Der Verführer

Philosophia liessmannia oder: Der Denker auf dem Präsentierteller. Über Philosophie und Öffentlichkeit in Zeiten der Internetforen – nebstbei für Konrad Paul Liessmann zum 60. Geburtstag.

Als ich zum ersten Mal hörte, dass an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien ein Forschungsbereich „Philosophie undÖffentlichkeit“ ins Leben gerufen würde, fand ich das ziemlich originell. Das wäre nicht viel anders, dachte ich, als würde man eine Professur für „Mathematik und Zahlen“ einrichten oder eine Forschungsstelle für „Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Sprache“. Wie zum Teufel sollte man sich denn Philosophie ohne Öffentlichkeit vorstellen?

Ich ließ mich belehren, und zwar von derWebsite der Universität Wien. „Die Frage“, lasich dort in jenem Teil einer wunderbaren, diePhilosophie in sechs politisch korrekt gleich große Stücke schneidenden Tortengrafik (Europäische Philosophie, Praktische Philosophie, Philosophie in einer globalen Welt, Wissenschaftsphilosophie, Sprache–Symbole–Medien und eben Philosophie und Öffentlichkeit), die Frage also, „inwiefern die philosophische Forschung von einem allgemeinen Interesse ist und deshalb die Philosophie zu den Fundamenten der europäischen Bildungsidee zählt, stellt selbst ein zentrales Thema der Philosophie dar, das allerdings selten systematisch entfaltet wird.“

Als Journalist und Öffentlichkeitsgestalter,der während der vergangenen Jahrzehnte miteiner eher unsystematischen Entfaltung der „Bedeutung und Rolle von Philosophie und Ethik für politische, kulturelle und gesellschaftliche Diskurse“ beschäftigt war, hätte ich das auch als Entlastung wahrnehmen können: Endlich beschäftigt man sich wo systematisch mit dem Zeug, das einen wirklich interessiert. Tat ich aber nicht. Nein, ich gestehe, dass mich die Frage nach Philosophie undÖffentlichkeit, nach meinem Verständnis also die Frage nach dem Sinn der Philosophie überhaupt, zunächst verstört hat: Sie erstens zu begreifen als Sechstelstück einer politisch korrekten Philosophietorte oder zweitens als systematisch entfaltete Frage danach, ob denn nundie Philosophie zu denFundamenten der europäischen Bildungsideezähle, irritierte mich.

Das hat wohl damit zu tun, dass es für mich, so wie vermutlich für viele nichtprofessionelle Philosophieinteressierte auch, Philosophieüberhaupt nur als etwas gibt, das in der Öffentlichkeit vor sich geht. So wie eben von dem unfassbar vielen, das geschrieben wird, zur Literatur nur werden kann, was sich einerlesenden Öffentlichkeit stellt, wird auch von dem unfassbar vielen, das gedacht wird, zur Philosophie nur das, was öffentlich gedacht wird. Natürlich „philosophieren“ viele von uns, wie man so sagt, auch beim Spazierengehen, beim Autofahren und sogar auf der Toilette. So wie wir alle in den Jahren unserer Pubertät Lyriker von Gnaden und für die Schublade gewesen sind. Aber Philosophie wird dieses Denken erst, wenn es ein Beitrag zur öffentlichen Selbstvergewisserung der Gesellschaft durch ein öffentliches Gespräch über die Gründe für unser Handeln geworden ist und darüber, wie wir die Ergebnisse dieses Handelns nach den Kategorien von Gut und Böse, Angemessen und Unangemessen, Akzeptabel oder Inakzeptabel, Tolerabel oder Intolerabel einteilen wollen.

Zwei Details haben einen wesentlichen Beitrag zur Beruhigung meiner aufgewühltenPhilosophenseele geleistet. Erstens ein Teil jenes Textes, der in den unendlichen Tiefen desZwischennetzes gleich hinter dem politisch korrekten Tortensechstel zu lesen war: dass nämlich in diesem neuen Forschungsbereichauch „die Frage nach Formen, Methoden undInhalten des Philosophie- und Ethikunterrichts an Höheren Schulen“ behandelt werden soll, weshalb er „eng mit dem Fachdidaktikzentrum Psychologie-Philosophie kooperieren und versuchen“ werde, „seinen Beitragzur Bildungsdebatte und zur Reform der Lehramtsausbildung in Österreich zu leisten“.

Zweitens und hauptsächlich beruhigte mich aber die Tatsache, dass die Leitung dieses neuen Forschungsbereichs von Konrad Paul Liessmann übernommen werden würde. Jenem Mann also, der in der lebenslangen Wahrnehmung eines nicht mehr ganz jungen,aber auch noch nicht wirklich alten österreichischen Öffentlichkeitsgestalters „der Philosoph“ war und außerdem derjenige, dem man zutraute, dass er, als Autor der „Theorie der Unbildung“, einen Beitrag zur Bildungsdebatte und zur Reform der Lehramtsausbildung in Österreich leisten würde, den man auch gerne annehmen möchte. An Beiträgen,die geleistet werden, herrscht ja seit Jahrzehnten kein Mangel, aber nachdem es sich wie bei fast allem in Österreich auch in Fragen von Bildung und Lehrerausbildung um ein aus Sozialpartnerbeton gefertigtes Denkgebäude handelt, wird es durch die handelsüblichen Beiträge zwar fester, aber nicht schöner. Ja, und dann verkörpert Liessmann wohl auch so etwas wie die zeitgenössische Variante jenes Mannes, der unser aller Vorstellung davon, dass Philosophie ohne Öffentlichkeit eigentlich gar nicht denkbar ist, geprägt hat: Sokrates.

„Sokrates hat als Erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen und in den Städten angesiedelt, ja selbst in die Wohnhäuser hineingeführt und die Menschen genötigt, über das Leben, die Sitten und über das Gute und Böse Nachforschungen anzustellen“, schrieb Cicero in den „Tusculanischen Gesprächen“. Und bei Xenophon kann man lesen: „Morgens besuchte er die Wandelhallen und die Ringplätze, in den Stunden, da dieAgora voller Leute war, konnte man ihn dort finden. Den übrigen Teil des Tages hielt er sich immer dort auf, wo er erwarten konnte, die meisten Leute anzutreffen.“ Schon damalswar es allerdings so, wie es heute ist: Wenn jemand öffentlich Fragen stellt, wird das nicht notwendigerweise goutiert, von den Befragtennicht und von den Zuhörern auch nicht immer. In Sokrates' Fall war es tödlich. Er wurdebekanntlich im Jahr 399 v. Chr. wegen „Asebie“ und „Verführung der Jugend“ angeklagt,verurteilt und hingerichtet. Genau, der„Schierlingsbecher“.

Sein Gift, das Coniin, führt übrigens dazu,dass man bei vollem Bewusstsein erstickt, nachdem sich von den Füßen her eine Rückenmarkslähmung nach oben ausgebreitet hat. Kein Wunder, dass diese Hinrichtungsartfast ausschließlich im Zusammenhang mit der Beseitigung eines Philosophen überliefertist, dem die Öffentlichkeit nicht mehr zuhörenwill: Ersticken bei vollem Bewusstsein, das ist es, was man sehen will, wenn man jemandennicht mehr hören kann.

Hat sich in den knapp 2500 Jahren seit jenen Ereignissen dramatisch viel geändert? Nicht wirklich. Der Vorwurf der „Asebie“, mit dem (als abweichende Form zur „Eusebie“) die Abweichung gegen die hergebrachten religiösen Auffassungen gemeint war, firmiert in unseren Tagen als Verdikt der „politischen Unkorrektheit“. Der Einwand, damals sei es um religiöse Vorstellungen gegangen, im Falle Sokrates' namentlich um seine angeblichen Bemühungen, neue Gottheiten einzuführen, ist schwach: Die aktuellen Themen,in denen von den Aufpassern auf der zeitgenössischen Agora die Anpassung oder Abweichung im Sinn der politischen Korrektheit überwacht wird, von Gendermainstreaming bis Klimawandel, werden durchaus im religiösen Gestus verhandelt (wer würde sonst von „Klimasündern“ reden?).

Dass sich die Hüter der politischen Korrektheit vor allem um Diskriminierungsverbote kümmern, muss einen auch nicht wundern: Unterscheiden und Abgrenzen, geistigeProzesse, die seit je zum Wesenskern der Philosophie gehören, gehören sich heute nicht mehr. Konrad Paul Liessmann hat sich in seiner jüngsten Publikation, der Essaysammlung„Lob der Grenze“, mit einiger Freude darüber hinweggesetzt. Bestraft wird und wurde er dafür ständig. Ja, alle Philosophen, die sich heute auf die Agora wagen, werden bestraft. Undzwar ziemlich genau so wie zu Sokrates' Zeiten: per Scherbengericht. Jeder Athener Bürger konnte den Namen eines unliebsamenoder seiner Ansicht nach zu mächtig gewordenen Bürgers auf eine Scherbe schreiben (das Ostrakon), diejenigen mit den meisten Nennungen wurden für einen Zeitraum von zehn Jahren verbannt. Das Ostrakon unsererTage ist das anonyme Posting in den Internetforen. Wann immer in den „Mainstreammedien“ über einen der Philosophen, die sichvon den Elfenbeintürmen auf die Agora begeben haben, berichtet wird, startet das digitaleScherbengericht (Digitalis, Fingerhut, ist übrigens eine Pflanze, deren Extrakt als Medikament gegen Herzinsuffizienz eingesetzt wird,in großen Dosen auch als Gift, das durch Herzrhythmusstörungen zum Tod führt).

Die folgenden Fundstücke stammen aus einem Forum in derstandard.at. Die Postings wurden unter einem Interview mit Richard David Precht angebracht, einem Vorabdruck aus Bernhard Pörksens jüngstem Buch, „Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte“: „Precht ist ein Referent, der mit bildungsbürgerlichem Blendwerk auf Kongressen für Unterhaltung sorgt (vergleichbar mit Konrad Paul Liessmann).“ – „Der Hansi Hinterseer der Philosophie.“ – „Precht, Liessmann und Sloterdijk sind dank der Massenmedien das, was sich der Bildungsbürger unter einem Philosophen vorstellt. Precht ist geschmeidig, Liessmann unterhaltsam, und Sloterdijk versteht man nicht, was ihm besonders viel Bewunderung einbringt.“ – „Sloterdijk hat übrigens Precht mit André Rieuverglichen, Liessmann hat ausgerechnetWolfgang Schüssel mit einer Festschrift geehrt. Und das sollen Philosophen sein?“ – „Sloterdijk hat Sarrazin und seinen Rassismus verteidigt, die Kritiker Sarrazins hat er Feiglinge genannt.“ – „So ist es. Sloterdijk hat jahrelang daran gearbeitet, sich als epochaler Großdenker beim Publikum zu etablieren. Dazu gehörte auch ein Interview in der ,Bild‘-Zeitung. Dann hat er sich im richtigen Moment einer Bewegung angeschlossen, die mit Humanität und Geist nichts im Sinn hat. Diese Bewegung fördert massiv Islamophobie und Rassismus, tritt für Lohnsenkungen und Sozialabbau ein. Übrigens haben sich Sloterdijk und Liessmann seinerzeit mit Schüssel getroffen und ihn zum Geburtstag mit einer Festschrift geehrt.“

Es zeigt sich, dass ein großer Teil der Themen und Mechanismen über die Jahrhunderte und Jahrtausende wenig von seiner Aktualität eingebüßt hat: Die Relevanz und Brisanzvon Philosophie entsteht in der Öffentlichkeit,und dieses öffentliche Denken kann für den öffentlichen Denker gefährlich werden. „Manbedenke“, heißt es in einem Aphorismus von Stanisław Jerzy Lec, „dass in dem Feuer, das Prometheus den Göttern gestohlen hat, Giordano Bruno verbrannt wurde.“ Eine nicht unbedeutende Frage ist, wie wir im Zeitalter der Anonymität den Begriff der „Öffentlichkeit“ definieren wollen. Jene Philosophen von Sokrates bis Bruno, die ihre „Asebie“, ihre politische Unkorrektheit, mit dem Leben bezahlen mussten, hatten es mit einer Macht zu tun, die ein Gesicht hatte, ob es sich nun um Päpste, Fürsten, Aristokraten oder Demokraten handelte.

Heute regieren auf der Agora die Vermummten und Maskierten. Es ist, als ob wir den Karneval von Venedig auf Dauer gestellt hätten. Ursprünglich hatte er ja den Zweck, für drei Tage die Machtverhältnisse umzukehren: Unter dem Schutz der Anonymität hattenDiener, Sklaven, Abhängige die Möglichkeit, ihren Vorgesetzten, Herren und Gebietern alldas zu sagen und zu zeigen, was sie währenddes restlichen Jahres nicht hätten sagen und zeigen können, ohne damit ihre Leben zu riskieren. Es war eine totale Umkehrung der Macht für einen klar definierten Zeitraum, eine Art Entlastungsgerinne zur Kanalisierung des Ohnmachtszorns, der sich bei den Deklassierten angestaut hatte. Die anonymen Internetforen sind ein 365 Tage dauernder Karneval von Venedig. Statt eines Entlastungsgerinnes haben wir es mit einem beständigen Strom an Ausgekotztem zu tun, der den sich deklassiert Fühlenden Erleichterung verschafft, ohne dass sie es je schwer gehabt hätten: Es ist ja nicht der Denkschweiß der Unterdrückten, der durch die digitalen Kanäle fließt, sondern der intellektuelle Wohlstandsmüll der aus Bequemlichkeit Maskierten.

Man könnte den solcherart Geschmähtenzurufen: „Nicht wehleidig sein, das ist der Preis dafür, dass man als Denker ständig auf der Bühne stehen will!“ Bloß, was ist das für eine Bühne, auf der sie stehen, die Liessmanns, die Prechts und Sloterdijks? Es ist definitiv nicht jene Bühne, von der Sloterdijk schrieb, als er 1986 seinen Essay „Der Denkerauf der Bühne“ über Nietzsches Frühwerk„Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ veröffentlichte. Sloterdijk beschreibt darin das Heraustreten Nietzsches aus der Gelehrtenwelt der Philologie, die Metamorphose des Philologen zum Philosophen durch die Formulierung einer Theorie des Dramas, „die sich zu einer Urgeschichte der Subjektivität ausweitet“. Die Bühne, die Nietzsche betritt, scheint, so Sloterdijk, eine zu sein, „auf welcher moderne Individuen ein Dramaaufführen, das man als ihre Selbstsuche bezeichnen könnte“. Es ist ein „existenziell aufgerissenes“ Denken, um das es hier geht.

„Wer sich auf diese Art des Denkens einlässt“, schreibt Sloterdijk, „tut dies nicht, um weniger zu leisten, sondern um mehr zu riskieren. Wer als Denker auf die Bühne steigt und sich als Sprecher einer experimentellen Existenz aufs Spiel setzt, hat von da an eine umfassendere Haftung für den unmittelbarenWahrheitswert seiner Vorstellung zu übernehmen. Zugleich hat er ein Recht darauf erworben, dass alles, was er vorbringt, vor Gericht gegen ihn verwendet werden kann.“ Dieses Gericht deute auf eine „zweite Bühne,auf der nicht mehr der Theorie-Abenteurer und Denk-Held persönlich figuriert, sondernseine Kritiker, seine Anhänger und alle diejenigen, die durch Offenheit für seine Suggestionen einen Anspruch darauf erworben haben, den Vordenker für seine Anregungen haftbar zu machen“.

Auf dieser Bühne wird nur noch äußerst selten gespielt. Die philosophischen Bühnenunserer Tage stehen in den Schulzimmern und Hörsälen, in den Fernsehstudios und Veranstaltungssälen. Und die Philosophen führen darauf nicht ihr existenzielles Stück auf, sondern sie versuchen, das Publikum aufden Geschmack des eigenständigen Denkenszu bringen, indem sie möglichst lebendig undmöglichst originell von denen berichten, welche die alten, gefährlichen Bühnen bevölkert haben. Sie selbst stehen weniger auf einer Bühne, als dass sie auf einem Präsentierteller liegen. Und jeder, der seinen Computer oder sein Fernsehgerät einschaltet oder seine Zeitung aufschlägt, meint, er habe damit auchdas Recht erworben, auf den, der da auf demPräsentierteller liegt und nach alter sokratischer Tradition versucht, seinem Publikum durch das Stellen der richtigen Fragen und das Erzählen der richtigen Geschichten das lebendige Denken und das denkende Leben schmackhaft zu machen, anonym hinzuspucken, weil ihm gerade danach ist.

Nicht immer ein schönes Dasein. Aberirgendjemand muss es machen. Danke,Konrad Paul Liessmann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2013)

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