Vom Wahren und von Waren

Wer kennt sie nicht, die Kulturpessimisten, bei denen alles, was nicht aus Papier ist, Verlustgefühle aufkommen lässt? Es ist wohl an der Zeit zu sagen: Auch ein E-Book ist ein Buch, bloß anders. Wider das E-Book-Bashing: Einwände eines Buchverlegers.

Es sieht bisweilen ganz so aus, als stünde das Buch demnächst auf der Roten Liste mit dem Vermerk: Das Buch stirbt aus. Noch hat es zwar so seine Reservate, man kümmert sich, man sorgt sich. Aber das Buch ist, wenn nicht Dronte oder Schnabeltier, zunehmend so etwas wie der Esel: Gerade kannte man ihn noch aus seiner Jugend, dann nur noch von einem Urlaub auf einer griechischen Insel, auch schon Jahre her, und zuletzt hatte man dem Kind die Bremer Stadtmusikanten vorgelesen, und es fragte tatsächlich: Papa, was ist ein Esel?

Ein Esel ist ein altmodisches Transportmittel, genügsam, geduldig, sanft und etwas störrisch, und so ähnlich ist das Buch mittlerweile eben auch. Wer es verteidigen möchte – und viele, überraschend viele tun das ja –, der versucht zumeist gar nicht erst, an ihm zu rühmen, was es leisten kann, wie man das bei jedem anderen Arbeitsmittel täte (es ist leicht, einfach, wetterunabhängig et cetera), sondern man liebt es auf einmal, seine Materialität zu rühmen. Wie es sich anfasst oder besser noch: anfühlt, wie es riecht und wie es in der Hand liegt. Und in dem Zusammenhang fällt dann immer das Wort „haptisch“. Dann nicken alle mit den Köpfen, und die Augen leuchten, und alle machen ein Gesicht, als dürften sie noch einmal in Großmutters Apfeltorte beißen.

Diese plötzliche Liebe zur Körperlichkeit des Buches ist nicht zuletzt deshalb seltsam, weil man, was das angeht, beinahe, seit das Buch auf der Welt ist, und mit zunehmendem Tempo mehr oder weniger kommentarlos einem offenbar unaufhaltsamen Verschwinden der Herstellungskultur von Büchern zuschaut. Von den Prunkstücken der mittelalterlichen Buchmalerei auf Pergament und mit Inkunabeln in Gold und Purpur über die mit Holzschnitten geschmückten Folianten aus der frühen Neuzeit und die in Leder gebundenen Prachtwerke des Barocks zu den immerhin noch illustrierten Oktavbänden des beginnenden bürgerlichen Zeitalters ging der Weg zur ersten Massenproduktion des 19. Jahrhunderts mit dem braun gewordenen, splitternden, sauren Holzschliffpapier, zum Taschenbuchleim, der den Buchblock zusammenzwingt wie eine Eisenklammer, zu den sich biegenden Buchdeckeln der Siebziger- und Achtzigerjahre und dem Siegeszug der Plastikfolie, in die das Buch eingeschweißt ist, statt in Papier gewickelt.

Inzwischen hat fast kein Buch mehr einen Leineneinband, und nur wenige haben ein Lesebändchen. Wir begnügen uns damit,unsere Besten, die Klassiker, in kleine gelbe Heftchen zu verpacken. Das illustrierte Buchist außerhalb des Kinder- und Sachbuchs nahezu vollkommen verschwunden, das Gefühl für Schrift- und Satzbild verkommt seit dem Verschwinden des Bleisatzes immer mehr, und die Buchumschläge sind immer weniger individuell, also immer austauschbarer. Aber unverdrossen loben wir das Haptische am Buch, als wär's ein Bioprodukt, wo auch keiner mehr genau hinschmeckt, ob wirklich drin ist, was drauf steht und man zu kaufen meint.

Gewiss, ein E-Book-Gerät fasst sich irgendwie abstrakt an. Aber damit haben wir im 21. Jahrhundert doch zu leben gelernt. Ein Auto ist auch kein Pferd (von Esel ganz zu schweigen) und ein Fieberthermometer nicht die Hand der Mutter am Puls. Und der Film ist sicher nicht so haptisch wie das Theater und war ja trotzdem keine schlechte Erfindung – um nicht zu sagen: eine glänzende. Vermutlich ist es jetzt einfach an der Zeit zu sagen: Auch ein E-Book ist ein Buch, bloß anders. Das Schönste an ihm ist zwar für viele nach wie vor, dass man es nicht kaufen muss, aber darüber wird sich jemand wie das E-Booknicht kränken. Es wirdsich langsam, aber sicher ausbreiten. Und dennoch: selbst, wenn es inzwischen Verlage gibt, die Texte nur noch als E-Book publizieren, werden lange noch und vielleicht sogar für immer sehr viele Titel auch als Papierbuch zu kaufen sein.

Es ist aber durchaus möglich, dass sich ausgerechnet ein Teil der erstklassigen belletristischen Literatur in absehbarer Zeit nur noch als E-Book vertreiben lässt: Die ungleich höheren Produktionskosten des gebundenen Buchs werden bei Titeln, die, weil sie zu „modern“ oder zu kompliziert sind oder einfach Lyrik, nur eine sehr kleine Verkaufsauflage erwarten lassen, dazu führen, dass es solche Bücher eben nur noch auf elektronischem Weg zu haben gibt. Sie rentieren keine Werbung, und die Buchhändlerin hat nicht die Zeit und oft auch nicht die Lust, sich für sie einzusetzen. Anders gesagt, Hauptsache – und das sollte man bei all dem E-Book-Bashing nicht vergessen –, es gibt sie und sie sind zugänglich, wie auch immer.

Dass sich immer wieder Kulturpessimisten melden, bei denen alles, was nicht aus Papier ist, Verlustgefühle aufkommen lässt, gehört wahrscheinlich zu den üblichen Begleiterscheinungen kultureller Veränderungen und beeinflusst das reale Geschehen nicht. Gewiss, das E-Book verändert die Aussichten für den stationären Buchhandel nachhaltig, noch mehr aber tut das unser sich zunehmend veränderndes Kaufverhalten. Es ist ja noch nicht so lange her, dass es zu den beliebtesten Freizeitvergnügungen gehörte, sich am Wochenende allein, zu zweit oder mit der ganzen Familie in die Stadt aufzumachen und einzukaufen. Vor Regalen zu stehen und die Ware anzuschauen, zu vergleichen, sie anzufassen und in den Warenkorb zu leben war eine lustvolle Erfahrung. Es war die angenehme Kehrseite des Arbeitslebens: Fünf Tage in der Woche hatte man gerackert, und bevor man am siebten gar nichts (Wesentliches) tat, ging man am sechsten los und gab das wohlverdiente Geld wieder aus. Das half dem wirtschaftlichen Kreislauf und dem eigenen auch.

Heute sind reale Geschäfte für immer mehr Menschen nur noch eine Art Musterausstellung: Man schaut sich die Dinge an, probiert sie aus, entscheidet sich und geht dann nach Hause und bestellt am Computer. Und wer noch einen Schritt weiter ist, der findet gleich im Netz den größten Musterkoffer überhaupt und füllt seinen Warenkorb dort. Das erspart ihm das Wochenendgedränge in der U-Bahn und im Kaufhaus, und schon nach wenigen Tagen kommen die Sachen mit der Post ins Haus. Es ist kaum übertrieben, wenn man dieses Verhalten als eine Art Diebstahl betrachtet. Der stationäre Handel,egal ob mit Kleidung,Elektronik oder zum Beispiel Büchern, bezahltMiete, Arbeitskraft, Ausbildung und Know-how,um am Ende die richtige, angesagte, verlangte Ware im Geschäft auslegen und anbieten zu können. Dass sich dann Menschen ohne jede Kaufabsicht dieserMöglichkeiten bedienen, ist zwar nicht verboten, aber unanständig ist es doch. Und unklug ist es auch, denn natürlich führt der schrumpfende Umsatz zu abnehmenden Einkünften, und eines Tages wird die Tür an einem Samstagabend geschlossen und am Montagmorgen nicht mehr aufgemacht: Der Musterkoffer bleibt zu.

Zurück zum Buchhandel. Er hat gewiss in den vergangenen Jahrzehnten vieles nichtrichtig gemacht, auch wenn kurzfristige Rentabilität manches nahezulegen schien. Oft wurde an der Ausbildung des Nachwuchses gespart und kein Wert mehr gelegt auf die Beratungsqualitäten des Fachhandels. Wie oft hat man den Buchhändler nach etwas gefragt, und dessen Weg führte sofort zum Computer.

Das Bestsellerranking mit den entsprechenden Listen selbst in Qualitätszeitungen führt zwangsläufig zu einer extremen Verminderung der überhaupt gefragten Bücher. Der größte Teil der Bücher ist in der einen Buchhandlung derselbe wie in der anderen, die Möglichkeiten zu einem individuellen Sortiment werden immer geringer, denn alle fragen ständig nach denselben Titeln, die auch auf den verschiedensten Rezensionsspalten der Medien wie auf Verabredung anzutreffen sind. Wird eines Tages alles aussehen wie eine Bahnhofsbuchhandlung?

Alles? Nein, alles nicht, wir übertreiben. Denn es ist jetzt weder Sentimentalität noch Werbung für Scheinqualität von Schickeria-Läden, wenn man sagt: Es gibt offensichtlich etwas in der Ware Buch, was eben nicht Ware ist und was die, die ihre Existenz damit verknüpft haben, daran festhalten lässt, als wäre es ein Laster. Wer Bücher anbietet und verkauft, verbringt seine Tage – und die Summe der Tage ist das Leben – damit, sich selbst mit etwas zu umgeben und das dann an andere weiterzureichen, was im besten Fall selbst eine ganze Welt ist. Was in Büchern erzählt wird, ist die Erfindung, ist das Wissen, ist die Fantasie eines Einzelnen, aber durch die hindurch scheint immer das Ganze, und was für ein Buch gilt, gilt erst recht für die vielen, die in den Regalen der Buchhändler darauf warten, dass sich jemand mit ihnen erfüllte Stunden macht, und es ist gewiss nicht übertrieben, wenn man sagt: Auch die Summe der Bücher ist das Leben.

Allerdings, ohne dass man weiß, was man an Büchern haben könnte, kann man nicht nach ihnen suchen. Wer nicht zu Hause und in der Schule einen Begriff davon bekommen hat, was Bücher sind, was sie unersetzlich macht, der kann sie nicht vermissen, und dass das schon oft gesagt worden ist, macht es nur umso wahrer. Ein Buch ist durch nichts zu ersetzen. Es ist, anders als Musik, Malerei, Film, aus nichts als unserem allergewöhnlichsten Kommunikationsmittel gemacht, der Sprache. Und weil darum Lesen nichts als Kommunikation ist, Teilnahme an anderen, Teilnahme an bis dahin unentdeckten Welten in einem selbst, sind Bücher etwas Unersetzliches, egal, ob man eine kleine elektronische Tafel in der Hand hält oder ob es etwas aus Papier und Druckerschwärze ist. Es geht, solange wir die Entwicklung unserer Gesellschaft im Auge haben und nicht nur die einer Branche, darum, unsere intellektuellen Vorstellungskräfte beweglich zu halten, die wir zum Überleben ebenso brauchen wie dazu, unserer Existenz einen Anschein und eine Form zu geben. Das wiederum heißt nichts anderes als: Es geht um Bildung. Es geht um Kunst.

Der Gesetzgeber hat den festen Ladenpreis ebenso wie den verminderten Mehrwertsteuersatz für Bücher nicht für pure Unterhaltungs- und Zeitvertreibslektüre gewährt, sondern für eine Ware, die mehr als Ware ist, nämlich das Ergebnis einer geistigen Anstrengung, das sich nicht scheut, diese Anstrengung auch von seinem Konsumenten zu erwarten. Diesem Besonderen auch ein entsprechendes Aussehen zu geben, ist kein abwegiger Gedanke. Wir ziehen uns an, damit wir nicht frieren, aber wir haben längst begriffen, dass zum Wohlgefühl auch gehört, dass wir uns in unserer Kleidung ansehnlich finden, vielleicht sogar schön. Auf diesem Weg kommen wir denn doch noch einmal zurück zum Buch und seinem Aussehen. Das E-Book wird es schwer haben, die Konkurrenz zu einem schön gemachten Buch aus Papier, Farbe, Leim und Fantasie zu gewinnen, und es sollte auch niemand weiterhin versuchen, argumentativ das Schöne durch das Praktische zu ersetzen. Aber geben wir den elektronischen Geräten ruhig noch ein wenig Zeit – wer weiß, welch schöne Stücke wir eines Tages in der Hand halten werden, wenn wir wissen wollen, was es mit dem wirklich Schönen auf sich hat.

Es gibt ja durchaus Anzeichen, dass die Buchhändlerinnen selbst Fantasie genug haben, sich ihren Platz unter uns zu bewahren. Denn, ob in Bremen oder in Wien, sind sie nicht auch so etwas wie unsere Stadtmusikanten? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2013)

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