Soll ich mich schämen?

Seit 20 Jahren bin ich behindert. Und seit 20 Jahren werde ich behindert. Wien per Rollstuhl. Eine Selbsterfahrung.

Es ist etwas Eigenes mit der deutschen Sprache. Sie ist, höre ich, schwer. Zugegeben: Sie ist jedenfalls unter anderem auch bedeutungsschwer. Das heißt: Ihre Wörter bedeuten nicht immer nur das, wofür man sie hält. Nehmen wir das Wort „Gerechtigkeit“, gerade in diesen Tagen in aller Munde – politisch jedenfalls. Aber Gerechtigkeit ist nicht immer das, wofür sie gehalten wird. Und gerecht, nicht wahr, gerecht kann bald einer sein. Oder irgendetwas.

Behindertengerecht etwa. Eine Wortzusammensetzung, die ihre Bedeutung vom Politischen ins Praktische übertragen hat; dass das Politische da nicht zu kurz kommt, ist eine andere Geschichte. Behindertengerecht: Das heißt „barrierefrei“. Wobei wir wieder bei einem Wort sind, das vielerlei Bedeutungen hat. Freiheit? Auch das ist eine andere Geschichte, und auch sie ist nicht weit von Politik entfernt.

Behindertengerecht und barrierefrei: Gerade in Zeiten wie diesen, vor allem in Jahreszeiten wie diesen, sollte man wissen, was das heißt. Die meisten wissen es nicht. Es sind die Gesunden – und sie sind zum Glück die überwiegende Mehrheit. Es gibt aber eine Minderheit, die nicht gesund ist, die behindert ist. Sie sagt dann nicht: Ich bin behindert. Sie sagt: Ich werde behindert. Oft durch einfache Gedankenlosigkeit. Oft auch durch Rücksichtslosigkeit. Gewiss auch oft durch Dummheit. Meist aber durch ein infernalisches Gemenge dieser drei Eigenschaften. Man ist nicht behindert, man wird behindert. Wir werden es. Auch ich werde es. Ich werde behindert, weil ich behindert bin. Soll ich mich deswegen schämen?

„Ich bin ein Kind der Stadt“, schrieb Anton Wildgans in einem seiner wunderbaren Gedichte. „Ich bin ein Kind der Stadt. Die Leute meinen / Und spotten leichthin über unsereinen, / Dass solch ein Stadtkind keine Heimat hat.“ Im Gegenteil: Ich habe eine Heimat, und ich bin stolz darauf. Aber seit 20 Jahren werde ich, dieses Kind der Stadt, von meiner Heimat behindert. Ihre Einrichtungen sind nicht das, was man als „behindertengerecht“ bezeichnen könnte. Es wird besser, jährlich. Aber machen Sie mit mir einen Spaziergang, und Sie werden sehen und auch spüren, was ich meine. Österreichische Städte und vor allem Wien sind nicht behindertengerecht. Echt nicht. Glauben Sie mir.

Ein Spaziergang? Beginnen wir mit einer Spazierfahrt. Mit der Straßenbahn. Als ich klein war, ist sie von meiner Großmutter „Elektrische“ genannt worden. Nein, sie hat sich bestimmt nicht an die Pferdebahn erinnert, die es alten Aufnahmen nach einmal in den Wiener Straßen gegeben hat. Aber mit der Elektrischen konnte man noch in der Kriegszeit fast jede Straße erreichen. Trügt mich die Erinnerung, oder ist das Wiener Tramway-Netz längst nicht mehr das, was es einmal war?

Sage keiner, die „Wiener Linien“ würden nicht großen, ja größten Wert auf Kommunikation legen. Sage keiner, die Kundenfreundlichkeit des gemeindeeigenen Unternehmens sei nicht, was man von ihr erwartet. Sage keiner, die Information würde kleingeschrieben dort, wo sie besonders wichtig ist: wo es um die Fahrzeiten, den Fahrplan, die zeitliche Distanz gehe.

Sage auch keiner, das liege dort im Argen, wo es um die sogenannte Barrierefreiheit gehe. An den Haltestellen des öffentlichen Transports ist elektronisch vermerkt, wie lange man warten muss, bis die nächste Gelegenheit gekommen sein wird, eines der öffentlichen Verkehrsmittelzu besteigen – und hier ist es nun auch möglich, zu erkunden, wie es mit der Behindertengerechtigkeit der jeweiligen Garniturbestellt ist. Als ich jüngst auf einen Ringwagen wartete, zeigte die elektronisch gesteuerte Tafel 25 Minuten. Also knapp eine halbe Stunde bis zur Möglichkeit, einen behindertengerechten Wagen zu entern.

Dafür aber wird den Behinderten das Wählen erleichtert. Sie sind ja auch wichtiges Stimmvolk, oder? Auch die Sehbehinderten. Ich habe gelesen, dass solchen Menschen die Zuteilung von Vorzugsstimmen dadurch erleichtert werden soll, dass man die Namenslisten mit Nummern versieht. Bravo! Blinde sollen also von den Segnungendemokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden. Sie können (so habe ich es jedenfalls verstanden) auch die Nummern ihrer Vorzugsstimmenkandidaten ankreuzen, sofern sie dazu in der Lage sind. Ein gewaltiger Schritt in Richtung Teilnahme an praktizierter Demokratie würde damit getan werden. Und ist nicht jüngst ein Volksbegehren, das „mehr Demokratie“ verlangt hat, propagiert worden? Es ist untergegangen – sei's drum! Der Wunsch bleibt aufrecht, bei uns allen. Und das seit Langem schon. Dass das Parlamentsgebäude behindertengerecht, soll heißen: auch für Rollstuhlfahrer geeignet, ausgestattet wurde, weiß ich – und bin zufrieden.

Denn Barrierefreiheit ist das Gebot der Stunde. Ist der Weisheit vorletzter Schluss. Der letzte ist, dafür zu sorgen, dass es keine Notwendigkeit gäbe, sich über solches den Kopf zu zerbrechen. Aber das wäre, glaube ich, zu viel verlangt – heute jedenfalls. Vorerst müssen wir froh sein, auf elektronische Weise zu erfahren, dass der nächste Ulf, also die behindertengerechte Tramway-Garnitur, in einer knappen halben Stunde bei der Oper einfährt. Nicht um Mitternacht, sondern zu Mittag. Wer nicht zufrieden ist, soll zu Hause bleiben.

Bin ich unfair? Gewiss doch. In sogenannten Stoßzeiten muss ich kaum mehr als eine Viertelstunde warten, bis ich einen Straßenbahnwaggon besteigen kann. Nur nethudeln! Die alten Leute haben ja Zeit. Und sie werden immer älter, die alten Leute. Das Durchschnittsalter in Österreich beträgt derzeit 39,6 Jahre. Es wird bis 2050 auf 47,1 Jahre geklettert sein. Der Anteil der über 60-jährigen Österreicher wird im Jahr 2021 etwa 2,3 Millionen betragen. Bis zum Jahre 2031 wird er auf rund ein Drittel steigen.

Was im Grunde mehr als erfreulich ist, nämlich die gestiegene Lebenserwartung der Österreicher, belastet die Bilanz der Staatskassen. Nicht alle, die älter werden, bleiben gesund. Dass dem so ist, scheint eine Binsenweisheit. Eine andere ist, dass nicht alles Notwendige getan wird, um dieser Tatsache zu entsprechen. Das lange Warten auf den Ulf, die behindertengerechte Wiener Straßenbahn, ist nur ein Beispiel. Es soll indes Anlass geben, sich über das Gedanken zu machen, was angesichts der demografischen Entwicklung in den Städten und im Besonderen in der Metropole Wien an diesbezüglichen Leistungen, Minderleistungen und Versäumnissen anzuführen wäre. Von der Warte eines Menschen aus, der sich betroffen fühlt.

Fangen wir mit einer Definition an. Wer ist behindert? In der öffentlichen Meinung sind es die Rollstuhlfahrer. Entweder du bist gesund, oder du brauchst einen „Rolli“. Dass es tausend Arten der Behinderung gibt, die möglicherweise nicht gleich erkenntlich sind, wird vielfach nicht zur Kenntnis genommen. Mag sein, dass man weniger „Behinderte“ auf der Straße sieht, als man annehmen sollte. Wer sich abmühen muss, um eine Gehsteigkante zu bewältigen (über die später noch zu berichten sein wird), will nicht mit der Hilfsbereitschaft von Umstehenden rechnen müssen, die bereitwilliger ist, als man annehmen sollte. Es ist, wie man früher sagte, „genant“, auf Hilfe von Fremden angewiesen zu sein. Viele schämen sich und wissen nicht, wie verbreitet diese Hilfsbereitschaft ist. Wie sehr das Wort vom „Nächsten“ auch in Wien zu einem Teil der Alltagssprache geworden ist. Der Nächste scheint hilfebedürftig. Ich bin überrascht, wie viele das wissen.

Ich bin aber ebenso überrascht, wie wenige es wissen. Wie sehr der ehrlich verdiente Ruf Wiens, auch eine Metropole sozialer Fürsorge zu sein, mitunter durch Nichtbeachtung, Unverständnis oder ganz einfach Dummheit in Misskredit gebracht wird. Was dann keineswegs nur die sogenannten Behinderten fühlen müssen. Gelegentlich, nein: sehr oft leiden auch die Gesundendarunter – etwa dann, wenn sie, unter einem plötzlichen inneren Drang leidend, das suchen, was man früher eine „Bedürfnisanstalt“ genannt hat. Es gibt zwar schon eine Fibel, die solche Plätze auflistet und beschreibt, aber reihen Sie sich beispielsweise, wenn weiblichen Geschlechts, in der Pause eines Konzerts im Musikverein in die lange Schlange der Damen, die vor einer der wenigen Toiletten ausharren. – Und weil ich gerade beim Musikverein bin: Versuchen Sie, als Behinderter einen der vor allem im Winter überfüllten Lifts zu entern! Man nennt sie auch gerne Aufstiegshilfen, diese Aufzüge, die jetzt in fast allen Neubauten vorgesehen sind. Bis in die Sechzigerjahre waren sie es nicht. Damals sind auch die meisten neuen mehrstöckigen Gemeindebauten ohne Lifts errichtet worden. Waren es Kostengründe? Hat man damals die demografischen Entwicklungen nicht im Auge gehabt? Hat man angenommen, dass die Menschen in den Gemeindebauten nicht alt werden? Hat man nicht damit gerechnet, dass die Lebenserwartung auch bei den Gemeindemietern steigt?

Allein, auch die alten Privathäuser sind diesbezüglich, wie es scheint, „off limits“ für Betagte. Nicht nur einmal wurde ich von Freunden gebeten, von einem Besuch abzusehen, weil sie im dritten Stock wohnen – ohne Lift! Dass in den Außenbezirken dies nach wie vor zur Selbstverständlichkeit gehört, wird nur jemandem bewusst, der sich ein Wohnhaus ohne Aufzug nicht vorstellen kann. Und der nicht verstehen kann, dass es noch immer ebenerdige Geschäftslokale gibt, die trotzdem nur über eine Stufe erreichbar sind – und gelegentlich sogar über zwei oder drei. Und dass dann häufig kein Handlauf – sprich: eine Geländerstange –vorhanden ist.

Aber dafür sind wenigstens die meisten Gehsteigkanten nicht mehr so hoch, wie sie früher waren. In den Innenbezirken jedenfalls hat man sie bis zu einem gewissen Grad eingeebnet. Soll heißen: Sie sind nicht mehr jenes Hindernis für Rollstühle, das sie gewesen sind. Was nicht heißt, dass Unebenheiten der Gehsteige nicht gleichsam natürliche Hindernisse des behinderten Fortkommens darstellen würden. Was im Übrigen auch die Kinderwagen betrifft.

Was zur Verschönerung des Stadtbildsbeiträgt, muss nicht unbedingt auch behindertengerecht sein. Versuchen Sie einmal, mit einem Rollstuhl oder einem Kinderwagen quer über das Kopfsteinpflaster des Josefsplatzes zu fahren! Eine Prozedur, die mich an die Rätselfrage erinnert, die Odysseus von der Sphinx erhalten hat: Welches Lebewesen geht am Morgen auf vier, zu Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen? Der Troja-Rückkehrer wusste es: der Mensch. Nach dem Krabbeln und dem Erwachsenenalter braucht er einen Stock. Aber er muss aufpassen, wenn er den Michaelerplatz quert.

Ich bin nicht behindert, ich werde behindert? Siehe da: Jedenfalls in puncto Solidarität der Mitmenschen hält sich der Kummer in Grenzen. „Darf ich Ihnen helfen?“, ist Gott sei Dank eine von Behinderten oft gehörte Erkundigung. Die Bereitschaft zur Unterstützung ist – ich darf, ja muss es wiederholen – größer, als man glauben sollte. Ich bin dann immer versucht, eine alte, witzig scheinende und doch halbwegs ernst gemeinte Antwort zu geben: „Danke – es geht allein schon schwer genug!“ Aber ich sage es nicht. Ich freue mich. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2013)

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