Safari in der City

Gut die Hälfte aller Menschen lebt in Städten; und es werden ständig mehr. Das ist kein Geheimnis. Merkwürdig ist, dass uns gerade diejenigen, die wir in ganz anderen Umgebungen besser aufgehoben glauben, mittlerweile willig in die Urbanität folgen. Die Rückkehr der Tiere: Hinweise zu einem weltweiten Phänomen.

Dem Baum ist egal, was der kleine Vogel singt, singt der Australier Nick Cave auf seiner neuen Platte. „The trees will stand like pleading hands“, heißt es weiter, die Bäume werden dastehen wie bittende Hände. Bäume werden brennen mit geschwärzten Händen... Wir können nirgendwo rasten, nirgendwo landen. Was Cave dabei im Sinn hatte, weiß nur er. Doch es gehört unverwechselbar zu unserer Zeit. Mir fallen fliegende Hunde ein, jene Fledermausartigen, die mitten in einer der Metropolen dieser Erde leben, sich aus dem Dschungel dorthin zurückgezogen haben, wo man sich ganz im Revier des Menschen wähnt – ins Zentrum einer Millionenstadt.

Tiere mit einer Flügelspannweite von mehr als einem Meter – sie schauen aus wie Füchse mit Vampirflügeln – leben in der Innenstadt von Sydney. Jede Nacht schwärmen sie zu Tausenden aus, bis in die Vorstädte, kehren aber immer wieder zurück in die City, mit Vorliebe in den Royal Botanical Garden, hängen sich an Baumriesen, wirken dort wie seltsame Früchte mit Kopf und Knopfaugen; als seien sie den Ästen entsprossen. Sie leben in stabilen Kolonien, normalerweise ihr Leben lang – zehn, 15 Jahre. Sie sind Vegetarier. Ernähren sich von Blüten, Nektar und Früchten. Sie lieben genau das, was wir auch lieben und in unseren Gärten hegen: üppig fruchtende, üppig blühende Bäume. Diese gemeinsame Vorliebe brachte Tiere, die bis ins 19. Jahrhundert nur aus ganz abgelegenen Gebieten bekannt waren, dazu, es den menschlichen Erdenbewohnern nachzutun und in die Urbanität einzutauchen.

Jetzt sind sie eher in Millionenstädten zu finden als in Nationalparks. Sie ziehen „an die nahe und dicht besiedelte Goldküste, in die Nachbarschaft von Golfklubs and Spielcasinos. Einige von ihnen schlafen nur wenige Meter neben dem vierspurigen Gold Coast Highway“, schreibt Bernhard Kegel in seinem überraschenden Buch „Tiere in der Stadt“. Dass es ein solches Buch gibt, 430 Seiten davon, mehr und mehr solcher Bücher; dass Institute für Stadtökologie florieren, wie die Lebewesen, die sie untersuchen, ist Indiz für die Wichtigkeit des Themas.

Mehr als die Hälfte aller Menschen lebt in Städten; und es werden ständig mehr. Das ist kein Geheimnis. Merkwürdig ist, dass uns gerade diejenigen, die wir eigentlich in ganz anderen Umgebungen besser aufgehoben glauben – deshalb richten wir Nationalparks ein –, mehr als willig in die Urbanität folgen. Die Stadt sei die extremste Manifestation der Spezies Homo sapiens, sich von einer wilden und bedrohlichen Natur unabhängig zu machen, definiert Kegel. Mit Sorgfalt und Liebe eingerichtete Häuser und Wohnungen bezeichnet er gern als „gigantische Ansammlungen von Nistplätzen und Wohnhöhlen einer sozial lebenden Tierart“. Trotz des Gewühles, das dort herrscht, der offensichtlichen Überfüllung, treibt es auch diverse nichtmenschliche Arten zusehends dorthin.

Manche Tiere sind weitaus eifrigere Pendler als wir. Eine Mantelmöwe fliegt, wenn sie will, 330 Kilometer an einem Tag und ist trotzdem um fünf wieder zu Hause, in ihrem Nest auf der Insel Texel am holländischen Wattenmeer. Auf der Suche nach fettem Futter für ihre allzu mageren Küken begibt sie sich in die Stadt; zuerst in die Kleinstadt Horn, von dort aus unverrichteter Dinge weiter ins größere Amsterdam, schnurstracks zu McDonald's in der Leidsestraat. Sie scheint sich auszukennen, zu wissen, wo's am meisten am einfachsten zu holen gibt, stopft sich mit Pommes frites voll. Nach einigen Runden durch die Stadt schwenkt sie ganz plötzlich Richtung Nordsee, wo sie einen Fischkutter eine Weile verfolgt – da diese Möwe mit einem Sender versehen ist, lässt sich ihre Flugroute präzise nachvollziehen. Gegen 17 Uhr landet sie, dem Tagesablauf einer holländischen Angestellten entsprechend, bei ihren drei Küken; mit reicher Beute.

Möwen sind für ihren Wagemut bekannt. Aber auch Tiere, denen man nie einen urbanen Lebensstil zugetraut hätte, arrangieren sich damit. Die Amsel, mittlerweile auch im dichten Siedlungsgebiet zu Hause, war noch im 19. Jahrhundert ein reiner Waldvogel. Was als Bastion gegen die einst bedrohliche Natur errichtet wurde, ist längst mehr als ein Zoo. Tiere bedienen sich unserer Infrastruktur, wie wir uns an ihren Leibern und Leben bedienen. Weltweit. Unweit von Kapstadt bin ich in der Dämmerung beim Überqueren einer viel befahrenen Straße Pinguinen begegnet. Wie ich warteten sie den Moment ab, in dem sich eine Lücke in der Autokolonne ergab. Sie huschten unter Sträucher am Straßenrand, dort verbrachten sie die Nacht – um morgens wieder, wie ein Strandurlauber, die Straße in die andere Richtung zu queren und sich an den Strand zu begeben, wo sie auf Steinen standen und den Tag über aufs Meer starrten.

Scheue, anderswo kaum beobachtbare Wildtiere ändern im Urbanen ihr Verhalten. Die australischen Flughunde kennen die Straßen Brisbanes, laut Bernhard Kegel, „wie jeder gute Taxifahrer“. Um sie zu vertreiben – weil ihr Kot wiederum den Bäumen schadet –, ließen sich die Stadtverwaltung und die Direktion des botanischen Gartens einiges einfallen. Kot von Pythons wurde in die Äste gehängt, künstlich überlauter Baulärm sollte die Tiere von ihren Schlafplätzen vertreiben. Stinkende Fischpaste, Blitzlichter. Alles vergeblich. Als Bauern elektrische Gitter über ihren Lycheebaumplantagen anbrachten, damit die Ernte unbeschadet bliebe, gewannen die flying foxes sogar einen Prozess; die Gitter mussten entfernt werden, weil sie für die Tiere eine Lebensbedrohung darstellten. Die Baumriesen des botanischen Gartens „seien im Gegensatz zu den Flughunden nicht einmal in Australien heimisch“, lautete eine der Begründungen zur Verteidigung der Flughunde.

Um Fledermäuse zu beobachten, muss man Wien nicht verlassen; womöglich nicht einmal das eigene Zimmer. An warmen Abenden genügt ein Blick zu den Laternen im Stadtpark. Oder ein offenes Fenster. Wiener Fledermäuse sind bescheiden; sie fressen nur, was wir sowieso nicht mögen – Insekten und Spinnen.

Was treibt Tiere in unser Nest, das ihnen mit all der Enge, den Hunden, Katzen und Autos doch – genauso wie uns – enormen Stress bereitet? So singen Amseln in der Stadt anders als auf dem Land, sind dafür „cooler“ als Waldamseln; die „Städter“ produzieren bei Aufregung messbar weniger Stresshormone als aus ländlicher Gegend stammende Vögel. Vor allem: Warum bereitet es uns, die wir alles getan haben, um dem, das wir nicht kontrollieren können – der Natur – zu entkommen, inzwischen ein derartiges Vergnügen, allerlei Getier in unserem Revier vorzufinden? Getier, das wir nicht jagen, nicht essen? Wer freute sich nicht, einem Fuchs mitten in London oder Berlin zu begegnen, einer Ente am Rande des Wiener Stadtparks, den zahllosen Eichhörnchen in Schönbrunn? Sogar Wildschweinen bringen wir Sympathie entgegen, Wildbienen und erst recht den Wölfen vor den Toren Bolognas. Nirgendwo gibt es so viele Naturschützer, Grünwähler, Ökologen wie in der Urbanität. „Städte sind“, kann man bei Kegel lesen, „aus Sicht der anderen Lebewesen, nichts anderes als ganzjährig bevölkerte Tierkolonien, die viel Platz im Freien bieten, reichlich beheizten und trockenen Unterschlupf, und noch dazu mit Nahrungsmitteln überversorgt.“ Warum also nicht in die Stadt ziehen?

Um zu verstehen, was Tiere an unseren Städten finden, stelle man sich einen Moment lang vor, eine Möwe zu sein. Ein Fuchs. Eine Fledermaus. Für sie gibt es keine Natur. Für sie gibt es mehr oder weniger gute Quellen von Futter und Nestbaumaterial, ein mehr oder weniger hohes Risiko, das Leben zu verlieren oder sich zu verletzen. Aus mancher Tierperspektive ist die Stadt sicherer als ein Naturschutzgebiet.

Tieren ist es egal, ob die Felder grün sind; viele von ihnen sehen Farben ganz anders als wir. Uns so natürlich vorkommende ländliche Räume, in die wir zur Erholung fahren, landwirtschaftlich genutzte Ackerflächen, Maisplantagen – sie sind aus tierischer Sicht oft unwirtlicher als eine verhutzelte Strauchgruppe, ein brachliegendes Stück Bauland in der Innenstadt. Wo die Bewirtschaftung des Landes auf höchste Erträge getrimmt ist, sieht die Gegend zwar für ein Menschenauge immer noch angenehm aus – Tiere wissen dort einen überdüngten, mit Agrochemikalien belasteten Teppich, unter Umständen kaum besser als ein Parkplatz. Wir vergessen, dass viele Tiere mindestens genauso mobil sind wie wir, oft mobiler, weil unabhängig davon, ob Artgenossen ihren Transport organisieren. Im Zeitalter unser exorbitanten Mobilität halten wir Tiere für etwas, was wir früher waren: Wesen mit einem festen Zuhause. Wir messen sie mit unseren geografischen Maßstäben. Während aber für eine Mantelmöwe eine halb Österreich umfassende Fläche gerade groß genug ist, kämen wir zu Fuß an einem Tag kaum von Wien nach Wiener Neustadt.

Vielleicht ist es einfach Bewunderung. Dass Geschöpfe, die der Urbanität so zu widersprechen scheinen, sich doch in ihr behaupten. Eine Sehnsucht nach deren Wildheit, Kraft, Unberechenbarkeit, umso stärker werdend, je mehr wir mit der Kontrollierbarkeit unserer Umwelt rechnen.

In seinem stadtökologischen Pionierroman „Gros-Câlin“, auf Deutsch 1979 unter dem Titel „Monsieur Cousin und die Einsamkeit der Riesenschlangen“ erschienen, schildert Roman Gary die innige Beziehung eines Büroangestellten zu einem Python. Die beiden leben miteinander in einer Pariser Wohnung, immer wieder entkommt das Reptil, zum Schrecken der Nachbarn und Anwohner. Als zentrales Thema der Geschichte wurde vielfach die Einsamkeit des modernen Menschen in der Großstadt bezeichnet. Eine andere, nicht minder interessante Ebene des Buches beschäftigt sich aber mit den menschlichen Verwandlungsfantasien. Als der Mann den Python am Ende des Buches schließlich aussetzt, seiner Idee nach „frei“ lässt, heißt es über seine Reaktion auf diese Freiheit: „Er verließ mich mit der größtmöglichen Indifferenz und schlang sich um einen Baum, als ob es überhaupt keinen Unterschied ausmachte.“

Zurück in seiner Wohnung achtet der Mann darauf, sich wie eine Python zu verhalten. Darauf hingewiesen, dass er keine sei, legt er sich schnell auf den Teppich und rollt sich zu einer Kugel, um seine Pythonhaftigkeit zu beweisen. Er verschlingt Mäuse, doch trägt „trotz allem einen Pyjama“, um sich eine „menschliche Form“ zu geben.

Natur, Lebewesen, die anders sind als wir, hellen die Stimmung auf, sind nachweislich gesundheitsfördernd. Warum? Das weiß niemand wirklich. Wir mögen Tiere. Das ist einfach so. Und umgekehrt? Ich frage mich, inwiefern urbane Fledermäuse uns bemerken. Wenn, denke ich, dann als unaufdringliche Schatten, die sich nachts unter Bäumen und Laternen tummeln. Wir sind ihnen egal, und wir sind dem Baum egal, wie die Vögel, die auf ihm sitzen und singen. Er kann nicht anders. Das ist sein Glück; denn wir behandeln ihn vor allem wie ein hinreißendes Möbel und die Tiere darin wie zu unserer Erbauung angebrachte Verzierungen. Manchmal amüsiere ich mich damit, zu denken, dass beispielsweise Raben sich ihrerseits über uns amüsieren. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2013)

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