Prada und das alte, rohe Fleisch

Liebesfilm, Polizeithriller, genau recherchierte Gesellschaftsstudie. Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ oder: Wie man den immer strikteren Längenzwängen des TV-Geschäfts entkommt und doch wieder auf dem Fernsehschirm landet. Eine Sachverhaltsdarstellung.

Anderthalb Dekaden nach dem finanziellen Scheitern seiner Polizeifilm-Großproduktion „Die Sieger“ (1994)nimmt Dominik Graf ein zweitesMonumentalprojekt in Angriff – als Fernsehserie: „Im Angesicht des Verbrechens“, nach einem Buch von Rolf Basedow, diesmal kompromisslos durchgezogen mit den Erfahrungen, die Graf bei der problematischen Produktion der „Sieger“ gemacht hat. Ein Kreis schließt sich: „Im Angesicht des Verbrechens“ ist ein spätes Spiegelbild zum frühen Einsatz Grafs bei der Vorabendserie „Der Fahnder“, mit dem ihm ab 1985 der Durchbruch im Genre gelang. Nun wird die lange vergessene Idee des Kinoromans in seiner (leicht zweifelhaften) Neuinterpretation als Fernsehmehrteiler wiederbelebt: So entkommt Graf den immer strikteren Längenzwängen des TV-Geschäfts und landet ironischerweise doch wieder bei den Einheiten der alten Vorabendserie: „Im Angesicht des Verbrechens“ ist ein Achtstünder, für die Ausstrahlung aufgeteilt auf zehn Folgen zu etwa 50 Minuten, gedreht (wie der Großteil des Graf-Werks) auf 16 Millimeter, die Drehzeit und die Laufzeit einer Episode entsprechen damit denen einer „Fahnder“-Folge.

„Im Angesicht des Verbrechens“ ist die Summe vieler Anliegen des Graf-Œuvres, dabei selbstverständlich keine letztgültige: Die Reise muss immer weitergehen. Der Anfang: eine Märchenfantasie in der ukrainischen Landschaft. Jelena (Alina Levshin) taucht ins Wasser, vorbei an einem Panzerwrack aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“, vorbei an Männergesichtern, die ihr phantomartig in den Fluten erscheinen, darunter dasjenige des Mannes, den sie liebt, wie ihr die Großmutter prophezeit hat. Der heißt Marek Gorsky (Max Riemelt), ist Polizist aus lettischjüdischer Einwandererfamilie und gerade mit seinem aus Ostberlin stammenden Kollegen Sven Lotter (Ronald Zehrfeld) und weiteren Mitgliedern seiner Abteilung der Bereitschaftspolizei im Einsatz, um einen untergetauchten Kriminellen festzunehmen. In der Tür, die gleich forsch aufgebrochen wird, hat man sich leider geirrt, und steht unter verdutzten Vietnamesen – was wie ein Gag wirkt, erweist sich gegen Ende der Serie als Zufallstreffer auf das Zentrum eines labyrinthischen Falls.

Rolf Basedows epische Erzählung kann sich Raum nehmen für solche weit ausholenden Verbindungen, für die geräumige Schilderung von ansonsten in der TV-Gleichmacherei in dieser Länge unmöglichen Szenen (insbesondere Familienfeiern, ob unter Blutsverwandten oder ihrem Ersatz, den Arbeitsgemeinschaften dies- wie jenseits der Legalität), für ganze Episoden, die scheinbar aus der Haupthandlung ausscheren. Folge sechs, „Rosen fallen vom Himmel“, widmet sich größtenteils einer Zugfahrt nach Osten im Gefolge des Spediteurs Lenz (Bernd Stegemann), Verbindungsmann zwischen Russenmafia und Politik, der seinen eignen Sonderwaggon mit Massen an Nutten, Kaviar und Wodka hat. Folge neun, „Du bekommst, was dir zusteht“, ist wie ein Horrorfilm-Ausflug nach Weißrussland, um die beste Freundin Jelenas aus der Zwangsprostitution zu befreien.

Liebe zur New-Hollywood-Ära

Aber natürlich sind das keine Abschweifungen: „Im Angesicht des Verbrechens“ führt am deutlichsten vor Augen, dass Grafs Filme eben charakter- und nicht handlungsgetrieben sind, gemäß seiner Liebe etwa zu Werken der New-Hollywood-Ära mit ihren nur vermeintlich abzweigenden, außergewöhnlichen Episoden wie dem Flugzeugbomben-Zwischenspiel in Alan J. Pakulas „The Parallax View“ (1974) oder der methodischen Taschendiebverfolgung im Zug in Sam Peckinpahs „The Getaway“ (1972).

Komplex sind die Zusammenhänge und Verhältnisse privat wie gesellschaftlich, die Grundtriebfedern der Handlung hingegen eigentlich einfach: Marek hat seinen Bruder verloren, der in Gangsterkreise abtauchte und kaltblütig erschossen wurde, die Ermittlungen führen ihn zehn Jahre später doch noch zum Täter und damit zum Kernkonflikt – seinem wiedererwachenden Rachewunsch nachgeben oder doch den Regeln des Systems folgen? Das Finale in einer illegalen Zigarettenfabrik in einem fiktiven Örtchen mit dem schönen Namen Schnötzwitz ist auch eine Jagd durch die Abgründe seiner Seele: durch Hallen mit alten DDR-Schaufensterpuppen hinunter in unterirdische, geflutete Gänge bis zur entscheidenden Konfrontation mit seinem Gegenspieler– wieder ein dunkler Spiegel.

Mareks Schwester Stella (Marie Bäumer) hingegen hat auf der Gegenseite eingeheiratet, was es für ihn nicht leichter macht: Frau des Russenmafioso Mischa (Mišel Matičević), der ein feines Lokal betreibt und für den Teil des Syndikats steht, der sich „im Gesetz“ und eben nicht mehr außerhalb verankern will. In einer superben Sitzungsszene wird genau aufgeschlüsselt, was das heißt: Handel mit Alkohol, Zigaretten, Immobilien; für Mischas ruchlosen Gegenspieler bleiben nach der Ächtung durch die neuen Schattenwirtschaftsfädenzieher aus dem Osten „nur“ die restlichen bewährten Betätigungsfelder – Drogen, Hehlerei, Schutzgelder, Weiber. Stella als Schlüsselfigur zwischen den Welten beginnt auch zwischen den Zeiten: In ihrer ersten großen Szene schildert sie Marek, während sie sich für den Abend schminkt, was sie in der Folge im Lokal des Mannes tun wird, der Schnitt legt beide Ebenen übereinander. Später, als sie sich mit ihrem fremdgehenden Mann zu versöhnen beginnt, haben die beiden wieder eine Gegenwart, Vergangenheit und (mögliche?) Zukunft undurchschaubar verwirbelnde Sexszene à la Nicolas Roeg; und am Ende geht es für sie um die Übernahme des Geschäfts. Überschattet von einer erschütternden Erkenntnis: „Ich habe ihn doch geliebt.“

Liebesfilm, Polizeithriller, Kolportageelemente, genau recherchierte Gesellschaftsstudie. Die Geschlechterverhältnisse zwischen Grafs (im besten Kinosinne „echten“) Männern und Frauen werden in der Gegenüberstellung zwischen archaischer Macho-Welt der festgefügten Ost-Clans und zersplitterter, „zivilisierter“ deutscher Korrektheit besonders deutlich, ebenso seine Methode, verrufene Genreelemente lustvoll aneinanderzuhängen und sie dabei manchmal zu brechen, manchmal eben ungebrochen auszuspielen; bloße Dekonstruktion führt meistens auch wieder nur zum abstrakten Kunstprodukt, während in den Klischees des Affirmativen durchaus Wahrheit zu haben ist (aber manchmal eben auch nur, ganz bewusst: das Klischee). Und es muss sich auch aus dem Konkreten speisen: der Wirklichkeit in den Schauplätzen, der Glaubhaftigkeit der Gesten, Figuren und Dialekte – „Im Angesicht des Verbrechens“ leistet sich den Luxus vieler Sprachen und langer Passagen mit Untertiteln (sowie einiger nicht untertitelter Stücke: Atmosphäre und Geheimnis). Gerade bei den Basedow-Büchern steckt das Authentische auch in den Details, die einer gelernt hat und aus denen man als Zuseher etwas über eine fremde Welt lernen kann. Etwa wie die Gangster bei einem Überfall sicherheitshalber Pillen dabei haben, die sie bei der Festnahme einwerfen – dann können sie nämlich nur wegen Beschaffungskriminalität angeklagt werden. Aber auch in Dialogen, Erzählungen, Verhaltensweisen, aus denen die genaue Beschäftigung mit einem Milieu spricht, wo in kleinen Momenten ganze Mentalitätsgeschichten und Charakterisierungskennzeichen voll erfasst werden können. Dass ein Gangster in der Freizeit ein Buch über den tschetschenischen Krieg liest, ist auf ebenso knappe Weise vielsagend wie der Moment, in dem er zur Freundin heimkommt und verlangt, dass sie ihm ein Alibi gibt: Sie weigert sich, woraufhin er sagt, sie solle gehen – aber erst, nachdem sie die Prada-Klamotten ausgezogen hat, die er ihr gekauft hat. Dann schmeißt er ihr die unattraktiven alten Sachen hin und stellt sich unter die Dusche. Als er zurückkommt, liegt sie wieder in der teuren Montur auf der Couch. Ohne Worte alles erklärt im Spiel der Versuchungen und Abhängigkeiten.

Anderswo greift Graf in die Vollen, erlaubt sich waghalsigen Barock: Eine parabelhafte Selbsterklärung zur Vorgangsweise des Syndikats illustriert das Exempel an einem armen Narren namens Myschkin nicht als konventionelle Rückblende, sondern als Gemäldeserie – bis es zu dessen demonstrativer Enthauptung mit Sense kommt.

Traumprinzen und Prostitution

Im Kontrast zu den Szenen, die als herkömmlich realistisch durchgehen, ergibt sich daraus ein Element der Vielschichtigkeit von Grafs Entwürfen, ein anderes verdankt sich der Gegenüberstellung von gegensätzlichen Momenten in gleichem Modus: Der romantische Aspekt der märchenhaften Eröffnung wird gleich gründlich unterwandert, wenn eine Gruppe Männer in der Ukraine ankommt und die Mädchen in den goldenen Westen lockt, natürlich, um sie zu Nutten zu machen. Wie Traumprinzen umkreisen sie ihre Beute zu Pferd, die zerpflückt derweil spielerisch Blumen: „Verdiene wenig, verdiene nichts, verdiene viel...“

Sympathie und Antipathie für die Figuren, derlei Vorverdummung durch das Quotendenken, haben bei Graf nie eine Rolle gespielt. Was dafür, gerade in seinen Basedow-Verfilmungen, eine immer größere Rolle spielt, ist die kriminelle Invasion aus dem Osten: „Im Angesicht des Verbrechens“ ist mit seiner Schilderung des Vielvölkerlebens in einer modernen Großstadt nicht nur reichster Entwurf der sich gegen alles gemütliche Multikulti-Getue sperrenden Graf-Vision, sondern bringt die Werklinie in einem mächtigen Monolog des LKA-Leiters auf den Punkt: „Diese obere Schicht der Bandenchefs, das sind doch heute alles Business-Leute, verheiratet, Leben wie Konzernchefs. Aber darunter ist das alte, rohe Fleisch: habgierig, rücksichtslos. Aus deren Sicht sieht es so aus, dass wir Deutschen aussterben. Aber lasst euch nicht von mir entmutigen. Einiges können wir ja noch tun, bevor wir ganz abtreten. Oder?“

Die letzte Szene gönnt Graf einem hoffnungsfrohen Liebespaar, aber eigentlich ist es wie stets ein offenes Ende. Das Leben geht weiter, Trubel in einem Lokal, aus dem Stimmengewirr ragt eine heraus, die zahlen will: „Kann man hier irgendwo sein Geld loswerden?“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2013)

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