Als der Himmel unten war

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Die böse Frau Eder. Das Türschild, auf dem jahrelang nicht nur unser Name, sondern auch „Beratungsstelle für Volksdeutsche“ stand. Sabines geblümte Unterhose. Und Ingenieur Portschy, der unsere Spiele, waren sie nur wild und laut, mit Rufen anzufeuern pflegte. Szenen einer Salzburger Kindheit.

Das Erste, was ich sah, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde, war der Vater, wie er die Bücher aus dem Fenster warf. Er trug die Kleidung, die wir von ihm zu Hause gewohnt waren, ein ärmelloses weißes Unterhemd und die akkurat gebügelte dunkelblaue Hose, die zu dem Sakko gehörte, das er sogleich, wenn er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, achtlos über einen Haken der Garderobe hängte. Ich schreckte auf, es war Nacht, im scharfen Licht stand der Vater beim Fenster und nahm ein Buch nach dem anderen vom Stapel, prüfte es kurz und warf es die vier Stockwerke in den Garten hinunter. Dann beugte er sich hinaus und schickte den Büchern ein paar höhnische Worte hinterher, die den zwei Männern galten, die unten in der Finsternis warteten und an ihren begütigenden Rufen, die sie bei jedem Wurf hören ließen, leicht zu unterscheiden waren.

Hinter ihm im Zimmer stand die Mutter, redete auf ihn ein und nannte ihn beständig „Kortschi“. Das war die ungarische Koseform seines Vornamens Karl, die sie nicht oft verwendete, denn auf Ungarisch sprachen sie nur, wenn sie sich in einträchtiger Stimmung befanden, ganz anders, als wenn sie unversehens ins Serbokroatische wechselten; dann zischten sie sich Worte zu, die wir nicht verstehen sollten, von denen wir aber verstanden, dass es böse Worte waren, sodass das Serbokroatische für uns immer Unfrieden bedeutete und dieses tagelange dumpfe Brüten ankündigte, das auf ihren Streit zu folgen pflegte. Jetzt aber war sie begeistert von ihm, als hätte sie gerade wiederentdeckt, wie leidenschaftlich er sein konnte, und ich weiß nicht, ob ich sie je wieder so hingerissen von ihm gesehen habe wie damals, als sie ihn halbherzig vom Fenster zog und doch zu hoffen schien, dass er sich nicht so rasch werde besänftigen lassen.

Aufgewacht in diesem Tumult, beginne ich zu weinen. Bücher sind etwas Wertvolleres als Vasen und Gläser und Tassen, sie sind das Edelste, das Menschen besitzen können. Die beiden Regale im Wohnzimmer, zwischen denen der dunkle Kasten mit Radio und Plattenspieler steht, sind bis oben mit ihnen bestückt, die der Vater in hohem Bogen in den Garten befördert, als handle es sich um wertloses Zeug. Und doch ist er gut gelaunt in seinem Grimm, in dem ihn die Mutter tadelnd anfeuert, sodass ich mitten im Weinen lachen muss wie damals, als die Schwestern ein großes Glas Wasser aus dem Fenster leerten und unten zufällig die böse Frau Eder vorbeiging, die alle Kinder im Haus fürchteten. Wir waren ärmer als unsere Nachbarn, aber die Eltern hatten verboten, dass wir uns von der Frau Eder schurigeln lassen. Und unsere Familie war auch ärmer als die Familien aller Mitarbeiter meines Vaters, weil er in der Beratungsstelle der Vertriebenen ihr Chef war und sich deswegen mehr Sorgen um die Menschheit als um die eigene Familie machen musste.

Der Vater wurde nie laut, aber ein großer Zorn schlief in ihm, und ausgerechnet um zehn Uhr in dieser Nacht, als die anderen schlafen gingen, war er erwacht. Es war ein schrecklicher und ausgelassener Zorn, und indem er die Bücher aus dem Fenster segeln ließ, zeigte der Vater denen, die sie unten aufzufangen versuchten, wie sehr er sie verachtete. Die Mutter sagte es den beiden Schwestern, die im Nachthemd herbeigeeilt waren und erst verschreckt, dann belustigt in der Ecke standen, die sagten es dem Bruder, der es mir erklärte: Die zwei greinenden Männer im Garten waren Krämerseelen, die vom Vater die Bücher, die er persönlich zugeschickt bekommen, studiert und in seiner Zeitung beurteilt hatte, für das Archiv verlangten, das er selbst gegründet hatte; mit solchen Krämerseelen bekamen wir es oft zu tun, das waren dumme Leute, die von nichts eine Ahnung hatten außer vom Erbsenzählen.

Dunkel klang die Stimme der Mutter, belegt, von Abertausenden Zigaretten gedämpft die des Vaters, aber beide sprachen sie einen Dialekt, von dem ich erst später, als ich in die Schule kam, bemerkte, dass er sich fremd gegen die Sprache der Stadt ausnahm. Die Eltern sagten Guchen und Gäggsä, wenn sie Kuchen und Kekse meinten, sie sagten Dirol und Dürgei, Babsd und Bedersblads, das O und das A setzten sie tief hinten in der Kehle an, dafür ließen sie das R bis vorne an die Zähne rollen. In der Siedlung, in der wir wohnten, war mir das nicht aufgefallen, denn hier lebten mehr Leute, die aus Südtirol, Schlesien oder dem Sudetenland stammten, als solche, deren Familien schon zwei, drei Generationen in Österreich oder gar in Salzburg ansässig waren. Und zu Hause gingen ohnedies Menschen aus vielen Ländern ein und aus, auf dem Türschild stand jahrelang nicht nur unser Name, sondern auch Beratungsstelle für Volksdeutsche. Darum kannte ich die rauen, brüchigen, dröhnenden, erbosten, bettelnden Stimmen von Leuten, die sich als Dobrudscha-, Karpaten- oder Bessarabiadeutsche, als Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben bezeichneten und alle ihre eigene Sprache hatten.

Ich sitze unter dem Tisch und höre, wie sie sprechen, die namen- und gesichtslosen Männer, von denen ich nur die dunklen Hosen, ihr verbogenes, fest geschnürtes Schuhwerk, die kratzigen Socken und manchmal ein Stück ihrer knochigen weißen Beine sehe. Oder ich liege in meinem Zimmer auf dem Bett, und der Singsang ihrer Reden geleitet mich in den Schlaf, ich schaukle in ihren Sätzen, in denen es fast immer um einen Ort geht, den sie verloren haben, oder einen Ort, den sie für sich zu gewinnen versuchen, um die sagenhaften Städte, die sie verlassen mussten, oder die sagenhaften Städte, in die sie übersiedeln wollen, um Werschetz, Eger, Freudenthal oder um Toronto, Philadelphia, Buenos Aires.

Der Einzige, dessen Schuhe nicht hart, verbogen und fest geschnürt waren, sondern schmal und weich, war ein älterer Mann, dessen Gesicht ich kannte, weil wir ihn manchmal trafen, wenn wir Kinder mit den Eltern in die Stadt gingen. Er war zierlich, tänzelte mehr, als dass er schritt, hatte weißes, seidiges Haar, trug einen hellen Anzug mit dünnen, fast schon durchsichtigen Stellen und küsste, wenn sie dabei war, der Mutter die Hand. Dort, wo er herkam, war er Musikprofessor an der Akademie gewesen, sagte der Vater, was für ein feiner Mann, sagte die Mutter, er hieß Béla Miller und war der erste Ungar meines Lebens.

Eine Klopfstange stand in jedem Garten, aber dass auf ihr die Teppiche ausgeklopft wurden, war es nicht, was sie interessant und wichtig machte. Sie diente uns als erstes Turngerät, hier lernte ich, vom Bruder hochgehoben, die Finger fest um die obere Querstange zu schließen und den baumelnden, von der Kraft der eigenen Arme gehaltenen Körper hin und her zu schaukeln; und hier wagte ich, nachdem ich es Älteren abgeschaut hatte, das Kunststück, die Kniekehlen um die untere Querstange zu pressen und mich kopfüber hängen zu lassen. Das Haus, die Bäume, die Gefährten, sie alle standen jetzt auf dem Kopf, und der Himmel war hoch und unten, das Blut strömte in den Schädel, ein angenehmer Schwindel ergriff mich, bis ich das Gefühl hatte, ich käme nie wieder von der Klopfstange herunter; ich spürte nicht mehr, wo oben und unten war, und in diesem Augenblick lösen die Kniekehlen den Druck, und ich falle, aber instinktiv mache ich die halbe Rolle, die nötig ist, um auf den Füßen zu landen; als ich mich aufrichte, blicke ich in den blauen Himmel, der jetzt wieder oben ist und zu pulsieren scheint, ich höre es in meinem Schädel rauschen und die Vögel am Himmel kreischen, das Glück wogt so heftig in mir, dass ich wanke und mich an der Stange anhalten muss.

Die Klopfstange war unser Treffpunkt, und während wir uns unterhielten und mit den Füßen im Schotter scharrten, kletterte immer einer hinauf, um ein paar Kunststücke zu zeigen und sich dann wieder neben die anderen zu stellen, von denen fast jeder mit der Hand Verbindung zur Stange hielt. Gedränge entstand, wenn Sabine sich zu den Buben gesellte und bald selbst zu turnen begann, denn am Ende ihrer Vorführung hing sie immer kopfüber, um gekonnt und mutig zu schaukeln, und dabei fiel ihr Kleid, das sie mit den Armen an die Oberschenkel drückte, schließlich über ihren Kopf nach unten, was den Blick auf ihre geblümte Unterhose freigab, einen Blick, für den wir so lange ausgeharrt hatten und der uns doch nicht erlöste, sondern in sprachlose Gereiztheit versetzte und in meckerndem Gelächter davonlaufen ließ.

Der andere Treffpunkt lag nicht im Garten, sondern an der Straße, beim Eck unseres Hauses, wo zwei runde, blecherne Mülltonnen standen. Zweimal in der Woche wurde die ganze Straße aus dem Schlaf gerissen, wenn ein anfahrender und gleich darauf abbremsender Lastwagen frühmorgens vor jedem Haus hielt und die lauten, ausgelassenen Männer der Müllabfuhr die scheppernden Mülltonnen zum Wagen rollten, sie entleerten und dann rumpelnd wieder auf ihren Platz beförderten. In die zwei Tonnen, die es für die 18 Parteien des Hauses gab, wurde gesteckt, was immer im Haushalt übrig geblieben war, Lackdosen, faulende Gemüsereste. Alles andere wurde verwertet und wiederverwendet – Konservendosen dienten als Behälter für Schrauben, Nägel, Haken, Knöpfe, mit den Zeitungen von vorgestern wurden die Schubladen der Kästen ausgelegt oder die Fenster geputzt, und Lebensmittel verdarben nicht, weil in andere Form gebracht und neu zubereitet wurde, was am Vortag nicht aufgegessen worden war. Bei den Mülltonnen endete mein Reich, erst als ich fast vier Jahre war, wurde diese Grenze aufgehoben, die ich, wenn ich allein spielte, nicht überschreiten durfte. Oft saß ich mittags dort, die Beine untergeschlagen, auf dem Deckel einer Mülltonne und hielt Ausschau, ob der Bruder, der mich im Stich gelassen hatte und Volksschüler geworden war, nicht endlich nach Hause kam.


Ich war der einzige gebürtige Österreicherder Familie. Die Eltern und Geschwister hatten jahrelang als Staatenlose in einer Barackensiedlung für Heimatvertriebene am Stadtrand gelebt. Die Staatsbürgerschaft erhielten sie erst, kurz bevor ich zu ihnen stieß, und dann übersiedelten wir auch gleich in das neu errichtete Haus in einem anderen, stadtnahen Viertel. Das Haus hatte sechs Stockwerke, in jedem gab es drei Wohnungen. Die 18 Parteien bildeten die Hausgemeinschaft, die in rasch und rätselhaft wechselnde Gruppen zerfiel, die einander in Misstrauen zugetan blieben und immer neue politische Allianzen schlossen.

Auf keine von ihnen war Verlass, auch nicht auf die beiden ältesten, die von den Familien mit Kindern und den Haushalten ohne Nachwuchs gebildet wurden. Denn es gab Familien, in denen die Kinder einem strengen Regiment unterworfen und angehalten waren, sich allezeit leise und brav zu verhalten; und Junggesellen wie den Ingenieur Portschy, dem eine fleischige, wunde Nase aus dem schuppig geröteten Gesicht ragte, der unsere Spiele, wenn sie nur wild und laut waren, vom Fenster im dritten Stock aus mit anerkennenden Rufen anzufeuern pflegte. Und die winzige Frau Bacher, die die rabenschwarz gefärbten Haare zu einem Turm gesteckt hatte und, weithin sichtbar, beim Fensterputzen im obersten Stock auf dem Fensterbrett herumturnte. Vom grauhaarigen Mann, der bei ihr lebte, glaubte ich, er sei mit ihr verheiratet, erst als ich erfuhr, dass er ihr Sohn war, fiel mir auf, wie alt sie in Wahrheit schon war. In den beiden hatten die schlimmen Kinder des Hauses ihre wichtigste Stütze, auch mich haben sie häufig nach den neuesten Streichen ausgefragt, von denen ich, begeistert von den Missetaten, die ich nicht verübt hatte, gerne berichtete.

Nach einer anderen Einteilung der Hausbewohner standen den Zuzüglern die gebürtigen Salzburger gegenüber. Der verkommene Hagestolz Portschy und der elegante Herr Dobrovolny stammten aus Wien, der Diplomingenieur Schlonsak, ein zierlicher Mann, der sich mit seiner Frau einmal die Woche in Abendkleidung ins Theater oder zum Konzert aufmachte, war aus dem Sudetenland vertrieben worden, und die Frau Bichler mit ihren wohlerzogenen Töchtern hatte früher in Ostpreußen gelebt. Gegenüber den Neubürgern waren jene, die wie die Eltern Sabines schon immer in unserer Stadt gelebt hatten, in der Minderzahl. Aber auch die ethnische Zuordnung sagte über unser Gemeinwesen nicht viel aus, gab es doch Mischehen zwischen Zuzüglern und Einheimischen und Feindschafen unter den einen wie den anderen.

Die Koalitionen im Haus brachen periodisch auseinander, Kartenpartien, die sich samstags zur Runde Canasta getroffen hatten, lösten sich im Streit wieder auf, aus Wanderfreunden wurden Feinde, die sich nicht grüßten, und einige Parteien schickten sich Briefe, die sie von einem Rechtsanwalt verfassen ließen. Um den Frieden zu sichern, war im Parterre, zwischen Eingangstür und Lift, eine Tafel mit der Hausordnung ausgehängt, auf der die staatlichen Grundsätze in zahllosen, jeden denkbaren Streitfall berücksichtigenden Paragrafen festgelegt waren. Eines Tages war die Verfassung mit einem Zettel überklebt, auf dem in großen Buchstaben stand: „Der Krieg ist vorbei, wir brauchen uns von den Blockwarten nicht mehr schurigeln zu lassen.“ Mutter erschrak, als Frau Kranzler sie von dem Skandal unterrichtete, und fuhr mit dem Lift sofort hinunter, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Als sie zurückkehrte, warf sie einen flehentlichen Blick auf Vater, aber der beeilte sich zu erklären, dass der Anschlag erstens ungehörig sei und zweitens nicht von ihm stammen könne, denn er hätte nie und nimmer schurigeln geschrieben, sondern kujonieren.

Und dann wurde ich krank. Ich stand im Lebensmittelgeschäft Pfaff, auf einmal sagte die kleine, sonst so barsche Besitzerin zu mir: „Wie siehst du denn aus?“ Mir wurde schwarz vor Augen, und ich begann zu zittern. Herr Pfaff führte mich die 200 Meter nach Hause, und während wir gingen, schlotterte ich am ganzen Leib so heftig, dass er seine Hand um meine Schultern legte. Beim Hochhaus läutete er und übergab mich der Mutter, der er die Tasche, gefüllt mit den eingekauften Lebensmitteln, aushändigte. Ich wurde ins Bett gesteckt, der bewährte Landsmann der Eltern kam mit seiner bauchigen Arzttasche und schüttelte den Kopf, und nach ihm erschien der bekannte Kinderarzt Muralter. Er schüttelte besorgt den Kopf, und mit dem Taxi, mit dem wir uns sonst nur alle paar Jahre chauffieren ließen, fuhr meine Mutter mit mir zum berühmten Lungenarzt, einem freundlichen Witwer, der auf den Bällen der Heimatvertriebenen als flotter Tänzer auftrat und als Galan galt. Er konstatierte, dass ich eine Rippenfellentzündung, vor allem aber etwas hatte, was nach Tod klang, Tuberkulose. Ein paar Jahre vorher war der Bruder meines Vaters daran gestorben, und als ich das Wort hörte, sah ich mich bereits die Glieder auf dem Sterbebett ein letztes Mal ausstrecken.

Auf der Heimfahrt musste mir Mutter versprechen, dass ich auf der großen Fußballwiese hinter dem Haus begraben würde. So fromm ich war, hatte mir die Kirche keine Tröstung zu bieten, lehrte sie doch, dass das Jüngste Gericht erst am Ende aller Tage abgehalten werde und auch die Guten nicht unverweilt in den Himmel auffahren würden, sondern nach unausdenkbar langer Zeit. Unter der Wiese zu liegen, auf der die Freunde dem Ball nachjagten, verhieß mir mehr Leben als die Auferstehung in ferner Ewigkeit.

Jeden Tag kam der Arzt ins Haus und verabreichte mir eine Spritze, und jeden Tag musste ich eine Handvoll Tabletten schlucken. Nach zwei Wochen war ich mir sicher, den Sommer doch zu überleben, und damals begann ich, die Krankheit, die keine Schmerzen verursachte, zu schätzen. Die ältere Schwester war bereits weggezogen, besuchte mich aber regelmäßig und erzählte mir stundenlang von der großen Stadt, in der sie nach den Sommerferien wieder studieren würde. Die jüngere, die in einem Textilgeschäft in unserer Stadt arbeitete, setzte sich, kaum dass sie zurück war, zu mir und spielte mit mir ein neuartiges Spiel, Memory, bei dem es darum ging, unter vielen gut gemischten und auf der Rückseite allesamt gleich aussehenden Karten durch Schulung des Gedächtnisses jene zwei herauszufinden, deren Bilder auf der Vorderseite ein Paar ergaben.

Der Bruder berichtete mir, was sich draußen, in der Welt der Freunde, tat, und wie er es berichtete, schien das der langweiligste Sommer aller Zeiten zu sein. Und Vater erzählte mir, was ich von ihm am liebsten hörte, die tragischen Lebensgeschichten der Genies, wie die von Branko Radičević, dem serbischen Jüngling, der Gedichte verfasste, so schön, dass die Frauen in Tränen ausbrachen, und der nur 24 Jahre alt war, als er verlassen, unbekannt und arm sterben musste, aber dessen Gedichte sich noch heute die Verliebten in Serbien vortrugen. Mutter reichte mir in kleinen Schalen und Schüsseln fortwährend Köstlichkeiten, denn für die Donauschwaben galt bei jedweder Erkrankung, dass der Patient in seinem Bett möglichst viele und möglichst nahrhafte Speisen zu sich nehmen sollte, wurde schwere Krankheit doch mit todbringender Auszehrung verbunden. Alle aus der Familie waren so nachsichtig und so gut zu mir, dass mir nichts anderes übrig blieb, als sie später, wieder genesen und älter geworden, alle zu enttäuschen, nicht alle auf einmal, aber jeden, nach und nach.

Den ganzen Sommer über lag ich im Bett, hörte von draußen die Rufe der Freunde, die auf der Wiese tollten, unter deren Rasen ich doch nicht begraben wurde. Wenn ich sie hörte, musste ich manchmal mit den Tränen kämpfen, aber in dem großen Bett lag etwas zu beiden Seiten meines Körpers, das ich immer wieder in die Hand nehmen konnte, mit dem ich, in meinem Bett liegend, zugleich viel weiter weg war als bloß auf dem Acker, auf dem die Freunde kickten, etwas, mit dem ich tagsüber immer wieder einschlief, um in meinen Träumen bei ihm zu bleiben, und mit dem ich aufwachend sogleich weitermachte. Um meinen abgemagerten Körper lagen lauter Bücher, die von Entdeckungsreisen, Rittern, Indianern, von bösen Erwachsenen und tapferen Kindern handelten. Um mich, der ich schwitzte, weil ich zwei Monate unablässig Fieber hatte, lagen die Bücher. Denn etwas war in den zwei Jahren zuvor geschehen, das mein Leben veränderte und ihm die Richtung wies: Ich konnte jetzt lesen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2013)

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