Beruf: Märtyrer

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Sollten sich die Muslimbrüder in der arabischen Welt politisch durchsetzen, wäre das für den Westen fatal. Der Wahabismus und seine Folgen: zur Geschichte der Radikalisierung des Islam.

In Wien wurde vor wenigen Wochen das König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog eröffnet, das von Saudi-Arabien finanziert wird. Die Kritiker – liberale Muslime und Nichtmuslime – werfen den Initiatoren vor, dass in Saudi-Arabien weder Menschenrechte gelten noch ein Minimum an Religionsfreiheit existiere. Der Wahabismus ist die Staatsreligion, alle anderen Konfessionen sind verboten. Die Religionspolizei ist allgegenwärtig: Homosexuellen droht die Todesstrafe und renitenten Frauen zumindest die Peitsche. Gleichzeitig wird mit Milliarden von Petrodollars weltweit der islamische Fundamentalismus gefördert. Ein historischer Blick auf den Wahabismus zeigt, dass es sich nicht nur um eine kleine, weltabgeschiedene religiöse Sekte handelt, sondern um die Keimzelle des modernen radikalen Islamismus.

Im 18. Jahrhundert lebten auf der kargen arabischen Halbinsel zahlreiche kleine autonome Stämme, darunter der unbedeutende Clan des ehrgeizigen Scheichs Muhammad Ibn Saud (gestorben 1765). Ibn Saud war weder mächtig noch reich, er herrschte mit seinem Clan über das kultivierte Umland der kleinen Oasenstadt Dariyya. Er besaß zwar einige Karawanen, trotzdem waren seine finanziellen Mittel eher bescheiden, und sein Einfluss reichte kaum über die Oase hinaus.

Eines Tages suchte der Wanderprediger Ibn Abd al-Wahab (1703 bis 1792) Zuflucht in der Oase Sauds. Wahab hatte einige Schüler um sich versammelt, mit denen er die arabische Halbinsel durchwanderte, Grabsteine schändete, heilige Bäume fällte und Muslime ermordete, die sich seiner kompromisslosen Lehre widersetzten. Nachdem er in einer Oase mit seinen Mitstreitern eine Frau öffentlich gesteinigt hatte und von den Bewohnern vertrieben worden war, traf er auf Ibn Saud. Aus dieser Begegnung entstand ein religiös-politisches Bündnis, das Weltgeschichte machen sollte: der Wahabismus. Al-Wahabs grundlegende Forderung bestand in der strikten Anwendung der Scharia, die die Rückkehr zur unverfälschten Urgemeinde bedeute, welche Mohammed in Medina begründet habe. Insbesondere der Aberglaube und die Verehrung von heiligen Stätten erregten seinen Zorn. Er verband seine Interpretation des Islam mit einem totalen Wahrheitsanspruch und war überzeugt, dass alle Muslime, die einem abweichenden Glauben anhingen – wie die Schiiten und Sufis – mit dem Schwert getötet werden müssten. Wahab dehnte diesen Vorwurf auch auf die sunnitischen Schulen aus, die in seinen Augen von häretischen Gebräuchen und Gedanken verseucht waren.

Wahab schlug Ibn Saud eine politisch-religiöse Abmachung vor: Saud sollte ihm schwören, einen Dschihad gegen die nicht wahabitischen Muslime zu führen. Dafür würde Saud der politische Führer der muslimischen Gemeinschaft werden, während Wahab für die religiösen Angelegenheiten zuständig wäre. Ibn Saud akzeptierte den Deal, und damit war der islamische Radikalismus geboren.

Im 20. Jahrhundert betrachteten die Saudis den Ölreichtum als Gottesgeschenk und als Verpflichtung, ihre puritanische Lehre über alle Grenzen hinweg zu verbreiten. Saudi-Arabien war das einzige muslimische Land, in dem die religiöse Gemeinschaft ihre Macht noch nicht eingebüßt hatte. Es war ein totalitärer und kompromissloser wahabitischer Staat. Hier gab es keine Debatten zwischen Modernisten und Islamisten. Hier gab es überhaupt keine Debatten. Nationalismus, Panarabismus, Panislamismus, islamischer Sozialismus – keine der einflussreichen Strömungen der muslimischen Welt konnte sich im saudischen Königreich artikulieren. Die einzige geduldete Lehre war der Wahabismus, die einzige Ideologie der islamische Fundamentalismus. Jede Abweichung wurde brutal bekämpft. Der Wahabismus versprach ein puritanisches Gesellschaftsmodell eines ursprünglichen und authentischen Islam, während der heutige immense Reichtum der „oberen Zehntausend“ und die Korruption diese Ideologie Lügen straft.

Gleichzeitig wurden von den Saudis überall in der islamischen Welt Wohltätigkeitseinrichtungen, Stiftungen, Moscheen, Universitäten und Schulen, die streng wahabitisch waren, mit riesigen Geldsummen unterstützt. Nach und nach drang der Wahabismus dank der Milliarden Petrodollars bis in die letzten Winkel der islamischen Welt vor. Die Lehrer und Prediger des radikalen Islamismus verfügten über ungeheure Ressourcen, um gezielt ihre Auslegung des Islam zu verbreiten. Saudi-Arabien wurde zum Sammelbecken für radikale Muslime aus allen islamischen Ländern und damit zur Keimzelle für die weltweite Verbreitung der radikalen Ideologien. Die Saudis unterstützten die muslimischen Bruderschaften und nahmen viele Muslimbrüder auf, die in anderen islamischen Ländern verfolgt wurden.

Die Muslimbruderschaft wurde im Jahr 1928 von dem Volksschullehrer al-Banna als eine kümmerliche Organisation gegründet, die die Welt jedoch maßgeblich verändern sollte. Mit Hassan al-Banna (1906 bis 1949) entstand eine religiöse Bewegung, die scheinbar völlig dem Trend des Zeitgeistes widersprach, weil sie die Abwendung von der Moderne und die Rückkehr zu den Anfängen des „Urislam“ predigte. Die Muslimbrüder waren aber keinesfalls eine konservative – ausschließlich an den islamischen Traditionen orientierte – Bewegung, sondern verstanden sich vielmehr als die religiöse und politische Avantgarde der islamischen Welt, die nichts Geringeres als eine globale islamische Revolution propagierte.

Das Vorbild für eine wahre islamische Gesellschaft war für al-Banna der frühe Islam zur Zeit des Propheten und seiner ersten Kalifen. Im Mittelpunkt der Bewegung stand der Dschihad, der Heilige Krieg, den al-Banna als „Todesindustrie“ bezeichnete. Darunter verstand er, dass Muslime den Tod mehr lieben sollten als das Leben. In seinen Augen waren nur Märtyrer wahre Muslime, sie allein konnten das vollkommene Glück erlangen. Al-Banna und die Muslimbruderschaft sahen in den Juden die Verkörperung des absolut Bösen, den Satan in menschlicher Gestalt. Es ist deshalb kein Zufall, dass al-Banna erhebliche Bewunderung für die Nazis hegte.

Im Gegensatz zur europäischen Geschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war der radikale Antijudaismus im Allgemeinen noch kein integraler Bestandteil der islamischen Welt. Anders war die Situation in Palästina selbst, hier gab es konkrete Konflikte zwischen Arabern und Zionisten. Der Führer der arabischen Seite war seit dem Jahr 1921 Amin el-Husseini, der Großmufti von Jerusalem, dessen Judenhass legendär war. 1929 zettelte er ein Pogrom in Jerusalem an, dem viele arabische Juden zum Opfer fielen. In den Jahren zwischen 1936 und 1939 organisierte Husseini Streiks gegen die britische Mandatsmacht wegen der zionistischen Einwanderung.

Al-Banna hatte schon 1927 Kontakte zu el-Husseini geknüpft und damit eine lange Zusammenarbeit begründet: 1947 wurde el-Husseini zum Führer der Muslimbrüder in Palästina und zum Stellvertreter al-Bannas ernannt. Die Bruderschaft unterstützte den Kampf gegen die Zionisten in Palästina mit verschiedenen Aktionen. Die militante Agitation der Bruderschaft gegen die Juden führte 1939 zu Bombenanschlägen in einer Synagoge und einigen Privathäusern.

Die unheilvolle Allianz zwischen den Muslimbrüdern und den Nationalsozialisten begann in den 1930er-Jahren. Alfred Hess, der Bruder von Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess, lebte in Alexandria und gründete 1926 eine Auslandsorganisation der Nationalsozialisten, der mehrere hundert Mitglieder angehörten. Die Kairoer Nazi-Gruppe war in ihren ideologischen Bemühungen zuerst wenig erfolgreich, ihre Pamphlete und Broschüren erzielten kaum Beachtung. Erst die verstärkte Einwanderung von Juden aus Deutschland nach Palästina seit 1933 änderte diese Situation. Al-Banna bekämpfte seit 1936 die jüdische Siedlungstätigkeit und rief zum Dschihad gegen die Juden auf. 1939 forderte die Muslimbruderschaft einen Boykott jüdischer Geschäfte und verbreitete das Gerücht, die Juden würden die heiligen Stätten des Islam in Jerusalem zerstören sowie Frauen und Kinder töten. In Ägypten kam es zu ersten Unruhen und Protesten mit antijüdischen Parolen. Diese Aktionen der Muslimbrüder wurden vor allem mit Geldern der Nationalsozialisten finanziert, und Hitlers „Mein Kampf“ sowie die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ wurden auf Arabisch übersetzt.

Der nationalsozialistische Antisemitismus fand auf diese Weise in den späten 1930ern Eingang in die arabische Welt, und der radikale Judenhass wurde langfristig zum festen Bestandteil ihrer Kultur. Der Antisemitismus wurde mit dem Antijudaismus des Propheten und des Korans verknüpft. Somit wurde der nationalsozialistische Judenhass gleichsam durch die islamische Tradition legitimiert und aufgewertet.

Seinen wichtigsten Verbündeten fand der Nationalsozialismus in der Person Amin el-Husseinis, dessen sehr wohlhabende Familie zur kleinen Elite der arabischen Gesellschaft zählte. In seiner Funktion als Mufti von Jerusalem war Husseini die höchste und letzte Autorität, die den Koran und die Sunna auslegte. Seine Fatwas – Rechtsgutachten – waren für die Scharia-Gerichtshöfe bindend. Der Mufti machte Hitler nach Kriegsbeginn ein Bündnisangebot, das dieser annahm, damit stand el-Husseini im Zenit seiner Karriere: Er war Partner Hitlers bei der „Endlösung der Judenfrage“. Am 28. November 1941 wurde el-Husseini von Hitler empfangen, der offensichtlich Probleme mit dem „Semiten“ hatte und ihm den Handschlag verweigerte. Trotzdem äußerte der Mufti seine Bewunderung für Hitler und beteuerte die Verbundenheit der arabischen Völker mit dem Nationalsozialismus.

Die wohl erfolgreichsten Agitationen des Muftis waren die Rundfunksendungen des deutschen Kurzwellensenders von Zeesen, der sein Programm in die arabische Welt ausstrahlte und von vielen Menschen in diesem Raum gehört wurde. Husseini wusste diese Chance zu nutzen und streute das Gift des Judenhasses gezielt unter die Bevölkerung des Nahen Ostens. Bis zu seinem Tod im Jahr 1974 trug der Mufti durch seine unermüdliche antijüdische Hetze wesentlich dazu bei, dass die Gesellschaften des Nahen Ostens heute so judenfeindlich sind wie die keiner anderen Region dieser Welt. Sein politisches Erbe verwaltete ein entfernter Verwandter: der Terrorist und Friedensnobelpreisträger Jassir Arafat.

Rückblickend betrachtet wurde der unbedeutende Prediger und Fanatiker al-Wahab zum Ahnherrn der Muslimbruderschaften und damit des islamischen Fundamentalismus und Radikalismus. Sein Gedankengut wurde zum Grundstein der ersten Bruderschaft in Ägypten, von dort verbreitete sich das Gift des Islamismus über Syrien, Jordanien, Algerien, Tunesien, Palästina, Sudan, den Iran und Jemen in alle Gegenden der islamischen und nicht islamischen Welt. Dieser radikale Islamismus, der von vielen aufgeklärten Muslimen eher belächelt wurde, war letztlich stärker als alle anderen Ideologien der islamischen Welt. Die totalitäre wahabitische Utopie wurde zur letzten Hoffnung vieler Muslime und Ibn Abdul al-Wahab zum Heilspropheten des frühen 21. Jahrhunderts.

Nach der „Arabellion“ konnten die Muslimbrüder ihre bisher größten politischen Erfolge verbuchen. War bis dahin die politische Herrschaft der Muslimbruderschaft weitgehend auf die Hamas in Gaza beschränkt, so brachte der „Arabische Frühling“ den politischen Durchbruch in Ägypten und anderen arabischen Staaten. Sollten sich die Muslimbrüder in der arabischen Welt politisch durchsetzen, wären die Folgen für den Westen fatal: Der Islam als politische Religion würde die letzten christlichen Minderheiten zum Exodus zwingen. Die zu erwartende politische und wirtschaftliche Instabilität könnte viele Menschen in die Migration treiben, Europa stünde vor einer Masseneinwanderung von Millionen junger enttäuschter und verbitterter Muslime.

Angesichts der Geschichte des Wahabismus und der Muslimbrüder wäre ein Dialog der Religionen zwar wünschenswert, die Tatsachen sprechen jedoch eine andere Sprache: Im Frühjahr 2012 rief der Großmufti von Saudi-Arabien dazu auf, alle Kirchen auf der arabischen Halbinsel niederzureißen; gleichzeitig erließ König Abdullah ein Dekret, das Kritik am Großmufti unter Strafe stellt. Während Christen und Atheisten wenigstens nach Saudi-Arabien reisen dürfen, ist dieses Privileg allen Juden untersagt. Geschichte wiederholt sich . . . ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2013)

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