Wenn Wulibali kommt

Bamako: In der dörflichen Zweimillionenstadt deutet nichts auf die prekäre Sicherheitslage in Mali hin. Keine Soldaten, dösende Polizisten. Doch die Nachrichten aus dem Norden sind beunruhigend: Selbstmordanschläge, Überfälle, Gefechte – der Kleinkrieg geht weiter. Ein Lokalaugenschein.

Sein Zeigefinger drückt die Grenzumrisse von Mali in den feinen Flusssand; sie gleichen ausgebreiteten Flügel eines riesigen Schmetterlings. Während der Fischer bedächtig den fiktiven Tierkörper längs durchtrennt, sagt er: „Sie haben unser Land in der Mitte zerschnitten. Den rechten Flügel, der Flüsse, Wüste, Berge mit reichen Bodenschätzen umspannt, den haben wir an den Krieg im Norden verloren.“

Der Mann ist der Sohn eines Fischers und in Wahrheit ein suspendierter Lehrer. Bonagui Sacko hat sich vor einiger Zeit öffentlich mit der korrupten Machtclique angelegt. „Ich konnte es nicht ertragen, dass hier in Bamako unserer Schule das Nötigste verwehrt wurde“, sagt der 37-Jährige, „während sich Minister schamlos an Hilfsgeldern bedient und ihre neureichen Villen mit teurem Klimbim aus Paris vollgestopft haben.“ Sacko ist kein stiller Dulder. Diese Haltung ist im 18-Millionen-Vielvölkerstaat deutlich in der Minderheit. Jahrelang konnten saturiert-inkompetente Politiker in Mali die Dinge treiben, die Missstände explodieren lassen. Niemand forderte öffentlich Rechenschaft, auch die von einer Fassadendemokratie geblendeten ausländischen Geldgeber nicht. „Im Gegenteil, man glaubte, mit halbherzigen demokratischen Spielregeln radikale religiöse Strömungen und den wachsenden Zorn der zunehmend bedrängten Tuareg neutralisieren zu können.“

Ein Irrtum: Am 17. Jänner 2012 nahmen aus dem Libyenkonflikt modern bewaffnete Kämpfer der neu formierten Tuareg-Fraktion, MNLA, im Norden eine Militärbasis unter Beschuss. Mehr noch: Die MNLA rief einen unabhängigen Staat, Azawad, aus. Damit nicht genug: Die säkularen Tuareg gingen einen Militärpakt mit einer radikal-islamistischen Allianz ein, die vom al-Qaida-Ableger im Maghreb, Aqmi, angeführt wurde. Prompt überrumpelten die versierten Gotteskrieger die desorganisierten Freiheitsträumer. Seither sind Zehntausende auf der Flucht. Hätten Eliteeinheiten der einstigen Kolonialmacht Frankreich nicht im Jänner 2013 die massive Offensive der Islamisten gestoppt, wären die im Süden liegende Hauptstadt Bamako und somit ganz Mali in deren Hände gefallen.

All das nährt die uralten Ressentiments der schwarzen Malier gegenüber der arabischstämmigen Oberschicht. Speziell gegen die Tuareg: Ihnen verzeihen sie ihre Sklavenhalter-Vergangenheit genauso wenig wie die in der Nationalgeschichte wiederkehrenden Revolten. Bonagui Sacko schüttelt verzagt seinen Kopf, schaut auf ein hellerhäutiges kleines Mädchen im Abseits; es trägt ein ledernes Amulett der Tuareg um den Hals. Sacko erzählt: „Freunde haben sie uns gebracht. Die Mutter ist tot, der Vater im Untergrund.“ Als die Kleine näherkommt, verwischt der sanfte Mann die geteilte Schmetterlingsskizze im Sand. Das Kind soll nicht an ihre Heimatstadt Kidal im äußersten Norden Malis und schon gar nicht an ihre Eltern erinnert werden.

Unterwegs in das Zentrum von Bamako. In dieser dörflichen Zweimillionenstadt mit ihrer dürftigen Infrastruktur und den hoffnungslos verstopften Straßen deutet nichts auf die prekäre Sicherheitslage des Landes hin. Keine Soldaten, dösende Polizisten. Nur die französische Botschaft am Boulevard de la Liberté erinnert – umwallt von Sandsäcken und Stacheldrahtverhauen – an Bilder aus Bagdad oder Kabul. Die Nachrichten aus dem Norden – woher seit Ausbruch des Konflikts 200.000 Flüchtlinge nach Bamako geströmt sind – beunruhigen: Selbstmordanschläge in Gao, Überfälle in Timbuktu, Feuergefechte in Kidal – der Kleinkrieg geht weiter, trotz der über 12.000 Mann starken internationalen Truppen.
Die Avenue du Peuple führt zum zentralen Markt bei der großen Moschee. Es ist heiß. Rundum dichtes Treiben: Überfüllte Taxis sind fahrende Autoruinen ohne Türen; Frauen und Männer, Alte und Junge steuern auf Mopeds made in Indonesia zielsicher durch das Gewühl; andere transportieren auf Handkarren mobile Nähmaschinen.
Auffällig ist: Nirgends sind in diesem Schmelztiegel der Ethnien ein Turban und das wallende Gewand eines Tuareg zu sehen. Sie, die zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, haben Angst; gelten als Verräter. Das Durchfragen ist mühsam; oft höre ich: „Immer diese Tuareg. Immer der Norden, diese Terrorzentrale. Wir wollen nichts mehr davon hören.“ Nach erfolglosen Versuchen hilft Tage später der Zufall: In einer versteckten Arkade fallen schön gearbeitete Lederpölster mit Wüstenmotiven auf. Wenig später stehe ich in der Arte-Boutique der Brüder Samake. Der ältere, Boubacar Samake, lässt das Nationalgetränk, den bittersüßen Tee, auftragen. Samake ist ein gebildeter Mann – und er ist gläubiger Muslim. Fragen sind in dieser Begegnung überflüssig, die beiden empören sich. „Wir Tuareg verurteilen diese unsäglichen Vorgänge im Norden“, sagt Boubacar Samake vehement. „Die von der MNLA sind Außenseiter. Die Mehrheit von uns will kein unabhängiges Azawad. Da haben wohl einige von diesen Chaoten zu viele Western angeschaut.“

Sind nicht die ökologischen Veränderungen der Sahara, die abhanden gekommenen Weideflächen, der grassierende Hunger, der jähe Exitus von Muammar al-Gaddafi für die Misere verantwortlich? Ist all das nicht von einer sträflich untätigen Zentralregierung ignoriert worden? Der jüngere Samake blickt grimmig aus dem vergitterten Fenster, der ältere spricht weiter: „Natürlich gibt es diese Probleme. Aber deswegen kann man doch nicht gleich Mali sprengen, und glauben in einem eigenen Staat wird alles besser.“ Die Samakes sind in Bamako eine wohlhabende Großfamilie, die bis zum Jänner 2012 ein gutes Leben geführt hat. Sie zählen – wie andere lokale Tuareg – zur einflussreichen Oberschicht der Hauptstadt. Jetzt ist ihre Ehre besudelt; die Geschäfte gehen schlecht, alles ist in Schwebe.
Der Ventilator an der Decke fächert Luft in die heißen Gesichter; jemand reicht gekühltes Mineralwasser herein. „Nicht nur wir Tuareg sind in einer delikaten Situation“, sinniert Boubacar Samake, „sondern die nationale Integrität Malis ist bedroht. Ein zerfallenes Mali destabilisiert den gesamten Sahel. Dem internationalen Waffen-, Uran- und Drogenhandel könnte in dieser riesigen Zone überhaupt nichts mehr entgegengesetzt werden. Solch ein Szenario kann die internationale Gemeinschaft nicht riskieren wollen – es würde sie teuer zu stehen kommen. Allein die Flüchtlingsströme, die Europa heute bereits überfordern, würden sich verhundertfachen.“

Bis zum 5. Juli 2013 ist der Ausnahmezustand über Mali verhängt. Dann sollen für den 28. Juli anberaumte Wahlen die halb tote Demokratie wiederbeleben. Die Zeit drängt, auch weil die Geberkonferenz der EU die stufenweise Auszahlung von 3,2 Milliarden Euro Hilfsgelder an Mali an die Fortschritte des Demokratisierungsprozesses knüpft. Nur: Kann dieser kurzfristig angesetzte Urnengang in einem Land funktionieren, in dem es Hunderttausende Analphabeten gibt, mehr als 100 Parteien, jedoch keine Wählerverzeichnisse? Wie soll im noch nicht befriedeten Norden frei und fair gewählt werden? Wie in den Flüchtlingslagern in Burkina Faso, wo es weder Zeitungen, Fernsehen noch Internet gibt?

Von der großen Moschee hallen die Rufe des Muezzins. Heute gehört der Islam zu Mali wie der Niger, der Sahel und die Sahara. Obwohl 90 Prozent der Bevölkerung muslimisch ist – so deklarieren es zumindest offizielle Statistiken – ist der Islam im säkularen Mali keine Staatsreligion. Dass die weit verbreiteten Naturreligionen scheinbar klaglos mit den Lehren des Propheten harmonieren, entspricht dem toleranten Wesen dieses bunten Völkergemischs. Im Schatten der großen Moschee tut sich ein Eldorado für Fetischartikel auf. Hier türmen sich Haufen von ausgedorrten Chamäleons, Tierschädel, Schlangen, Hörnern, Pfoten; hier lagern undefinierbare Pulver- und Kräutermixturen; hier werden Magie, Medizin und Religion eins.

Bei der Suche nach einem probaten Heilmittel für die schwerkranke Nation machen neuerdings geistliche Führer von sich reden. An diesem Freitag 2013 lädt der Imam von Bamako führende Mitbrüder zum Gebet in die große Moschee. Nach und nach fahren die Geladenen vor. Nur der Star unter den Predigern, der Sufi Ousmane Haidara, lässt auf sich warten. Dass der von Hunderttausenden Anhängern unterstützte geistliche Außenseiter, den sie Wulibali nennen, der, der die Wahrheit spricht, dass er kommt, erregt Aufsehen. Der 57-jährige Selfmademan errichtet – mit wessen Geldern immer – an der Peripherie Bamakos Schulen und Spitäler, speist die Armen. Dass der bewusst malisch auftretende Haidara mit seinem offensiv praktizierten Islam die verantwortungslose Laxheit der religiösen wie weltlichen Obrigkeit bloßlegt, ist Balsam für viele gequälte Seelen.

Zu Beginn der Woche sagte mir Ousmane Haidara im Interview: „Das Gebet zählt zu den höchsten islamischen Tugenden – das weiß jeder. Aber wer nur betet und auf die anderen Tugenden vergisst, vergeht sich an der Lehre unseres Propheten.“ Der Charismatiker neuen Typs stellt Malis Trennung von Religion und Politik infrage. Darüber hinaus zeigt das Phänomen Haidara, dass die marode säkulare Demokratie in Mali nicht nur von radikalen Islamisten bedrängt wird.

Funkgeräte knacken, Mobiltelefone läuten, leichtes Drängen in der Menge: Der schwarze SUV des Wulibali kommt. Haidara wird seit Morddrohungen von einem Privattrupp umgeben. In prächtig goldgelber Boubou, dem speziellen Gewand zum Freitagsgebet, erscheint der mediengewandte Shootingstar im Dienste Allahs. Er grüßt die Gläubigen, gibt Frauen öffentlich die Hand, signiert Autogrammkarten. Das ist keck, wider den im Islam verpönten Personenkult. Anwesende Wahabiten murren, der düpierte Gastgeber, Imam Mamadou Kallé, gibt sich gelassen. Will der Günstling der bisherigen Machthaber nicht vollends ins Abseits geraten, muss er den Schulterschluss mit dem aufstrebenden Kontrahenten wagen.
„Als Diener Allahs sind wir aufgerufen, in seinem Namen Frieden zu stiften. Herrschen Zwistigkeiten unter uns, müssen wir diese beilegen. Das tun Bruder Ousmane und ich.“ So spricht der Imam, und der Sufi-Prediger nickt wohlwollend. Die große Moschee ist berstend voll – und die Sicherheit der Gläubigen in Gottes Hand.  ■

Regina Strasseggers TV-Dokumentation „Wüste(n) Zone Mali“ ist am 26. Juni, 19.30 Uhr, auf Bayern Alpha Österreich zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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