Übliche Nachrede

Das Freiheitslied des Österreichers ist die Klage, der Singsang des chronisch Unzufriedenen. Vom Raunzen und Schimpfen, dem Plaisir der Machtlosen.

Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke:
Das fördert die Verdauungskraft
Und würzet die Getränke.
Heinrich Heine

Das Freiheitslied des Österreichers ist die Klage. Freilich, eine Klage ohne Schmerz. Eher ein Leiden. Der Singsang des chronisch Unzufriedenen, der an den Verhältnissen leidet, manchmal gesteigert zu dem hysterischen Lamento des Hypochonders, der zwar von seinen eingebildeten Krankheiten, nicht aber von seiner Hypochondrie geheilt sein will.

Das Raunzen, das in Österreich seine Heimat gefunden hat, ist eine Mischung ausKlage und Anklage, Vorwurf und Selbstmitleid, Wehmut und Beschwerde. Es zählt mit zu den unerträglichsten Ausdrucksformen des Weltschmerzes. Es ist das Besserwissen des Ohnmächtigen und das im Flüsterton vorgetragene Rechthaben des Machtlosen, nörgelnd, wehleidig und böse. Zersetzend und anonym. Ein Raunen eigentlich, zischelnd, beschwörend, infam. Es ist das Gerücht und die üble Nachrede. Das Kleinreden und Schlechtmachen. Das Neiden. Die Unterstellung. Die Lust am Untergang – nichtam Untergehen,sondern am Untergang der anderen. Und nicht zuletzt: die Selbstverquälung.

Wo der Österreicher raunzt, spricht er alsSubjekt, das er ist, alsUnterworfener. Hier atmet er aus. Das Raunzen ist der Pestatem, der seine Fahne bewegt. Lieb gewonnen und gepflegt vor allem in der Hauptstadt, wo dieses Raunzen an der Bevölkerung physiognomisch fassbar ist, an den freudlosen, erschöpften Gesichtern, die einem überall begegnen, der Verkommenheit,der Unfreundlichkeit und ostentativen Unhöflichkeit, wie sie von Kellnern und beamteten Auskunftspersonen vor allem den Einheimischen gegenüber kultiviert werden.

Wie das Lächerliche zum Komischen, das Raunzen zur Klage, so verhält sich das Schimpfen zur Kritik. Im Regionalen wird geflucht, im Kleinstädtischen gejammert, in der Provinz geduldet und in der Metropole geraunzt. Besonders im Wienerischen haftet dem Schimpfen der Nimbus des Echten, des Authentischen an, und ohne Zweifel hat sich hier eine eigene Schimpfkultur entwickelt, über deren Ursprünge Sie ein Schimpfkulturforscher – unter den Germanisten findet sich bestimmt einer – genauer unterrichten kann.

Das Lästern über und Ausrichten von Personen stellt eine Mischform zwischenSchimpfen und Raunzen dar – destruktiv,hinterhältig, Ausdruck höchster Niedrigkeit,findet es sich eher im gehobenen Milieu und ist bei Vertretern des offiziellen Österreich gebräuchlich, vom kleinen Beamten aufwärts bis zu den höchsten Ämtern im Staat und natürlich in der sogenannten Medienszene, im Bankenwesen – mit einem Wort: bei Menschen, die für dieses Land repräsentativ sind. Selten nur dringen Äußerungen dieser Art an die Öffentlichkeit,meist fallen sie im privaten Umfeld, bei inoffiziellen Anlässen. Dass das Gemeine und die Niedertracht diesen Menschen – ganz im Gegensatz zu ihrem Bild in der Öffentlichkeit – aber selbstverständlich sind, wird immer wieder durch sogenannte FreudscheVersprecher sichtbar, spätestens aber dann, wenn sie angegriffen werden. Die gelebten, selbstverständlichen Umgangsformen lassen sich nicht verleugnen. Auch nicht die Herkunft, auch nicht das Niveau, das zu leben man sich entschieden hat – und ich sage das nicht wertend, sondern ortend.

Die menschlichen Niederungen, die dabei zum Vorschein kommen, sind sprachlich den Tiefen der Vorstädte verwandt, demeinfachen Milieu, in dem das Schimpfen noch Tradition hat, die verbale Attacke direkt vorgebracht wird und die Aggression, sei es als Notwehr, sei es als Übergriff, dem Gegenüber ins Gesicht geschleudert wird. Je brutaler, desto besser. Je drastischer, desto vernichtender. Hier kennt die Kreativität des Österreichers – und insbesondere des Wieners – keine Grenzen. Hier ist er Original. So einer nicht glauben will, dass Worte heute noch Wirkkraft besitzen, lasse er sich einmal von einem Wiener Vorstadtbewohner beschimpfen. Gelegenheiten dazu finden sich immer, der Straßenverkehr ist besonders zu empfehlen – als Autofahrer oder,falls man keinen Führerschein besitzt, als Fußgänger beim einfachen Überqueren vonStraßen an dafür nicht vorgesehenen Stellen. Dieses Schimpfen erschöpft sich nicht in den üblichen Four-Letter-Words, der Fäkalsprache oder Analanalogien. Es ist der Landschaft des „Simplicissimus“ verwandt, der Derbheit altdeutscher Trinklieder, Sprache der Gosse, deftig, brutal, durchmischt mit jüdischem Witz und slawischen Verwünschungen, gekeltert in den Schandmäulern troglodytischer Hausmeister und Hausmeisterinnen, wie sie Doderer beschrieben hat, der Strizzis und Branntweiner, wie sie H.C. Artmann noch erlebt hat – Typen, die es heute so nicht mehr gibt.

Dieses Schimpfen, wiedergekäut und nachgeahmt von studentischen Spaßbürgern und spießbürgerlichen Karrieristen, von Entertainern und Kabarettisten, die als intellektuelle Alleinunterhalter im Kollektiv Karriere machen, indem sie ihrer Proletenhaftigkeit und den vulgären Abgründen in sich, zum Gaudium des Publikums, eine Bühne bieten, ehe sie dann beginnen, Kulturglossen zu schreiben, im Rundfunk Literatursendungen zu gestalten, hat sich seine Kraft, wenn auch nicht seine Originalität bewahrt. Es kommt einem tätlichen Angriff gleich, ist aber nur zur Drohung geballte Aggression. –Raunzen undSchimpfen sind dasPlaisir der Machtlosen. Sie sind das Belüftungssystem der österreichischen Seele.Sie ersetzen die Kritik und helfenmit, dieses Österreichvor den anderen zu ertragen. – Der gelernteÖsterreicher genießt die Verlächerlichungseines Landes, die Selbsterniedrigung, die Selbstbeschimpfung, wie er sie in Büchern und Aufsätzen der „etablierten“ österreichkritischen Autoren findet, die von dem Ungenügen des zur Gegend verkommenen Österreich profitieren. Bewusstseinslos sprichtder gelernte Österreicher die furchtbarsten Wahrheiten und übelsten Nachreden aus, die über ihn und sein Land im Umlauf sind. In diesem Genuss der Erniedrigung ist der Österreicher Voyeur und Exhibitionist zugleich. Die Erniedrigung dient ihm zurSelbsterhöhung. Schon der Umstand, dasser gemeint ist, zeichnet ihn aus.

Diese Lust des Bürgers, das laut zu deklamieren und zu skandalisieren, was eine Wahrheit sein könnte, ist in Österreich kultiviert. Der Bürger wie der gelernte Österreicher, sie ziehen die Erregung der Veränderung vor. Der Skandal wird, zumindest was die österreichische Kunst und Kultur betrifft, noch als Mittel der Aufklärung missverstanden, das per se gutzuheißen ist.

Kritik ist das freilich keine. Das zeigt sichauch daran, dass, ist die Aufregung vorbei, alles beim Alten geblieben ist. ■

Zur Person

ALFRED GOUBRAN, geboren 1964 in Graz, ist Autor, Literaturkritiker und Verleger. Der Text stammt aus dem Band „Der gelernte Österreicher. Idiotikon“, der am 1. März im Braumüller Verlag, Wien, herauskommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)

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