Die Schrift des Dr. Indra

4. Juni 1938: Sigmund Freud verlässt Wien. Davor muss er allerdings eine „Erklärung“ unterschreiben, von jenen, die ihn verjagen, korrekt behandelt worden zu sein. Eine Nötigung, die er mit dem Nachsatz quittiert: „Ich kann die Gestapo jedermann auf das Beste empfehlen.“ Tatsache – oder doch nur Anekdote?

Vor 75 Jahren, genau genommen am 4. Juni 1938, musste Sigmund Freud für immer Wien, die Stadt, in der er 79 Jahre gelebt hatte, verlassen. Um dies zu ermöglichen, mussten eine Reihe von Bedingungen der Nazi-Behörden erfüllt werden. Die letzte Bedingung in dieser Reihe bestand in der Unterfertigung einer Erklärung.

In seiner Biografie „Leben und Werk von Sigmund Freud“ schreibt Ernest Jones darüber: „Als der Nazi-Kommissar das Papier brachte, erhob Freud natürlich keinen Einwand, seine Unterschrift zu erteilen; aber er fragte, ob er einen Satz beifügen dürfe: ,Ich kann die Gestapo jedermann aufs Beste empfehlen.‘“ Desgleichen ist bei Peter Gay („Freud – Eine Biografie“) zu lesen: „Kurz bevor die Behörden die Freuds gehen ließen, bestanden sie darauf, dass er eine Erklärung unterschrieb, dass sie nicht misshandelt worden waren. Freud unterzeichnete und fügte den Kommentar hinzu: ,Ich kann die Gestapo jedermann auf das Beste empfehlen.‘“

Die Geschichte hat sich nicht nur in den beiden großen angelsächsischen Biografien Freuds, sondern auch im Geschichtsbild gebildeter Österreicher durchgesetzt. Sie steht hier gewissermaßen für ein besseres Österreich, das sich dem Nationalsozialismus widersetzt oder immerhin, jedenfalls mental, nicht angeschlossen hat. Dieses bessere Österreich hat nach 1945 reichen Zulauf erhalten. Viele Österreicher stellten fest, dass sie zwischen 1938 und 1945 im Grunde keine Nazis gewesen seien oder jedenfalls nur mit Mentalreservation.

Kein Wunder, dass die Anekdote in dieser Nährlösung der Nachkriegszeit bestens gedieh. Sie diente als eines von vielen Symbolen des prononcierten Österreichertums, das nach 1945 Österreich bestimmte. Der Nachkriegskonsens basierte unter anderem auf einer relativ weitgehenden Übereinstimmung, dass der„Anschluss“ ein Fehlergewesen sei. So gesehen konnte die Anekdote als Bekenntnis zum neu erwachten österreichischen Patriotismus kolportiertwerden. Man konnte sich mit ihr der bewusst gewordenen Identität wieder versichern. Sigmund Freud reagiert in der Geschichte bewusst doppelbödig, um nicht zu sagen „österreichisch“, was der „deutschen“ Gestapo offenbar nicht auffällt. Der unterschwellige Hohn wird nicht verstanden, sondern das Postskriptum Freuds als zusätzliches Lob gewertet.

Ich muss gestehen, dass diese Geschichte auch zum festen Inventar meines Vergangenheitsbildes gehörte. In gewisser Weise blieb aber im Zusammenhang mit ihr ein Unbehagen, um nicht zu sagen ein Zweifel. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Meiner Erfahrung nach sind Anekdoten, vor allem wenn sie amüsant sind, in der Regel historisch nicht belegbar. Sie geben die Geschichte oft nicht so wieder, wie sie wirklich war, sondern stellen einen Versuch dar, mit der Vergangenheit auszukommen, sodass man mit ihr weiterleben kann. Nicht von ungefähr lesen sich viele Autobiografien von Mitgliedern der Kriegsgeneration wie eine Anekdotensammlung. Was sich nicht in die Form einer Anekdote gießen lässt, fällt durch den Raster der Geschichte.


Mitglieder der Nachkriegsgeneration wie ich wurden von den Erlebnissen der Eltern ganz entscheidend bestimmt. Nach dem Prinzip, wonach auch keine Kommunikation eine Kommunikation darstelle, konnte auch das Schweigen der Eltern vielsprechend sein.

Im Falle meiner Mutter war von Schweigen keine Rede. Erinnerungen an die Zeit zwischen 1938 und 1945 prägten sie für ihr Leben. Sie bezeichnete den März 1938 als das Ende ihrer Kindheit und Jugend und tat sich auch in der optimistischen Nachkriegszeit schwer, den Menschen nicht desillusioniert zu sehen.

Ein Wiener Freund aus dieser Zeit, den sie sehr schätzte, war Alfred Indra. Er war um einiges älter als meine Mutter, außerdem verheiratet, aber in durchaus platonischer Weise ein großer Verehrer meiner Mutter. Er hatte im Ersten Weltkrieg gedient, war von einem altmodischen Ehrbegriff durchdrungen, in seinem Denken aber modern, aufgeschlossen und interessiert. Wie viele Österreicher war er nicht nur ein ständiger Leser der „Fackel“ von Karl Kraus, sondern den Erzählungen nach bereits ab den frühen 1920er-Jahren nicht nur an den Schriften von Sigmund Freud interessiert, sondern auch mit diesem in einem intellektuellen Kontakt.

Er hatte eine schöne Wohnung in der Wickenburggasse 3 in Wien, ein Gut südlich von Wien bei Buchbach und war in pekuniärer Hinsicht von seinem Beruf als Rechtsanwalt nicht abhängig. Sein Beruf hinderte ihn in keiner Weise daran, seinen geistigen Interessen und seiner Sammlerleidenschaft nachzugehen.

Sowohl meine Mutter wie mein Vater schätzten Alfred Indra sehr. Es war für beide klar, dass nach meiner Geburt nur er als Taufpate in Frage komme. Ohne es zu wissen, brachten meine Eltern mich damit ins Spiel, was die eingangs erwähnte Geschichte von der Ausreise Sigmund Freuds anbelangt.


Alfred Indra wurde nämlich von Freud gebeten, anlässlich seiner Ausreise als Anwalt für ihn tätig zu werden. Für diese Wahl dürften die erwähnten früheren Kontakte, die möglicherweise auf die 1920er-Jahre zurückgehen, gesprochen haben. Ganz entscheidend dürften allerdings zwei Punkte gewesen sein: Alfred Indra war ein entschiedener Gegner der Nazis, und er war kein Jude. Als Anwalt Freuds verhandelte er mit den Nazi-Behörden über die Ausreise Sigmund Freuds und seiner Familie und spielte auch im letzten Akt, der Unterfertigung der bewussten Erklärung durch Freud, eine Schlüsselrolle.

Bei der neuerlichen Lektüre einer Freud-Biografie, ich glaube, es war im Jahr 2003, kam ich wieder einmal zu der Schilderung des Freudschen Postskriptums. Ich wäre der Sache gerne auf den Grund gegangen. Alfred Indra war damals schon lange tot (er starb im April 1964), und auch seine Frau, Hedwig Indra, war mittlerweile, Ende der 1980er-Jahre, gestorben. Sie vermachte mir und meinem Bruder die Bibliothek ihres Mannes. In diesem Zusammenhang war mir erinnerlich, dass unter den nachgelassenen Papieren meines Taufpaten sich auch sein Briefwechsel mit Sigmund Freud befunden hatte, der von den Erben Hedwig Indras verkauft worden war. DieDurchsicht alter Auktionskataloge von Sotheby's und Christie's blieben allerdings fruchtlos. Meine Recherchen waren damit im Sand verlaufen. Ich erzählte dies bei irgendeiner Gelegenheit einer Freundin, von der ich wusste, dass die Familie ihrer Mutter in der Wickenburggasse 3 ebenfalls eine Wohnung hatte. Diese wiederum erzählte die Geschichte ihrer Mutter.

Zu meinem großen Erstaunen erhielt ich einige Zeit später den Katalog 100 von Christian M. Nebehay, Wien. Die Mutter meiner Freundin hatte ihn unter ihren Papieren gefunden. Der Auktionskatalog, am 11. Mai 1989 herausgegeben, war in ausgezeichneter Weise von Hansjörg Krug bearbeitet worden.

Einer der Punkte der damaligen Auktion waren „Briefe und Dokumente Sigmund Freuds zu seiner Emigration am 4. Juni 1938“. Eine Rücksprache mit Nebehay in Wien ergab, dass das Konvolut von der Österreichischen Nationalbibliothek erworben worden war. Ernst Gamillscheg und Andreas Fingernagel von der Handschriftensammlung der Nationalbibliothek ließen mirfreundlicherweise Kopien des Briefwechsels, vor allem der Erklärung vom 4.Juni 1938, zukommen. Der Text der Erklärung lautet: „Ich bestätige gerne, dass bis heute den 4. Juni 1938, keinerlei Behelligung meiner Person oder meiner Hausgenossen vorgekommen ist. Behörden und Funktionäre der Partei sind mir und meinen Hausgenossen ständig korrekt und rücksichtsvoll entgegen getreten. Wien, den 4.Juni 1938. Prof Dr. Sigm. Freud“

Der Text der Erklärung stammt handschriftlich von Alfred Indra und ist von Sigmund Freud eigenhändig unterschrieben worden. Ein Postskriptum Freuds scheint nicht auf.


Die Anekdote lässt sich somit nicht belegen. Sie kann meines Erachtens auch in psychologischer Hinsicht nicht stimmen. Vergegenwärtigt man sich die Atmosphäre in Wien im Juni 1938, so passen Scherze dieser Art nicht ganz zu der damaligen Situation. Hinzu kommt eine fachlich-juristische Überlegung. In juristischer Hinsicht ist davon auszugehen, dass die Erklärung, so wie das auch bei Vertragsentwürfen üblich ist, mit der Gegenseite akkordiert war. Jede Änderung hätte den Verhandlungsprozess über die Ausreise nicht abgeschlossen, sondern infrage gestellt und damit die Abreise gefährdet.

Der von Alfred Indra handschriftlich formulierte Text ist, so gesehen, nicht ein einseitiger Entwurf, sondern das Ergebnis seiner Verhandlungen mit den Nazi-Behörden. Selbst wenn das Freud als Nicht-Juristen nicht klar gewesen sein sollte, müsste es ihm Indra vor der Unterschriftleistung klar gemacht haben.

Es gibt möglicherweise eine andere Erklärung für die Entstehung der Legende. Alfred Indra war ein geistreicher, witzigerMensch, der sich offensichtlich mit Freud und seinen Angehörigen gut verstand. Man dachte in gewisser Weise ähnlich. Die Geschichte könnte sich daher vielleicht so abgespielt haben: Als Indra Freud den akkordierten Text präsentierte, könnte Freud gesagt haben, dass es vielleicht hilfreich wäre, noch ein Postskriptum anzufügen, wonach er die Gestapo jedermann aufs Beste empfehlen könne. Dieser Scherz könnte Freud die Unterfertigung erleichtert und Indra gefreut haben. Indra könnte die Geschichte Franz Rudolf Bienenfeld erzählt haben, der sie wiederum an Ernest Jones weitergab. Die Darstellung von Ernest Jones wurde wiederum von Peter Gay übernommen und weiterentwickelt. Was zunächst als Scherz zwischen Freud und Indra begann, könnte in weiterer Folge von Ernest Jones und anderen für bare Münze genommen worden sein. Hansjörg Krug kommt übrigens im Nebehay-Katalog zu einem ähnlichen Ergebnis.


Dass Ernest Jones den Wiener Kontext von Freud und die Person von Alfred Indra sowie seine Beziehung zu Sigmund Freud nicht ganz verstanden haben kann, zeigt auch eine andere Stelle in seiner Biografie. Indra besuchte Freud 1939 in London, der sich mittlerweile dort niedergelassen hatte. Aufgrund der politischen Situation reiste Indra zunächst in die damals noch neutralen USA, sodass der Besuch in London als Zwischenstopp einer Amerikareise nach außen hin erklärt werden konnte.

In diesem Zusammenhang schreibt Ernest Jones: „Dass die gemischten Gefühle gegenüber Wien weiter bestehen blieben, zeigte sich bei einem merkwürdigen Vorkommnis ein Jahr später. Im Mai besuchte ihn Indra, der sich auf der Rückreise aus Amerika befand. Beim Abschied bemerkte Freud: ,Sie gehen also zurück nach – ich komme nicht auf den Namen der Stadt!‘ Indra, dem Freuds eigentümlicher Humor nicht vertraut war, verstand dies wörtlich als Vergesslichkeit; aber für mich besteht kein Zweifel, dass Freud mit dieser angeblichen Amnesie absichtlich andeuten wollte, wie sehr er sich bemühe, Wien zu vergessen.“

Ernest Jones bezieht sich hier auf eine Mitteilung von Indra an Bienenfeld. Diese zweite Geschichte hatte ich nicht in Erinnerung. Sie hängt aber in gewisser Weise mit der ersten Anekdote zusammen. Wie bei der ersten Anekdote glaube ich, dass Ernest Jones den Witz der Geschichte nicht wirklich verstanden hat. Um ihn zu verstehen, darf man meines Erachtens zwei Dinge nicht aus den Augen verlieren. Im Wien der Jahrhundertwende und der Nachkriegszeit wurde größter Wert auf anregende Konversation gelegt. Die Konversationsgabe wurde kultiviert und war die Voraussetzung dafür, dass man im Wien der damaligen Zeit Anklang fand.

Alfred Indra war bekannt für seinenspielerischen Umgang mit Scherz und Ernst, der für nicht Eingeweihte nach außen hin insofern nicht leicht erkenntlich war, als dieser sich hinter einer unbewegten Miene verbarg. Diese Eigenschaft dürfte ein wichtiges Element in seiner Beziehung zu Freud gewesen sein. Man verstand einander, und das gemeinsame Gespräch bereitete beiden Teilen Vergnügen.

Ausgehend davon könnte ich mir Folgendes vorstellen: Indra berichtete Bienenfeld von seinem Besuch in London und der Äußerung von Freud. Durchaus denkbar, dass er mit ausdruckslosem Gesicht hinzugefügt hat: „Stellen Sie sich vor, er hat doch glatt Wien vergessen. Dieses Maß an Vergesslichkeit gibt zu denken, meinen Sie nicht?“

Diesen Aspekt hat Hansjörg Krug meines Erachtens viel besser erkannt. Er bemerkt richtig, dass Alfred Indra zum Bekanntenkreis Sigmund Freuds gehörte.Nicht nur dass Indra sich offensichtlich gut mit Freud verstand, sondern vor allem auch Indras frühes Interesse an der Psychoanalyse dürfte für Freud ausschlaggebend gewesen sein: „Man kann annehmen, dass Sigmund Freud Dr. Indra, was dessen Tätigkeit betraf, wirklich vertraute, und so wird auch das Telegramm, mit dem Sigmund Freud am 5. Juni 1938 Dr. Indra seine Ankunft in Paris mitteilte, das Einzige gewesen sein, das er an diesem Tag nach Österreich geschickt hat.“ Das Telegramm lautete: „Herzliche Grüße nach friedlicher Fahrt dankbar Freuds.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2013)

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