Die Wahrheit hinter 16 Lügen

Ich kenne Friedrich Zawrel seit 1979. Damals war das Spiegelgrund-Opfer zum zweiten Mal in die Fänge des NS-Euthanasiearztes Heinrich Gross geraten. Dieser Tage hat man Zawrel ein Goldenes Ehrenzeichen überreicht. Eine unerwartete Geste. Das Böse, das man ihm angetan hat, werde ich dieser Republik dennoch nie verzeihen.

Dem Bürger Friedrich Zawrel wurde am 15. Mai vom Ministerium für Kunst und Kultur das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich überreicht. Das ist eine unerwartete Geste jener „lieben Republik“ (Zawrel), die ihm noch lange nach 1945 viel Böses angetan hat. Ich weiß das und werde es der „lieben Republik“ nie verzeihen.

Friedrich Zawrel hat immer und unerschrocken das Wichtige zum richtigen Zeitpunkt gemacht. Schon als unschuldig inhaftiertes Kind am Spiegelgrund hat er seinen Peinigern, dem losdreschenden Primarius Illing und dem niederspritzenden Euthanasiearzt Heinrich Gross, mit den Russen, mit dem Aufhängen gedroht. Die Russen kamen, Illing wurde wegen vielfachem Kindermord und dem Quälen von Kindern zum Tod verurteilt und hingerichtet. Gross war auf der Flucht. Zawrel selbst gelang schon vor der Befreiung Österreichs unter Mithilfe einer jungen und mutigen Schwester, Rosi, die keine Mitläuferin war wie sonst fast alle am Steinhof, die Flucht aus der Mörderklinik.

Ich kenne Friedrich Zawrel seit 1979, wir begleiten uns schon 34 Jahre lang. Damals war er zum zweiten Mal in die Fänge des Euthanasiearztes Heinrich Gross geraten, der sich still und heimlich im BSA und als Gerichtspsychiater der Justiz angedient hatte. Zawrel war wegen einer Art „Mundraub aus Armut“ Häftling in Stein, hatte ab 1975 ein Gutachten von Gross am Halse, der ihn, nach der Spiegelgrund-Diagnose „minderwertig, weil aus armer Familie“, nun zusätzlich mit „lebensuntüchtig“ markierte. Damit wollte Gross den Spiegelgrund-Insassen Zawrel, der ihn als Euthanasiearzt identifizierte, lebenslang unter seine Kontrolle bringen.

Die Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin erzählte, was Zawrel erlebt hatte. Wir störten einen Kongress der forensischen Medizin in Salzburg, verlangten eine Themenänderung: Nicht über Tötungsdelikte von, sondern an Geisteskranken sollte Euthanasiearzt Gross referieren. Er verklagte mich wegen „übler Nachrede“, da ich ihm konkret die „Mitbeteiligung an der Tötung von Hunderten, angeblich geisteskranken Kindern“ vorgeworfen hatte. Der Erst- und Einzelrichter Bruno Weis verurteilte mich, sprach Gross von jeder Mitbeteiligung frei. Es brach eine Empörungswelle aus, mehr als 3500 Mitbürger erstatteten Selbstanzeige, unterschrieben meine „üble Nachrede“. Das half mir, aber auch Friedrich Zawrel, dessen Geiselnahme durch Gross landesweit bekannt wurde. Das Oberlandesgericht gab mirund unserem Kronzeugen recht, die Nachrede war nicht übel, sondern richtig. Mein Satz von der „Mitbeteiligung an der Tötung Hunderter, angeblich geisteskranker Kinder“ konnte straffrei in Österreich plakatiert werden. Gross aber blieb Primarius in Wien und Gutachter bei den Strafrichtern.

Mein Freispruch erfolgte im März 1981. Im Juni des Jahres 1981, 36 Jahre nach Kriegsende, gelang es uns, einen psychiatrischen Gutachter zu finden, der kein Nationalsozialist war. Er war aus Linz, hieß Gerhard Kaiser und wies nach, dass alles unrichtig war, was bei Gross und seinesgleichen über Zawrel niedergeschrieben wurde.

In der Justizanstalt Stein und unter dem Anstaltsdirektor Hofrat Karl Schreiner, der an den Gross-Gutachten heftige Zweifel hatte, konnte Zawrel mit seinem Eigenunterricht beginnen. Bis dahin wurden ihm zwei Schuljahre gegönnt. Später und in Freiheit setzte er die autonome Bildungsarbeit fort: Lesen, schreiben, denken, urteilen. Heute ist er ein hochkarätiger Privatgelehrter. Ich verlieh ihm den Titel „Professor Zawrel“.

Isolierhaft in der Mordanstalt

Bedenken wir, was alles Friedrich Zawrel zu überwinden hatte: zuerst schwerste Lebens-und Bildungsbehinderung durch die faschistische Fehlfürsorge in den Unterbringungsanstalten österreichischer Prägung. Nach aufgedeckten Übergriffen eines Erziehers am Kinde Zawrel kommt dieser vor Gericht und das Opfer auf den Spiegelgrund. Hier gewalttätige Bildungsbehinderung: Isolierhaft in der als „Heilpädagogische Anstalt“ getarnten Mordanstalt; er wird von Primarius Illing niedergeschlagen, als er um ein Buch bittet und dann von Gross niedergespritzt. Gross gibt das 1980 zu und erklärt dem lachenden Einzelrichter Bruno Weis, dass das „Speiberl“ damals üblich war und „halb so schlimm“. Das ließ der Einzelrichter gelten. Dem gefielen die „makaberen Gross-Geschichten“, die Wickelkur, die Schlemperkur, das fast Erfrieren und fast Ertränken von unschuldigen Kindern.

In der Strafanstalt Stein, verurteilt, weil arm und in bittere Not geraten, ein Nachkriegssozialfall, nimmt die bis dahin ununterbrochene Lebens-und Bildungsbehinderung Zawrels ein Ende. Ausgerechnet in Stein. Als ich ihn 1979 dort besuche, sitzt er in einer zur Studierstube umgebauten Einzelzelle, erhält vom Gefängnisdirektor alles, was er zu seiner Nachschulung verlangt und benötigt: Bücher, Bücher, Bücher.

Mein Anwalt, Johannes Patzak, ist von Zawrel ebenso beeindruckt wie ich, und so wird Zawrel „unser Kronzeuge“ gegen Heinrich Gross. Er erhält eine öffentlich sichtbare Rolle. Der Erstrichter Bruno Weis ist beleidigt und verstimmt, dass man ihm einen Häftling aus Stein als Kronzeugen anbietet. Die drei Richter am Oberlandesgericht unter dem Vorsitzenden Hofmann hören Zawrel gut zu, weisen Gross 16 wahrheitswidrige Schutzbehauptungen nach (16!),widersprechen auch dem Märchen, dass er ein kleiner, unbedeutender Nazi gewesen sei. Ihr Urteil: Gross war als überzeugter Nationalsozialist Mitbeteiligter am Euthanasieprogramm Hitlers, war dafür in Berlin geschult worden, wurde von der Reichskanzlei des Führers „UK gestellt“, unabkömmlich wegen Euthanasiearbeit am Spiegelgrund. Für das Aufspüren von Opfern, deren Vermessung und Meldung nach Berlin, für die als Behandlung getarnte Tötung und die Fälschung der Krankengeschichten, den Betrug an den Eltern, dafür bezog Gross Sonderhonorare.

Aufgespürt hat er das Kind Elisabeth Schreiber in Znaim, hat es zum Spiegelgrund transferiert, eine Meldung nach Berlin verfasst und unterschrieben, von dort die „Ermächtigung zur Behandlung“ erhalten, also zur Tötung, worauf das Kind schwer erkrankte und starb. Vorher verständigt er noch die Eltern von der Krankheit und dem drohenden Tod. Gross trägt den Tod des Kindes in die Krankengeschichte ein, nicht die Todesursache. Das Oberlandesgericht urteilt: „Ein klarer Fall von Euthanasie.“

Friedrich Zawrel verließ Stein auf immer im Juli 1981. Alle in der Anstalt, vor allem Direktor Schreiner, haben sich gefreut. Ein im österreichischen Hitler-Faschismus grundgelegtes Unrecht – Isolierung und Inhaftierung eines Menschenkindes wegen Armut samt Bildungsentzug – nahm 36 Jahre nach der Befreiung unseres Landes ein Ende. Seit nun schon fast 20 Jahren ist der Privatgelehrte Friedrich Zawrel in Mittelschulen, Berufsschulen, Pflegelehranstalten, vor Richtern und Staatsanwälten und nun, seit April 2013, auch vor dem österreichischen Psychiatriekongress, als Vortragender unterwegs und ausgebucht.

Zawrel gibt mit seinen Auftritten dem österreichischen Nachkriegsfaschismus ein Gesicht, nennt Namen, erklärt die Brutalität der Verheimlicher und Zudecker. Wie etwa damals, 1978, spätabends in Stein der Psychiater Sluga auftrat, ein in den Siebzigerjahren als Berater von Justizminister Broda bekannter Welterklärer und Justizreformer bei ihm eindrang und „sofortige Ruhe“ im Fall Gross von ihm forderte. „Hören Sie damit auf, oder Sie werden von Stein in die Psychiatrie überstellt, und dort geht es nicht so gemütlich zu wie hier in Stein.“ So drohte der Psychiater Sluga dem Psychiatrieopfer Zawrel mit der Psychiatrie. Eine schreckliche Geschichte.

Vor mehr als einem Jahrzehnt hat die schreibende und darstellende Kunst das Leben des Friedrich Zawrel entdeckt. Oliver Lehmann und Traudl Schmidt haben 2001 für den Czernin Verlag „Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel“ geschrieben. Michael Scharang hat die Geschichte „Mein Mörder“ verfasst und im „Spectrum“ veröffentlicht. „Die führen zwei Kriege“, erklärt der geflohene Knabe seinem Mädchen den Nationalsozialismus, „einen Krieg gegen Bewaffnete, den verlieren sie, und einen gegen Wehrlose, den gewinnen sie.“ Den gegen Zawrel haben sie verloren.

Scharangs Tochter, Elisabeth, hat mit ihrem Vater ein Drehbuch geschrieben, hat mit Karl Markovics in der Hauptrolle den sensiblen und beeindruckenden Fernsehfilm „Mein Mörder“ gedreht, der mehrfach international ausgezeichnet wurde. In Elisabeth Scharangs Fernsehfilm „Meine liebe Republik“ erzählt Friedrich Zawrel selbst sein Leben im Kriegs- und Nachkriegsfaschismus Österreichs. Wie Friedrich Zawrel seine erlittene „Universalgeschichte der Niedertracht“ (Jorge Luis Borges) aus sich herausholt und uns nahezu fröhlich mitteilt – immerhin, alles überlebt –, das hat Filmgeschichte gemacht.

Eingemauert von der Justiz

Das Wiener Volkstheater, das Theater in der Josefstadt haben Psychiatrie- und Spiegelgrund-Geschichten über Zawrel auf die Bühne gestellt. Mit Zawrel, denn er hat und hatte immer ein Mitspracherecht, wurde nie „enteignet“. Das Figurentheater von Simon Meusburger und Nikolaus Habjan hat nach Erzählungen von Friedrich Zawrel das Stück „Erbbiologisch und sozial minderwertig“ geschrieben und inzwischen in ganz Österreich, in Deutschland und in der Schweiz zur Aufführung gebracht. Immer ausverkauft. Nach der Aufführung wissen alle, wem soziale Minderwertigkeit nachzuweisen ist: dem Euthanasiearzt und seinen Helfershelfern bis hinauf zum Jahre 2000, als die letzte Schutzbehauptung von Gross, die Demenz, von den Gerichtspsychiatern beglaubigt wurde.

Auf die Frage, ob Gross die Demenz nur gespielt habe, lautet die Antwort des Gerichtspsychiaters, das sei undenkbar. Gross sei derart gebildet und erfahren, dass er niemals zu so einem billigen Täuschungsmanöver greifen würde. Und was ist mit den 16 „wahrheitswidrigen Schutzbehauptungen“, die ihm das Oberlandesgericht vorhielt?

Nach der freundlichen Klassifizierung „verhandlungsunfähig“ waren Zawrel und ich uns einig: Es gibt keine Gerechtigkeit, es gibt nur Urteile. Und im Falle Gross wurden durch „die liebe Republik“ alle Anstrengungen unternommen, ein rechtsgültiges Urteil – es ging im Jahre 2000 um Mord als Beteiligter in neun Fällen – zu verhindern.

Wenn ich Friedrich Zawrel in seinem Studierstübchen im Pflegewohnhaus Meidling besuche, kramt er bald in seinen Briefordnern und liest mir vor. Es wird republikweit keinen Lehrer geben, der so viel Dankespost erhält wie der Privatgelehrte Zawrel. Es sind Hunderte Briefe, Fotos aus der ganzen Welt. Die Kinder und Jugendlichen wissen, dass Zawrel viele Länder und ganze Erdteile nie sehen konnte, weil ihn der Faschismus, die Justiz und die Psychiatrie so lange eingemauert haben. Die reisenden Kinder schicken dann getrocknete Blumen von Meeresinseln, eine Fiole mit Wüstensand, einen Kaugummi. Das alles steht griffbereit auf einem Kästchen neben seinem Bett. Kindergrüße eben. Anfassbare Lebenshilfe. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2013)

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