Berg Wehmut

Im Winter schaufelte man im Camp Schnee, im Sommer schwamm man nachmittägliche Runden im Löschteich, beschattet von Eukalyptusbäumen. Die Gefahren ließen sich einschätzen. Damit ist es vorbei. Zum Ende des österreichischen Golan-Einsatzes: Erinnerungen eines „Golani“.

Als an einem warmen Frühlingstag des Jahres 2004 der aus Kanada stammende Stabschef von UNDOF (United Nations Disengagement Observer Force) feierlich einen Gedenkstein aus Anlass „30 Jahre UN-Mission auf den Golanhöhen“ enthüllte, dachte niemand an ein Ende dieser Mission. Der Blauhelmeinsatz schien in Stein gemeißelt. Für Israel war die von den Vereinten Nationen überwachte Waffenstillstandslinie die friedlichste seiner Grenzen, und Syrien verwendete die Empörung über die israelische Okkupation der Golanhöhen als Bindemittel für die eigene inhomogene Gesellschaft. Es pflegte die von den Israelis im Krieg zerstörte Stadt Quneitra, unweit des Camps, als warnendes Freilichtmuseum. Ich erinnere mich an den Gottesdienst am Heiligen Abend der Österreicher mit dem Militärpfarrer in der Ruine der dortigen Kirche: flackernde Fackeln, klackende Fliesenscherben. Mittlerweile sehen viele syrische Städte wie Quneitra aus.

Der Golan war als „Sunshine Mission“ bekannt, als Auslandseinsatz für Neueinsteiger. Auch mein erster Bundesheereinsatz im Ausland führte mich dorthin, von Ende 2003 bis Anfang 2005, als MPIO, als militärischer Presse- und Informationsoffizier der Force, und damit direkt dem Kommandanten unterstellt.

Mein erster Force Commander stammte aus Polen, mehrsprachig, gebildet, korrekt. Bald wurde er daheim Generalstabschef. Er starb sechs Jahre später bei einem Flugzeugabsturz über Smolensk, gemeinsam mit dem polnischen Staatspräsidenten und 94 weiteren Passagieren. Der zweite Force Commander kam aus Nepal. Als ich mit dessen Adjutanten einmal Tel Aviv zwecks Treffen mit internationalen Diplomaten ansteuerte, seufzte dieser in Gedanken an seine damals noch von den Maoisten bedrohte Heimat, es sei so friedlich hier. Just, als wir über die von Kasernen gespickten Golanhöhen abwärts fuhren.

Es war tatsächlich friedlich. Im Winter schaufelte man im Camp Schnee, im Sommer schwamm man nachmittägliche Runden im Löschteich, beschattet von Eukalyptusbäumen. Die Gefahren ließen sich einschätzen: Die Minenfelder waren bekannt. Wenn man nach Dienst eine Joggingrunde rund um das ärmliche Nachbardorf Halas zog, musste man nur klapprigen Trinkwasser-Lkws und streunenden Hunden ausweichen. Steuerte man mit dem Auto Damaskus an, war bei der Durchfahrt eines quirligen Palästinenserlagers an der Strecke besonders achtzugeben: Einen Unfall mit einem der umherlaufenden Kinder hätte man ohne Fahrerflucht nicht überlebt.

„Looking and cooking“ werde auf dem Golan betrieben, wurde mitunter abschätzig behauptet. Gefahrenpotenzial: äußerst gering. Mancher nannte Camp Faouar, das Hauptquartier von UNDOF und Basis des österreichischen Kontingents, spöttisch ein „Erholungsheim für Bundesbedienstete“. Tatsächlich fand man hier nicht wenige altgediente Offiziere und Unteroffiziere, die mit steter Regelmäßigkeit „ein Jahr Golan“ machten und so das Eigenheim zu Hause, das neue Auto oder das Studium der Kinder finanzierten.

Man spielte gerne Bundesheer in der Ferne, setzte viel Energie ins Erfinden neuer Verhaltensregeln, ins Streichen von Baracken oder in die Pflege des Vorgärtchens vor der eigenen Kanzlei. Das war auch Ausdruck eines rätselhaften Dranges, einen eigenen Fußabdruck in dieser Mission zu hinterlassen. Gemäß den Gesetzen Murphys beginnen sich UN-Missionen im Lauf der Jahre selbst zu verwalten, ihre Mitglieder geraten mitunter sogar in gehörigen Stress, doch hat deren Arbeit vielfach nichts mehr mit der ursprünglichen Aufgabe zu tun.

Dass die jahrzehntelang friedliche Atmosphäre an der Nahtstelle zwischen zwei Staaten ohne Frieden zu Ende geht, wurde in den vergangenen Monaten klar. Die Erfüllung des Auftrags, den Waffenstillstand zwischen Syrien und Israel zu überwachen, wurde zunehmend unmöglich. Für eine militärische Konfrontation ist die Truppe weder personell noch materiell geeignet. Die Tschad-Mission war sicher gefährlicher, doch hatten sich dafür Soldaten eines anderen Schlags gemeldet, die zudem anders ausgerüstet waren. Wer den nur mit Pistolen oder Sturmgewehren ausgerüsteten Österreichern heute Feigheit vorwirft, kennt die Verhältnisse auf dem Golan nicht, wer verlangt, sie sollten dort bleiben, riskiert ihr ziemlich ungeschütztes Leben.

Ich erinnere mich an die zweimal jährlich stattfindenden Alarmierungsübungen namens „Gopherhole“, „Erdhörnchenbau“, was schon alles über die Abwehrbereitschaft der Mission aussagt. Mit schief sitzenden Helmen und ungewohnten Schutzwesten zwängten wir uns in Behelfsbunker, die bei direktem Granatbeschuss rasch zerstört wären. Wir hatten lediglich Angst, den dort ungestört hausenden Spinnen oder Schlangen zu begegnen, und warteten das Übungsende ab, um wieder der täglichen Arbeit nachgehen zu können.

Schnell hatte ich, erstmals selbst im Orient, begonnen, mich in diese scheinbar angstlose, exotisch-fremde Welt, eingerahmt von trauter Österreich-Atmosphäre, einzuleben. Nach Kurzem machten mich die Kameraden aufgrund meiner ORF-Vergangenheit zum Intendanten des Campradios. Ich erinnere mich auch an den mehrspurigen Kreisverkehr am Eingang nach Damaskus, von den Österreichern „russisches Roulette“ genannt. Anlässlich der Probefahrt vor Antritt meiner Position sagte ich meinem Vorgänger entschieden, hier nie Auto zu fahren. Wenige Wochen später tat ich es furchtlos, den syrischen Regeln entsprechend: Wer die Wagenschnauze vorne hat, dem gehört der Vorrang, im Stau ein Kampf auf Zentimeter, und doch funktioniert das System.

Die „alten Hasen“ wussten das alles: die „Mission-Geher“, daheim entwurzelt, dort jeweils nur mehr zur Meldung für den nächsten Einsatz anzutreffen. Sie wussten, wo man in der Altstadt am besten isst, verlässlich Parkplätze bekommt. Und sie waren mit allen Händlern in Khan Arnabe per Du. Khan Arnabe ist das nächste Straßendorf hinter dem Camp, in dem sich ein Geschäft ans andere reiht: Kleidung, CDs – alles Raubkopien, von Lacoste bis zum Plattenlabel. Lediglich der Goldschmuck war echt: Die Soldaten ließen sich Halskettchen und Ringe anfertigen, Namensschilder für die Uniform und Visitenkarten. Viel Freizeit verbrachten sie dort und erzählten den Kaufleuten den neuesten Camp-Tratsch – obwohl jeder vermutete, dass sie alle dem Muhabarat, irgendeinem der sieben Geheimdienste, angehörten. Mitunter verblüfften die Händler ihre uniformierten Käufer mit Interna, die selbst im Wiener Ministerium noch nicht bekannt waren.

Im Souk von Damaskus riefen uns die jungen Händler zu: „Servas Habibi“ – Umgangston des jahrzehntelangen Zusammenlebens. Gemeinsam mit meinem Fotografen, der ebenfalls erstmals in Syrien war, durchstreifte ich den Kern der Stadt: Ich erinnere mich an die Gerüche des Basars, das verlassene jüdische Viertel, das christliche Viertel mit seinen unzähligen katholisch-unierten und orthodoxen Kirchen. Wir erkundeten die lang gestreckte Zone der Mission, von Wadi Al Raquid unter dem Meeresniveau an der jordanischen Grenze bis hinauf zur höchsten Position der Mission, dem „Hermon Hotel“ auf 2800 Metern. Im Frühjahr wurden alljährlich zweitägige Zonenmärsche veranstaltet, bei denen UNDOF-Mitglieder gruppenweise vom Wadi bis zum Mount Hermon wanderten. Regelmäßig nach österreichischen Rotationen pflegten die Israelis, deren Armee auf den Bergen gegenüber saß, mit Flügen entlang der Waffenstillstandslinie und darüber hinaus die Neuankömmlinge zu testen, wieweit sie schon ortskundig waren.

Es war der harte Gegensatz zweier Kulturen mit gemeinsamer Wurzel, der faszinierte. Man konnte vormittags am See Genezareth Fisch essen und abends in einem Damaszener Lokal das Vorspeisenbuffet genießen. Wir wussten um das einzigartige Privileg. Niemand anderer als die UN darf den einzigen Übergang der durch einen technischen Zaun Israels gesicherten Waffenstillstandsgrenze passieren. Jenen Übergang, dessen Beschießung jüngst Auslöser für den österreichischen Abzug wurde. – Ich denke an manch gehetzte nachmittägliche Rückfahrt über die Serpentinen die Golanhöhen bergauf, wenn ich mit dem Fotografen von Haifa kam, wo wir unsere monatliche UNDOF-Zeitschrift „Golan Journal“ drucken ließen. Denn die Israelis sperrten um 16 Uhr das Gate. Während der Autofahrt zogen wir uns von Zivil auf Uniform um, denn auf syrischer Seite wiederum durfte man nur in Uniform „crossen“.

Nur wenige Male im Jahr wurde das Gate unter Aufsicht des Roten Kreuzes auch anderen geöffnet: den Drusen, einer zu beiden Seiten der Waffenstillstandslinie siedelnden muslimischen Sekte. Dann durften junge Leute von der israelischen Seite zum Studium und Ältere zur Spitalsbehandlung nach Damaskus. Oder es wurde „am Gate“ geheiratet: Eine Dreiviertelstunde lang sahen sich seit Jahrzehnten zerrissene Familien wieder, dann musste einer der Brautleute für immer von seiner Seite Abschied nehmen. Berührende, erschütternde Momente. Wie mag es den Drusen jetzt gehen?

Ich erinnere mich an unzählige Besuche von Diplomaten, ganze Gruppen, denen ich erst das Golanbriefing zu geben, sie dann durch die Zone zu führen hatte und die sich jedes Mal schon auf die anschließende Verköstigung durch die österreichische Küche im Camp freuten. Im Gegenzug war ich an diversen Nationalfeiertagen bei Empfängen in Damaszener Residenzen zu Gast.

Es war eine trotz allem importiertem Österreichertum international geprägte Atmosphäre: wenn etwa die Japaner im Camp zu ihrem Japantag luden und den anderen Sake kredenzten und Kalligrafie beibrachten. Oder in den diversen „Betreuungseinrichtungen“, den abendlichen „Versumpfungsstätten“ im Camp: Billard spielen bei den Kanadiern oder Besuch in der Polen-Hütte, wo man schon mit einem großen Glas Wodka begrüßt wurde. Oder Würstel und viel Bier in der österreichischen Schweia-Hut, einem Blockhäuschen, das seinen Gaststätten-Namen vom „Schweiern“ herleitete, dem süßen Nichtstun, vom arabischen „Schwei-schwei“ kommend, was sich mit „gemach, gemach“ übersetzen lässt.

All die anderen Nationen wurden inzwischen ersetzt, nur die Österreicher waren von Anfang an dabei. Sie haben ein kleines Stück weit Syrien geprägt, so wie ihr Einsatz sie selbst geprägt hat. Sie, die oft nicht viel mehr als ihr Bundesland daheim kannten, schlossen Freundschaft mit Menschen, die bisher nicht aus ihrem syrischen Ort herausgekommen waren. Bis zu den gemischten Ehen, die im und nach dem Einsatz entstanden. Man schloss auch untereinander Freundschaft, ein Netzwerk der „Golanis“ bildete sich über den Einsatz hinaus und wurde im Lauf der Jahrzehnte österreichischer Präsenz auf den Golanhöhen immer größer.

Das alles ist ebenso zu Ende wie die besondere Atmosphäre Syriens, eines Staates der religiösen Toleranz, der Vielfältigkeit seiner Gesellschaft, der Vielfalt seines Landes. Es bleibt ein Berg wehmütiger Erinnerung und das Wissen, dass es nie wieder so sein wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.