile stand – von Rühmkorf, dessen war ich mir sicher, war sie gewiss! Was tun? – Ich konnte entweder darauf verzichten, Ihnen diese Zeile vorzustellen (das wollte ich nicht, wo sie mir doch schon in den Kopf gestiegen war), oder ich konnte mich auf die Suche machen...

Die heute gängigste Suchvariante –Google – war nicht besonders ergebnisreich; mit den Suchbegriffen „zeitig zu Bett“ und „Rühmkorf“ stieß ich zwar auf ein kurzweiliges Interview mit Rühmkorf, aber das machte mich nicht klüger. Es blieb mir nicht erspart: Ich musste meine Rühmkorf-Bände durchforsten. Dann aber, und zwar durch Einsicht in: Peter Rühmkorf, Gedichte. Werke 1 (Reinbek: Rowohlt Verlag 2000, S. 173), wurde ich fündig: Die Zeile stammt aus dem Gedicht „Urenkels Ode“ und ist original zunächst erschienen in Rühmkorfs „Kunststücken. Fünfzig Gedichte nebst einer Anleitung zum Widerspruch“ (Reinbek: Rowohlt Verlag 1962, S. 13). Und richtig heißt es dort in der zweiten Strophe: „Ich, aber ich, (...) / evakuiere die Brust von allerHoffnung und meine an Trostes Statt: / Zeitig zu Bett, / um unter neuen Gestirnen, / morgen mit frischem Mut zu verzweifeln.“ Meine Erinnerung also war nichtganz richtig! Ich hatte zu wenig als fremdes Werk durch Gänsefüßchen ausgewiesen (Plagiat!), ich hatte Rühmkorfs Werk geändert (bearbeitet und dadurch gar entstellt) – und wollte dies nun gar ohne seine Zustimmung nutzen (§ 14 Abs. 2 UrhG)! – Und noch strenger gefragt: Muss sich Rühmkorf (oder genauer: dessen Rechtsnachfolger, weil der gute Mann ist ja schon tot!) eigentlich diese eben erfolgte Kürzung seines Gedichtes „nach den im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuchen“ (§ 21 Abs. 1 UrhG, auf den § 57 Abs. 1 UrhG verweist) gefallen lassen?

Wurde nicht durch die Kürzung des Gedichts und durch die Auslassung in der zweiten Strophe „Sinn und Wesen des benutzten Werkes“ (§ 57 Abs. 1 UrhG) möglicherweise von mir „entstellt“? Immerhin geht's doch in „Urenkels Ode“ um die Weltrevolution, während ich bloß überarbeitet war, als mir seine Zeile einfiel, und mir also hier die lyrische Wortwendung in einem ganz und gar anderen Kontext hochstiege und nun auch noch dazu missbraucht wird, bei Ihnen Stimmung aufkommen zu lassen.

Fragen über Fragen – und wir sind mittendrin im Thema. Zwar darf ich Sie gleich beruhigen: Es wird so schlimm nicht werden mit dem Juristischen. Dennoch wird's ganz ohne Recht nicht abgehen können. Begleiten Sie mich deshalb auf einen reichlich ruppigen Galoppritt durch die Geschichte des Urheberrechts. Es liegt im Wesen einer derartigen Gangart, dass wir Feinheiten übersehen werden und unsere Konzentration ganz auf das Erreichen des Ziels, nämlich die heutige Lage des Urheberrechts, ausrichten.

Am Anfang war das Wort, heißt es in der Bibel. Aber das Wort war nicht geschützt. Was zunächst gesagt, viel später erst geschrieben wurde, das wurde erzählt und später abgeschrieben. Das Abschreiben und damit also das Vervielfältigen, seit dem Mittelalter wohl die größte Erkenntnisquelle der westlichen Zivilisation, geschah entlang religiöser, politischer und wirtschaftlicher Motive – einmal war es die richtige Lehre, die gehöriger Verbreitung bedurfte, ein andermal waren es absehbare Gewinnchancen, die realisiert werden sollten.

Die Autoren hatten nichts mitzureden, sie waren entweder tot, oder wenn sie noch lebten, ließen sie mit sich und ihren Werken geschehen, was andere wollten. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts nahmen einige Geister den Mund voll und sprachen von der „verdammten Nachdruckerei“ – übrigens oftmals auf Wien bezogen, wo begnadete Nachdrucker saßen. Die Politik hatte ein Einsehen und machte eine Privilegienwirtschaft aus der Sache, sie erteilte „Nachdruck-Privilegien“, auf dass nicht mehr ein jeder verdienen konnte, was ihm ein bisschenUmsicht und eine funktionierende Druckmaschine sonst erlaubt hätte.

Es brauchte fast ein Jahrhundert, um aus den Nachdruck-Privilegien ein Urheberrecht in unserem heutigen Sinne zu machen. Der entscheidende Anstoß kam freilich nicht von vorlauten Schriftstellern und emsigen Verlegern, er kam – wenn wir einmal vom Prinzip ausgehen – von der Französischen Revolution, die gegen feudale Privilegien den marktbezogenen Eigentumsbürger in sein Recht setzte – und alles Urheberrecht ist droit moral, also das aus der Person des Autors selbst erfließende Recht, mit sich und dem seinen, und also auch mit seinen Gedanken ein Geschäft machen zu dürfen, soweit sich ein derartiges Geschäft auf ihn als Schöpfer seiner Werke gründet. Mit der dem Anlass gemäßen Übertreibung darf ich Ihnen also das Urheberrecht als jenes Institut der rechtsstaatlichen Ordnung zur Kenntnis bringen, das es dem Einzelnen erlaubt, mit sich und seinen Gedanken am Marktplatz hausieren zu gehen.

Das wäre alles nicht weiter berichtenswert,wenn sich hinter diesem Vorgang nicht eine Eigentümlichkeit verbergen würde, die den Schriftsteller, die Urheberin und den Urheber, vom bäurischen Marktgänger unterscheiden würde. Der Witz eines jeden Immaterialgutes besteht nämlich darin, dass es per se fugitiv ist. Während wir bei Karotten und Fenchel im redlichen Verkehr ganz gut abschätzen können, wem sie gehören (nämlich regelmäßig demjenigen, der sie gerade hat, und daher ist in unserer Rechtsordnung auch privilegiert, wer schon hat: beatus possesis), lässt uns unsere sinnliche Wahrnehmung bei Werken der Literatur oder der Musik ganz im Stich, wenn wir beurteilen sollen, wem die Sache gehört: Wer ein Lied singt, muss nicht das Aufführungsrecht haben, wer ein Gedicht spricht, muss nicht das Vortragsrecht haben, wer ein Buch druckt, muss nichtdas Vervielfältigungsrecht haben.

Aus diesem Umstand ergeben sich einige Probleme. Fast alle konnte man knapp eineinhalb Jahrhunderte lang durch die Einführung eines Ausschließungsrechtes lösen. Dem Urheber allein sollte das Recht zustehen, Art und Umfang der Nutzung seines Werkes zu bestimmen, jeder Nutzer sollte im Konflikt beweisen müssen, ob er sich der Zustimmung des Urhebers zur konkreten Nutzungshandlung versichert hatte – und wenn nicht, dann wurde er zivil- und strafrechtlich verfolgt.

Das ging so lange ganz gut, als man sich zunächst als Urheber oder später als Rechte wahrnehmende Verwertungsgesellschaft halbwegs einen Überblick verschaffen konnte, wer welche Nutzungshandlungensetzt. Abgesehen von einigen Schranken des Urheberrechts im öffentlichen Interesse blieb das Ausschließungsrecht der Urheber intakt – und wer sich durch Lektüre des Urheberrechtsgesetzes über unsere Realität informieren wollte, dem drängt sich der Gedanke auf, dass es sich bei den Werkschöpfern um eine akkurat geschützte Monopolistengruppe handelt, die geizig und gierig ihre Rechte wahren würde.

Indes, sie alle wissen, dass das schon seit geraumer Zeit nicht mehr so ist: „Geistiger Diebstahl“ ist kein Einzelfall mehr, vielmehr scheint es so zu sein, dass jeder, der den Eigentumstitel der Urheberinnen und Urheber sanft erwähnt, es sich gefallen lassen muss, als vorgestrig denunziert zu werden. Ich darf sie an die großen File-sharing-Debatten erinnern, ich erinnere an den spektakulären Google-Prozess in den USA, und ich weise auf die aktuellen Debatten hin, wo erst unlängst der sogenannte „Heidelberger Appell“ versuchte, die universitäre Verabschiedung des Urheberrechts ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Das Urheberrecht steht unter Druck, und es ist durchaus als Zeichen der Zeit zu werten, wenn Bücher erscheinen, die den Titel „Against Intellectual Monopoly“ (Boldrin/Levine 2008), „Copyright's Paradox“ (Weinstock Netanel 2008) oder jüngst „No Copyright“ (Smiers/van Schijndel 2012) tragen, um nur drei Beispiele aus jüngerer Zeit zu erwähnen.

In der Sache geht es um einen nicht mehrumkehrbaren Prozess der Vergesellschaftung des Urheberrechts durch die Digitalisierung und die damit ubiquitär mögliche und nicht mehr nachvollziehbare respektive kontrollierbare Nutzung von Werken aller Art. – Was ist damit gemeint?

Das ursprüngliche absolute Ausschließungsrecht der Urheber ist dabei, seine konstitutive Rolle für die Verwertbarkeit geistigen Schaffens zu verlieren. In immer größerem Ausmaß – sachlich und monetär – treten an die Stelle der durch den Urheber eingeräumten Nutzungsrechte faktische Nutzungshandlungen, die, technologisch und wirtschaftlich induziert, das auf dem Papier immer noch fortbestehende Ausschließungsrecht zur rechtlichen Chimäre verkommen lassen. Nicht, dassdamit das Urheberrecht schon abgeschafft wäre – aber die sich abzeichnende Tendenz weist in eine eindeutige Richtung: Wo früher die Urheberberechtigten zuerst gefragt werdenmussten, bevor es zu einer Nutzungshandlung kommt, und wo sie also die rechtliche Möglichkeit hatten, den Umfang der Nutzungshandlungen durch Vertrag erst zu gestatten und dafür die entsprechende Vergütung zu verlangen, wird es in Zukunft nur noch erlaubte Nutzungshandlungen geben, für die im Wege der Rechtewahrnehmung durch Verwertungsgesellschaften entsprechende tarifliche Vergütungen eingehoben werden, die dann den Urhebern ausgezahlt werden. Wir sehen eine Entwicklung, die vom Recht ohne Urheber zum Urheber ohne Recht verläuft. Mag sein, dass dabei immer noch Geld im Spiel ist – aber es ist wohl kein ganz und gar unplausibles Szenario, sich auszumalen, dass irgendwann alle alles dürfen werden und die Werkschöpferinnen nur noch die durch allgemeine Bestimmungen und den daraus erwachsenden Zahlungsansprüchen alimentiert werden.

Ich will an dieser Stelle nicht beurteilen, ob diese Entwicklung zu begrüßen ist oder ob wir hier eine Entwicklung beobachten, in der und durch die ein konstitutiver Bestandteil kultureller Vielfalt verloren zu gehen droht. Weitaus spannender scheint mir zu sein, welche Folgerungen sich aus dieser Entwicklung ziehen lassen.

Die in groben Strichen skizzierte Tendenz führt, wenn die Beschreibung einigermaßen Realitätsgehalt aufweisen sollte, zu einer deutlichen Schwächung der Rechtsposition der Urheber. Nimmt man die Urheber als die unmittelbaren Produzenten des kulturellen und geistigen Schaffens, dann stellt sich die Frage, ob diese Schwächung eines kompensatorischen Aktes bedarf. Unterbliebe ein derartiger kompensatorischer Akt, dann würde nicht nur die verfassungsrechtlich abgesicherte Eigentumsgarantie in ihrem Wesen beschädigt, sondern es würde damit im Kern auch ein nicht mehr zu parierender Angriff auf jene Vorstellung erfolgen, die wir in unseren Breitengraden von der „Person“ haben. Unter „Person“ verstehen wir ja – und ich lasse alle romantisch-schwärmerischen Emanationen, die sich mit diesem Begriff verbinden, jetzt einmal beiseite –den Inbegriff derjenigen Rechte und auch Pflichten, die einen Menschen erst als Teilhaberin und Teilhaber an einer bestimmten sozialen Ordnung ausweisen.

Vereinfacht gesagt: Der aus dem Urheberrecht und vermittels des Urheberrechts sich ergebende Schutz der persönlichen Integrität wird durch die Digitalisierung beinahe obsolet, weil der Kern des Urheberrechts, nämlich das rechtlich noch vorhandene Ausschließungsrecht, den Charakter eines bloßen Rechtsversprechens angenommen hat, das nicht mehr eingelöst werden kann. Wir sollten uns nicht an den fast religiösen Begriffen der „Person“ und des „persönlichen Ausdrucks“ festmachen – in der Realität führt dieser Vorgang nämlich zu einer Entwertung der künstlerischen Arbeit. Drastisch gesagt: Wer schon jetzt nichts anderes hat als seine Arbeitskraft und schöpferische Schlauheit, mit denen er etwas Marktgängiges schaffen muss, der wird in Zukunft noch mehr den Gesetzlichkeiten eines durchkommerzialisierten Marktes ausgesetzt.

Die Diskussion ist im Fluss, und ich will Sie nicht mit den durchaus disparaten Vorschlägen plagen, was in dieser Situation zu unternehmen sei. Meine Meinung ist bescheiden und hat zwei voneinander zu unterscheidende, wenn auch nicht zu trennende Anknüpfungspunkte: Einmal ist es für mich als Jurist von unumstößlicher Gewissheit, dass aus dem Umstand, dass etwas ist, noch nicht folgt, dass es so sein soll. Anders gesagt: Nur weil sich immer weniger ums Urheberrecht scheren, heißt das noch nicht, dass wir das Urheberrecht abschaffen sollen. Zum anderen: Die Debatte über die Auflösung absoluter Eigentumsrechte hat eine Vielzahl von guten Gründen. Aber auch hier stellt sich die zentrale politische Frage: Cui bono? Wem nützt es, wenn wir die Stellung der Urheberinnen und Urheber weiter schwächen?

Unter bestehenden Bedingungen sprechen die besseren Gründe für die Vermutung, dass es durch die Schwächung des Urheberechts nicht zu einem Aufblühen von interesseloser Kreativitätund schöpferischer Fantasie kommt, sondernnur zur kapitalgetriebenen weiteren Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Und also kann man mit mir durchaus über die (weitere) Relativierung von Eigentumsansprüchen verhandeln,nur würde ich dann nicht bei den Künstlerinnen und Künstlern, bei den Werkschaffenden und deren Ansprüchen beginnen, sondern bei Banken, Grundbesitzern und den Eigentümern von ähnlicher Qualität.

Langer Rede kurzer Sinn – und das im Gedenken an den Dichter Peter Rühmkorf: Wir sollten weiterhin richtig zitieren, wir sollten fragen, wenn wir fremde Werke bearbeiten, wir sollten uns darum kümmern, das vorfindliche Werkschaffen ausschließlich unter Wahrung der Integrität dieses Werkes zu nutzen, und wir sollten uns im Alltag der Mühe unterziehen, die jeweils Werk gewordene Arbeit zu achten, und also auch im Original nachlesen, bevor wir zitieren.

Und so entlasse ich Sie mit der getreu zitierten Zeile von Peter Rühmkorf: „Ich, aber ich, (...) / evakuiere die Brust von aller Hoffnung und meine an Trostes Statt: / Zeitig zu Bett, / um unter neuen Gestirnen, / morgen mit frischem Mut zu verzweifeln.“

Und ich füge, nicht nur der Vollständigkeit halber, hinzu: Das war nicht aufs Urheberrecht gemünzt, sondern auf den Zustand der Welt in ihrer Gesamtheit. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2013)

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