Symbole im Gepäck

Wir sind vollgestopft mit Bildern des schiitischen Gottesstaats. Doch unter der offiziellen Welt einer islamischen Gesellschaftsordnung scheint eine ganz andere Welt durch, die mit der des Korans recht wenig zu tun hat. Reisenotizen aus Teheran.

Sie komme gerade aus Berlin, sagt mir die junge Frau, die neben mir im Flugzeug von Istanbul nach Teheran sitzt; das dezente Kopftuch, das sie sich schon vorsorglich aufgesetzt hat, lässt ihr dunkles Haar hervortreten. Sie habe ihre kranke Schwester besucht, sie wäre noch gerne länger geblieben, aber das Visum ließ sich nicht verlängern. Die andere Schwester lebt in London. Die ältere Frau am Fenster, der ich den Koffer ins Gepäckfach gehievt habe, blinzelt mir freundlich zu und bietet mir Schokolade an. Die Tochter erzählt mir von Studium und Beruf in Teheran. Sie ist gerne hier und wohl noch lieber dort.

Ich weiß, dass ich nicht nur handfestes Gepäck mit mir führe, sondern auch symbolisches. Wir sind vollgestopft mit Bildern von islamischen Ländern. Bilderverbote haben mir immer eingeleuchtet. Sie halten die Welt im Zustand der Fremdheit. Aber es hat den Anschein, dass wir ohne Bilder, ohne die Vorstellungen vom anderen, von anderen Menschen wie von fremden Kulturen, nicht auskommen.

So lange ist es nicht her, dass auch die westlichen Welten von autoritären Konstellationen und Konfigurationen bestimmt wurden. Diese und ähnliche Erfahrungen habe ich auch im Reisegepäck, jene kollektiven, mittlerweile historisch gewordenen Erinnerungen an totalitäre und autoritäre Regime des 20. Jahrhunderts, nicht zu vergessen jene selbstdestruktiven und neo-autoritären Tendenzen, die so verlässliche wie degoutante symbolische Ingredienzien heutiger europäischer Zivilgesellschaften sind. Verführerisch, die islamische Republik mit jenen Herrschaftssystemen von Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus zu vergleichen. Mit jedem von ihnen hat der schiitische Gottesstaat etwas gemein, und doch nimmt er sich zugleich ganz anders aus.

Die Bilder einer autoritär organisierten Gesellschaft, die von einer Gruppe von Intellektuellen, von Theologen und Gelehrten, dirigiert wird, verblassen nicht, sie werden indes von Wahrnehmungen überlagert: von offenen Menschen, die mit einem sprechen möchten, die den Kontakt und den Dialog suchen, die zuweilen recht freimütig, zuweilen auch verstohlen ihre Distanz zum Regime bekunden. Eine solche Sehnsucht nach dem Fremden und eine derartige Gastfreundschaft habe ich selten zuvor erlebt. Schulmädchen und junge Frauen, die dich unbekümmert mustern und dir ihren vielleicht einzigen englischen Satz zurufen, eine junge Frau, die einen eigenen Friseurladen hat und mich durch das Labyrinth des Basars bugsiert. Sie besteht darauf, mich auf einen frisch gepressten Orangensaft einzuladen, was bei mir die Angst auslöst, ob sie, die junge Iranerin mit dem Westler, nicht die Toleranz des allgegenwärtigen Blickregimes überschätzt; später ist es ein Mann, ein Rollstuhlfahrer, der sich sogleich beim Kellner beschwert, warum ich das Gedeck später bekomme als eine Gruppe von Einheimischen, die tatsächlich nach mir das Restaurant betreten hat. Besorgt erkundigt er sich bei mir, was ich bestellt habe. Immer wieder werde ich gefragt, wie mir das Land und die Menschen gefallen.

Es sind Streiflichter an der Oberfläche, aber sie machen eines signifikant: eine merkwürdige Unentschiedenheit der politischen Situation und des Alltags dieser theokratisch regierten Gesellschaft. Ich zucke innerlich zusammen, wenn ich die Frauen in Tschadors eingesperrt sehe. Es mag durchaus sein, dass sich manche ältere und konservative Frauen in diesem symbolischen Gefängnis heimisch fühlen. Schon am ersten Tag wird die semiotische Decodierung dieser abstoßenden und erniedrigenden Verhüllungsbekleidung, die den weiblichen Körper in einen Sack verwandelt, zu einer interessanten Wahrnehmungsaufgabe. All die feinen Unterschiede von den Tschadors der alten Frauen, den Uniformen von Lehrerinnen und Schülerinnen, dann die nicht schwarzen Überhänge bis zu den bunten Kopftüchern all jener Frauen, die viel Haar und ihr geschminktes Gesicht zeigen und die einfach schön sein wollen. Das ist Teil eines Alltags, in dem sich vor allem die jungen Frauen immer an der Grenze einer unsichtbaren roten Linie bewegen, so wie jene, die mich bei ihrem Einkaufsbummel unter die Arme genommen hat. An die unsichtbaren Linien müssen sich alle halten, der Professor für Soziologie ebenso wie der österreichische Botschafter oder meine junge Begleiterin und ich.

Jene, die mit ihrem bunten Kopftuch signalisieren, dass es für sie Dinge gibt, die sie mehr schätzen als die von oben verordnete Kleiderordnung, sie tragen unter all dem dasselbe Gewand wie ihre westlichen Altersgenossinnen: die verlässlichen Jeans, die noch in meiner westlichen Jugend Gegenstand innerfamiliärer Auseinandersetzungen gewesen sind. Vielleicht bringt dies den Widerspruch dieser Gesellschaft auf den Punkt: Unter der offiziellen Welt einer islamischen Gesellschaftsordnung scheint eine ganz andere Welt durch, die mit der des Korans recht wenig zu tun hat. Wenn man Einheimische von wissenschaftlichen und intellektuellen Begegnungen her kennt, dann kann man einen Abend verbringen, der sich in seinen Verhaltensmustern kaum von einem Gesellschaftsabend in Wien, Berlin oder anderswo unterscheidet. Da lässt sich über Nietzsche ebenso diskutieren wie über die Frage, ob die in Teheran praktizierte Psychoanalyse sich von jener in Wien oder New York unterscheidet. Und selbst die Studierenden der Universität Teheran, mit denen wir über Kulturwissenschaft, aber auch über den Islam in Europa sprechen, machen nicht den Eindruck, dass sie von der Welt da draußen abgeschnitten wären.

Es ist diese gedoppelte Welt, die das Land so ungewöhnlich, so interessant, so unberechenbar macht. Auf der einen Seite gibt es das Regime, das die Einhaltung all der von ihm erlassenen Vorschriften und Beschränkungen nicht zuletzt mit Polizei und „Tugendwächtern“ kontrolliert und überwacht; und auf der anderen Seite tun sich selbst im Bereich des Politischen Spielräume auf, wie sie den europäischen Diktaturen des 20.Jahrhunderts fremd waren. Das ergibt das Selbstbild einer theologisch gelenkten Republik, in der die religiösen Machthaber ihrem Volk verkünden, was richtig und was falsch ist.

Die Unfreiheit verfügt, wie das die französischen Philosophen Deleuze und Guattari einmal pointiert vermerkt haben, über eine starke, perverse Anziehungskraft. Mögen selbst so manche Anhänger der gottgelehrten Herrschaft über all die Einschränkungen zuweilen murren, so stiftet diese zugleich Sicherheit, Ordnung und Eindeutigkeit.

Nach Teheran geflogen bin ich auf Einladung der beeindruckend engagierten österreichischen Vertretung im Lande. Hier wird seit mittlerweile zwei Jahrzehnten interreligiöser und intellektueller Dialog geführt, auf allen Ebenen, nicht ohne Risiko, mit einigem Erfolg – wenn man es denn als Erfolg ansehen darf, dass dieser Dialog überhaupt stattfindet. Es ist wie in einem Fußballspiel, das von vornherein darauf angelegt ist, mit einem Remis zu enden: Die andere Seite darf nicht offensiv und selbstherrlich überdribbelt werden, aber zu defensiv darf man sich auch nicht geben, das würde uns niemand hier abnehmen.

Das Thema der österreichisch-iranischen Gespräche ist breit gefächert, gruppiert um Menschenwürde, Religion, Ethik und interkulturellen Dialog. Das eigentliche Anliegen unserer Gastgeber tritt schnell zutage, nämlich uns gegenüber ihre Sicht von Meinungsfreiheit zu entwickeln und dabei hervorzuheben, dass ihre Position im Einklang mit den Menschenrechten steht, so wie sie diese verstehen; bei diesen ziemlich monologischen Darlegungen, bei denen die Mohammed-Karikaturen immer wieder Revue passieren, geht es oftmals ziemlich scholastisch zu. So wird im ersten Halbsatz die Meinungsfreiheit wie die Freiheit überhaupt begrüßt, um sie im nächsten Atemzug zu limitieren und letztlich auszuhebeln. Denn sie findet sogleich ihr Ende, wenn die Ehre und die Würde des Islams verletzt werden. Wer diese Verletzung definiert, bleibt zwar offen, ist aber klar: Es ist die professionelle Gelehrsamkeit. Das ist eine Obsession, ein für alle Mal festlegen zu wollen, was erlaubt und was verboten ist – auf dieser symbolischen, durch die traditionelle Koran-Auslegung festgelegten Architektur beruht dieses autoritäre, historisch selbst erfundene Regime.

Unsere Gesprächspartner betonen immer wieder die Rationalität ihrer Argumente. Die Schia sei, so erklärt man mir beim Mittagessen, stolz auf ihre fast protestantisch zu nennende logische Akribie und eine möglichst genaue Textauslegung der einschlägigen Stellen im Koran. Als wir auf die Herausforderung, die die modernen Wissenschaften für das Christentum bedeuten, zu sprechen kommen, setzen unsere Gesprächspartner eine unmissverständliche Differenz. Für sie sind das zwei streng getrennte Welten: hier die Welt der Religion mit ihren Gewissheiten und unumstößlichen Wahrheiten, dort die Welt der Wissenschaft, deren Befunde ja lediglich Hypothesen seien. Schon deshalb hat Aufklärung als historisches Ereignis wie als Prinzip keinen rechten Platz in diesem theologischen Diskurs, kann und darf es in dieser Interpretation des Islams eigentlich keine Religionskritik geben, von der das säkulare Christentum im Westen nachhaltig geprägt ist. Zugleich aber ist eine Toleranz von oben möglich, die Kopernikus und Darwin ebenso betrifft wie eventuell auch Freud. Und natürlich die (anderen) „göttlichen“ Religionen. Christentum und Judentum.

Das Bild des Menschen ist dieser Vorstellung zufolge durch den Koran ein für alle Mal festgelegt. Es zeigt ihn – das ist uns aus der traditionellen christlichen Dogmatik durchaus bekannt – als ein rationales Lebewesen, das klar zwischen Gut und Böse unterscheiden kann und mit einem festen Willen ausgestattet ist. Seine Freiheit ist eingeschränkt in Hinblick auf die Verletzung der Menschenwürde des anderen, und diese ist wiederum durch dessen Bindung an das unveräußerlich Heilige, das Allah und sein Prophet verkörpern, bestimmt. Das Heilige aber ist seiner ganzen Definition nach das, was sich jedweder Kritik entzieht. Darauf basiert dessen Autorität. Und aus dieser messerscharfen Logik resultiert zwangsläufig, dass ein Werk wie Rushdies „Satanische Verse“ zwangsläufig blasphemisch ist und die Muslime in ihrer Menschenwürde verletzt.

Ich begreife allmählich, warum dieser Punkt unseren Gesprächspartnern so wichtig ist: Zum einem bildet er ein Herzstück des fundamentum regnorum, zum anderen aber ist darin der Wunsch nach Anerkennung im interkulturellen Dialog ablesbar. Wir wollen in unserem way of life von der westlichen Seite, vor allem aber von den Christen, so anerkannt werden, wie wir gläubigen Muslime sind. Diese Aufforderung zur Anerkennung schließt natürlich die politische Verfasstheit im Iran ein. Das ist eine vertrackte Verknüpfung, die unserm Dialog enge Grenzen setzt. Übrigens stellen wir uns hierzulande nur selten die Frage, was wir von den verschiedenen Ausformungen des Islams eigentlich lernen, aufnehmen oder integrieren könnten. Vor Jahren schrieb einmal eine liberale britische Journalistin von den sozialen Tugenden des Islams. Sie meinte ganz offenkundig jenen dem Islam inhärenten Kommunitarismus, der das Soziale in der Gesellschaft verankert. Ganz offenkundig prämiert die westlich-kapitalistische Gesellschaft demgegenüber all jene problematischen menschlichen Eigenschaften, die für die Profitmaximierung maßgeblich sind: Kälte, Gier und Geiz, die schamlose Ausnutzung von Not und Mangel.

Nach zwei langen Konferenztagen hat uns der Alltag, dieser moderne, lärmende Wirbel des Stadtmolochs Teheran, wieder. Wir besuchen diverse Moscheen, wir finden uns zusammen mit Botschafter Thomas Buchsbaum zu kleineren Gesprächen ein, etwa mit dem Vertreter einer der marginalisierten christlichen Kirchen. Und da wird deutlich, dass die iranischen Menschen in einer Gesellschaft leben, die einiges mit Orwell gemeinsam hat, und dass wir uns hier in einer permanenten Beobachtungssituation befinden, sodass jedes Wort sorgfältig abgewogen werden muss.

Wie es mit diesem Land weitergehen wird, will niemand voraussagen. Es ist – trotz allem, und das wird im Westen geflissentlich übersehen – jenes Land, das nach der Türkei wohl die besten Voraussetzungen für eine demokratische und kulturell zugleich eigenständige Entwicklung mitbringt; es verfügt über ein breites kulturelles Erbe, das eine eigene Sprache ebenso umfasst wie andere religiöse Traditionen, etwa die Religion des Zoroaster, es verfügt über eine bedeutende literarische und mittlerweile auch filmische Kultur, und es ist nicht zuletzt durch eine anhaltende Migration und Rückwanderung aus der gebildeten Mittelschicht mit der Welt verbunden.

Viel gefährlicher als liberale „westliche“ Gruppen dürfte für die theokratische Ordnung freilich ein durch und durch zwiespältiges Phänomen sein: der Konsumismus und, Hand in Hand damit, die neuen Medien. Natürlich wirken diese Erscheinungen auch als ein Beruhigungsmittel, um in der gesellschaftspolitischen Konfrontation der Generationen Dampf abzulassen. Das konsumistische Freiheits- und Gleichheitsversprechen ist, so illusionär es letztlich sein mag, unvereinbar mit der Strenge der religiösen Ordnung. Nichts, was zum Kauf angeboten wird, unterliegt einem Verbot oder Gebot. Die einzige Spielregel in Mode und Konsum lautet bekanntlich, dass man das Geld haben muss, um sich die begehrten Fetische jener säkularen Religion namens Kapitalismus aneignen zu können.

Ob es einen friedlichen Übergang zu einer demokratischen Ordnung geben kann, hängt nicht von der Wahl des neuen Präsidenten ab, sondern wird in der theologischen Nomenklatura entschieden. Deren friedlicher und allmählicher Rückzug aus der Politik wäre die einzige Möglichkeit eines friedlichen Überganges in eine Republik, in der die Menschen nicht nur über eng begrenzte Alternativen in der Politik abstimmen dürfen, sondern in der es prinzipiell erlaubt, sogar erwünscht ist, Nein zu sagen.

Das Embargo wird dieses potenziell wohlhabende Land wohl kaum in die Knie zwingen, höchstens dazu nötigen, wie im Falle des Syrien-Konflikts taktische Allianzen mit den Gegnern des Westens zu einzugehen, etwa mit Russland oder China. Die gegenwärtigen Erfolge des Embargos können demnach schon sehr bald kontraproduktive Wirkungen zeitigen. Eine demokratische Republik Iran wäre politisch nicht unbedingt ein willfähriger Partner des Westens. Analogien sind wie gesagt immer problematisch, aber der Dialog mit dem untergegangenen Realsozialismus hat mehr zu dessen Transformation beigetragen als die polternden, für das heimische Publikum gedachten Parolen des Kalten Kriegs es getan haben. Amerikaner, Europäer und Israelis wären gut beraten, nicht auf die Karte der totalen Konfrontation zu setzen. Die gemeinsamen Internetaktionen iranischer und israelischer Jugendlicher geben hier auf überaus positive Weise einen Anstoß. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)

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