Wir schlafen nie

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Nur mit Menschen zu reden: Das ist nichts – es muss zumindest Betreuungsarbeit geleistet werden. Wenn wir nichts tun, also schlafen, verrichten wir Regenerationsarbeit. Und wer dabei versagt, braucht einen Grundkurs Powernapping. – Wir, die Mehrleister.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. In einer Hochleistungsgesellschaft sogar. Klar ist: Ohne Fleiß kein Preis! Jedem Leistungswilligen seine Chance! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen! Wir können es uns nicht leisten, Talente, die etwas leisten könnten, nicht zu Höchstleistungen zu motivieren. Und deshalb gilt: Leistung muss sich wieder lohnen! Denn eines wollen wir nie wieder hören: Was war eigentlich meine Leistung?

Genug der schönen Sprüche. Je mehr in einer modernen Gesellschaft von Leistung die Rede ist, desto unklarer wird, was darunter zu verstehen ist. Geht es um private Arbeit für private Unternehmen? Um eine kreative und produktive Tätigkeit für die Gesellschaft? Um den Beitrag der vielen zur Geldvermehrung der wenigen? Um nachhaltige Interventionen für die Zukunft? Und welche Art von Tätigkeit wird als besonders wertvoll erachtet und honoriert? Der Einsatz für das Leben anderer Menschen? Der Einsatz für Natur und Umwelt? Der Einsatz für Kultur, Wissenschaft, Bildung? Der Einsatz für die Unterhaltungsindustrie? Für die Zerstörung und Ausbeutung der Erde? Für Profite und gewinnträchtige Spekulationen?

Leistung ist das Kriterium, an dem wir die Aktivitäten von Menschenmessen, und Leistungsbereitschaft ist neben Teamfähigkeit, Mobilität und Flexibilität eine der neuen Kardinaltugenden. Nun machen Menschen im Laufe eines Tages alles Mögliche, aber nicht immer leisten sie dabei etwas. Leistung ist ein Begriff, der aus der Physik in die Gesellschaft gewandert ist und dortzu einer umfassenden, alle Lebensbereiche durchdringende Kategorie geworden ist: Arbeit in der Zeiteinheit. Der Begriff der Leistung ergibt nur in diesem Zusammenhang einen Sinn: Es geht darum, in einem bestimmten Zeitraum ein bestimmtes Quantuman Arbeitsschritten (welcher Art auch immer) zu erledigen. Die Karriere der Leistung ist so eng verbunden mit der Karriere der Arbeit und dem Ideal messbarer Effizienz. Wer diesen Kriterien genügt, der hat auch Erfolg, den können wir erlösen. Wer nur strebend sich bemüht, ist, anders als Goethes Faust, der Leistungsgesellschaft nicht der Rede wert. Werfen wir deshalb einmal einen kurzen Blick auf die Grundelemente dieses Leistungsgedankens, die da also sind: Arbeit, Effizienz, Erfolg.

Wir sind wesensmäßig seit dem 19. Jahrhundert in erster Linie und vor allem Arbeiter, und zwar ohne Ausnahme. Die Erwerbsarbeit ist zum zentralen Paradigma unseres Daseins geworden. Das erscheint uns wie ein Naturgesetz, aber das war nicht immer so. Frühere Epochen kannten durchaus sinnfällige Differenzierungen zwischen Arbeit und anderen Aktivitäten. Aristoteles etwa hat einevielgestaltige Differenzierung der menschlichen Tätigkeiten entworfen, die allerdings längst verloren gegangen ist. Neben der Arbeit, die aus Not und Notwendigkeit getan werden muss, kannte der Philosoph nochdas Herstellen (Poesis), bei dem ein Handwerker oder Künstler eine Idee verwirklicht, und das Handeln (Praxis), die Gestaltung des sozialen und politischen Lebens, dieeinzige eines freien Menschen würdige Aktivität. Und dann kannte der Philosoph auch noch das Leben in der Beschaulichkeit, die Kontemplation,die konzentrierte, sinnende, erkennende Betrachtung der Welt um ihrer selbst willen. Mit all dem ist seit Langem Schluss.

Seit der Industrialisierung ist die Arbeit ein universeller Ausdruck für Lebenstätigkeit schlechthin, zur einzigen relevanten Quelle und zum einzig gültigen Maßstab für die Wertschätzung all unserer Tätigkeiten geworden. Jede emotionale, kommunikative, soziale Tätigkeit, in der wir nicht eine Form von Arbeit erkennen, scheint uns suspekt zu sein. Nur mit Menschen zu reden, sich um jemanden zu sorgen, für jemanden da zu sein oder gar nur Menschen zu lieben: Das ist nichts, es muss zumindest Versorgungs-, Betreuungs- und Beziehungsarbeit geleistet werden. Und sogar wenn wir nichts tun, also zum Beispiel schlafen, leisten wir Regenerationsarbeit, und wer dabei versagt, sollte sich schnell für einen Grundkurs Powernapping einschreiben lassen, um sich nicht zu versündigen. Auch wenn dies metaphorische Verwendungen des Begriffs Arbeit sein sollten, wird mit dieser Begriffstransformation Mehrfaches signalisiert. Auf der einen Seite unterstreichen wir damit die Universalisierung eines Begriffs, der uns so ans Herz gewachsen zu sein scheint, dass wirihn in keiner Lebenslage missen möchten, und auf der anderen Seite verschwindet damit die Möglichkeit, etwas zu tun, das freiwäre von dem, was untrennbar mit dem Begriff der Arbeit verbunden ist: die messbare Leistung. Denn erst dieses Maß erlaubt es, nach der Effektivität von Arbeit zu fragen, undwir universalisieren den Arbeitsbegriff, damit wir überall nach Effektivität fragen können. Durch das Messen werden Arbeiten unterschiedlichster Art erst miteinander vergleichbar, und genau diese Vergleichbarkeit ermöglicht dann die soziale Wertschätzung. Also erst wenn die Menschen Beziehungsarbeit leisten, produzieren sie damit etwas Wertvolles, das verglichen, beziffert, gegen eine andere Leistung aufgerechnet, letztlich bezahlt werden kann; solange sie nur lieben, produzieren sie keine Werte.

Was aber heißt nun, „effizient“ zu arbeiten? Denn natürlich kann man auch trödeln, etwas verplanen, umständlich sein, gar dem alten Laster der Faulheit frönen. Dem österreichisch-amerikanischen Managementguru Peter Drucker wird folgender Ausspruch zugeschrieben: „Das Geheimnis der Japaner ist eben, dass sie arbeiten und nicht Vorträge darüber halten.“ Wahrscheinlich hat Drucker das gesagt, als alle vor der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Japan zitterten, viel von der japanischen Herausforderung, dem japanischen Jahrhundert die Rede war. Heute ist Japan ein krisengeschütteltes Land mit immenser Verschuldung. Wäre es nicht zynisch, könnte man sagen: Hätten die Japanernur etwas weniger gearbeitet und mehr Vorträge gehalten und vor allem gehört, stünde dieses Land heute vielleicht besser da.

Effizienz allein besagt gar nichts. Sie bedeutet vorerst nur, vorgegebene Ziele in einem vorgegebenen Zeitraum möglichst raschund möglichst kostengünstig zu erledigen. Wo diese Rahmenbedingungen klar sind, wird man natürlich versuchen, effizient zu arbeiten, wird man danach trachten, Leerläufe und Umwege zu vermeiden, unnötige Kosten zu minimieren und Zeit zu gewinnen. Dazu sind Disziplin, Organisationstalent und Konzentrationsfähigkeiten vonnöten. Und gelingt dies, kann das für alle Beteiligten befriedigend sein. Als „Unternehmen“ hat man das Gefühl, etwas im Griff zu haben, als Kunde freut man sich über prompte Erledigung und reibungslose Abläufe. Effizienz hilft, Wartezeiten zu vermeiden. Und der moderne Mensch kann nicht mehr warten. Alles muss gleich geschehen, und alles muss schnell geschehen. Wir suchen nach Effizienz, weil wir glauben, dann mehr in unserem Leben unterzubringen.

Die Bedingungen, die solch ein effizientes Handeln ermöglichen, sind allerdings selten klar. Das beginnt schon bei den Zielen. Sind diese fragwürdig, wird es auch die effiziente Verfolgung derselben. Natürlich gibt es Verbrecher aller Arten, die effizient arbeiten. Der Drogen- und Menschenhandel unserer Tage dürfte höchst effizient organisiert sein. Oder: Im Abbau, der Zerstörung natürlicher Ressourcen sind wir höchst effizient – unsere Kinder werden das vielleicht anders sehen und uns mindestens Kurzsichtigkeit, Egoismus und Dummheit, wenn nicht noch Schlimmeres vorwerfen. Und wer etwas effizient in kurzer Zeit erledigt, muss dies nicht immer mit der notwendigen Qualität und Umsicht tun. Manche Dinge brauchen eben mehr Zeit, als ihnen eine reine effizienzbasierte Berechnung zugesteht: Bildung zum Beispiel, Erkenntnis oder Liebe. Ohne Nachdenken über den Wert und Sinn der Ziele unseres Handels verliert jede Effizienz ihre Bedeutung. Natürlich kann man auch den Unsinn und die Barbarei effizient organisieren – aber das ist kein Trost.

Eine besondere Paradoxie des modernenEffizienzgebots liegt auch darin, dass Versuche, die Effizienz zu steigern, in der Regel zu mehr Ineffizienz führen. Wer kennt nicht die berechtigten Klagen über steigende und effizienzhemmende Bürokratien als Folge von Evaluierungs-, Steuerungs- und qualitätssichernden Maßnahmen? Wer hat nicht die Erfahrung gemacht, dass im Zuge von Rationalisierungen auch all das wegrationalisiert wird, was dem oberflächlichen Blick eines externen Beraters als ineffizient erschien, für den effizienten Ablauf eines Prozesses jedoch unbedingt notwendig war? Es gibt implizites Wissen von Mitarbeitern, Erfahrungen, Kommunikationskompetenzen, schlummernde Fähigkeiten, Menschenkenntnis und emotionale Sensibilitäten, die nichts zu einer unmittelbaren Effizienzsteigerung beizutragen scheinen, ohne die aber vieles einfach nicht geht.

Nicht zuletzt lauert in den modernen effizienzsteigernden Technologien selbst der Stachel der Ineffizienz. Die effizienzorientierte Umstellung der Informations- und Kommunikationsflüsse unserer Gesellschaft auf digitale Medien erweist sich nach ersten großen Erfolgen als echtes Hemmnis: verstopfte Mailboxes, aufgestaute E-Mail-Schlangen, das ständige Hin und Her zwischen verschiedenen Informationskanälen, die konzentrationszerstörende Penetranz, mit der Geräte auf sich und ihre Botschaften aufmerksam machen, das Nebensächliche, das sich auf diese Art genauso wichtigmacht wiedas Wesentliche – all diese Begleiterscheinungen desdigitalen Zeitalters produzieren massenhaft Ineffizienz: im Büro, im Unternehmen, in der Verwaltung, in der Wissenschaft, in der Kultur, im Alltag.

Und dann gibt es Tätigkeiten und Aktivitäten, die generell nicht nach den Kriterien der Effizienz beurteilt und gesteuert werden können. Wirkliche Kreativität und Innovationskraft etwa entziehen sich dem einfachen Schema kostengünstiger Optimierungsversuche. Wann ist ein Künstler effizient, wann ein Wissenschaftler? Gaetano Donizetti schrieb in knapp 20 Jahren 71 Opern, Richard Wagner brachte es in 50 Arbeitsjahren auf zehn Werke. Donizetti war offensichtlich effizienter – was aber besagt dies? Nichts! Durch alle Kulturen machen wir die Erfahrung, dass entscheidende und bis heute nachwirkende menschliche Leistungen auch das Resultat von Muße und überdehnten Zeitansprüchen, von Verschwendungs- und von Prunksucht, mitunter sogar von Faulheit waren. Kultur überhaupt ist das Überflüssige, das, was noch da ist, wenn alles andere erledigt ist.

Aber auch in der Wissenschaft muss Effizienz nicht das oberste Gebot sein. So kann es notwendig sein, eine teure und aufwendige Versuchsreihe immer wieder zu wiederholen, nur um herauszubekommen, dass eine Hypothese nicht stimmt: Das ist ziemlich ineffizient, aber zur Wahrheit gelangt man nur, indem man den Irrtum riskiert. Teilchenbeschleuniger zum Beispiel gehören so zu den ineffizientesten Einrichtungen unserer Welt: unglaublich teuer in Errichtung und Betrieb, aber ohne jede Garantie für mögliche Erkenntnisse oder praktisch anwendbare Ergebnisse. Die unbändige Neugier des Menschen, der wir unsere Wissenschaft und unsere Technikverdanken, ist oft auch ein Ausdruck von Ineffizienz. Grübler, Sammler, Tüftler, alle, die von einer Idee, einer Frage besessen sind – sie gehören in der Regel nicht zu den Effizienten. Die um sich greifende Unsitte, wissenschaftliche Leistungen vorrangig nach publizierten Seitenzahlen, Publikationsortenund der Zitierhäufigkeit zu bewerten und zu beziffern, erstickt letztlich genau das, was Wissenschaft ausmacht: den Diskurs, das Abwägen von Argumenten, die lebende Auseinandersetzung.

Wo alles nach den Maßstäben der Effizienz berechnet wird, verschwindet die Kultur. Wo die Kultur verschwindet, verschwindet alles, was das Leben lebenswert macht. Eine durch und durch effiziente Welt wäre eine Welt ohne Menschen, also letztlich für uns ineffizient. Numerische Effizienz ist kein sinnvolles Kriterium für den Erfolg einer Handlung, einer Unternehmung, einer Idee. Auch der Erfolg hat viele Facetten, viele Ursprünge, viele Gesichter und viele Erscheinungsformen. Man kann als Individuum Erfolg in der Schule oder beim anderen Geschlecht haben, man kann beruflichen Erfolg haben oder ein erfolgreicher Hobbysportler sein, man kann erfolgreich ein Unternehmen führen, man kann als Mannschaft, als Unternehmen, als Gesellschaft kollektiv Erfolg haben, man kann erfolgreich Kriege führen und Friedensverhandlungen erfolgreich zu Ende bringen. Und in der biologischen Evolution gelten jene Individuen oder Gruppen als erfolgreich, die die höchsten Reproduktionsraten und die besten Überlebenschancen haben. Wo immer von Erfolg die Rede sein kann: Erfolg braucht einen Maßstab, und dieser liegt in unserem modernen Verständnis in erster Linie in der Zielvorstellung.

Erfolg stellt sich ein, so hören wir immer wieder, wenn vorgegebene oder selbst gesteckte Ziele unseres Handelns erreicht werden. Bis zu einem gewissen Grad hängt das Erfolgserlebnis immer davon ab, wie man diese Ziele definiert. Man kann sich Ziele hoch stecken oder bescheiden sein, man kann utopische Ziele formulieren oder auf realistische Einschätzungen setzen, man kann das Menschenmögliche anvisieren oder irreale Utopien und das Paradies auf Erden als Zielvorstellung formulieren. Sehr oft, vor allem in der Politik, aber natürlich auch in der Wirtschaft,werden Zielvorstellungen formuliert, die so überzogen sind, dass am Ende entweder die Verzweiflung oder der Selbstbetrug stehen. Das hat auch damit zu tun, dass das dumme und verdummende Wettbewerbsdenken denMenschen suggeriert, in ihren Zielvorstellungen besser sein zu müssen als alle anderen. Deshalb gilt: Überbieten um jeden Preis – und die Blößen der kläglichen Realität mit Phrasen zudecken.

Bei der Formulierung von Zielen geht es aber nicht nur um diese schwierige Balance zwischen Unterforderung und Überforderung, die jeder kennt, der sich oder andere zu bestimmten Aktivitäten anspornen will, es geht auch um die Mittel und deren Zulässigkeit oder Verträglichkeit, mit der diese Ziele erreicht werden. Nicht jedes Ziel rechtfertigt jedes Mittel. Auch wenn wir es gerne akzeptieren, dass Wohlstand und Reichtum relevante Ziele menschlichen Handelns darstellen können, halten wir Bankraub, Piraterie, Diebstahl, Betrug oder den kriegerischenÜberfall in der Regel für nicht zulässige Mittel zur Erreichung dieser Ziele. Jedes Ziel menschlichen Handelns, dessen Erreichung Erfolg verspricht, muss deshalb prinzipiell an den sozialen und ethischen Standards der Gesellschaft, in deren Rahmen dieses Handeln erfolgt, gemessen werden können.

Allerdings: Es gibt auch einen Erfolg, der sich nicht unbedingt einer Zielvorstellung verdankt. Gerade in Bereichen, die in hohemMaße von einem unkalkulierbaren Massenverhalten abhängen, lässt sich Erfolg schwer prognostizieren und deshalb auch kaum an realistische Zielvorstellungen binden. Bestseller lassen sich in der Regel nicht planen. Auch wissenschaftlicher Erfolg ist nur selten wirklich zu planen. Die derzeitige Praxis, Projektanträge so genau zu schreiben, dass das Ergebnis und seine Verwertbarkeit eigentlich schon vorher feststehen, erstickt letztlich jede Neugier und Kreativität. Der wirklich gute Einfall lässt sichweder planen noch erzwingen. Die derzeitige Mode, alles und jedes im Rahmen von Zielvereinbarungen zu formulieren, führt zu einer Lebensplanwirtschaft, von der einst nicht einmal die Kommunisten zu träumen gewagt haben. Ein bestimmtes Maß an Ungewissheit, Offenheit, Zulassen des Zufalls gehört aber auch zu den Erfolgsstrategien jedes Einzelnen und wohl auch jedes Unternehmens. Je rigider Planung und Durchführung eines Handelns strukturiert sind, je eindimensionaler die Zielvorstellungen formuliert und deren Erreichen überprüft werden, desto geringer ist die Chance, auf solche Zufälligkeiten und Chancen zu reagieren. Erfolgskontrollen blockieren in der Regel erfolgreich den Erfolg. Die neue Output-Orientierung etwa im Bildungswesen in Verbindung mit einem Test-Kontroll-Wahn wird noch dessen letzte Potenziale ruinieren.

Das bedeutet: Nicht alles, was messbar ist, ist schon ein Erfolg, und nicht jeder Erfolg ist messbar. Das, was für eine Gesellschaft, aber auch für den Einzelnen eine erfolgreiche Leistung sein kann, hängt von so vielen Faktoren ab, dass die Orientierung allein an quantifizierbaren Steigerungen eine unglaubliche Beschneidung der Lebens- und Leistungsmöglichkeiten darstellt. Dazu kommt, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die öffentliche Anerkennung und finanzielle Honorierung von Leistungen in einem verkehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer moralischen und ethischen Wertigkeit steht. Tätigkeiten im Pflege- und Betreuungsbereich, in der Erziehung und in der Bildung, Tätigkeiten, die die Infrastruktur und Versorgung einer Gesellschaft gewährleisten, werden traditionell moralisch hoch bewertet und sehr schlecht bezahlt. Tätigkeiten im Finanzsektor, Spekulationen, Erfolge in der Massenkultur und das nackte Gewinnstreben auf Kosten von Mensch und Umwelt werden moralisch eher negativ beurteilt, wenngleich extrem gut bezahlt.

Natürlich könnte man sich mit einiger Fantasie auch eine Welt vorstellen, in der es eine ganz andere Hierarchie gesellschaftlich wichtiger und anerkannter Leistungen gäbe, die sich auch in der ökonomischen Anerkennung ausdrücken könnte. Wenn denn schon das Geld, das jemand für seine Leistung bekommt, der wichtigste Indikator für die Wertschätzung dieser Leistung sein sollte, wie wäre es dann mit folgendem Gedankenexperiment: Wie sähe eine Welt aus, in der Banker so viel verdienten wie Grundschullehrer und Grundschullehrer so viel wieBanker, in der das Pflegen von Menschen zu den bestbezahlten Berufen gehörte, in der Menschen, die ihr Leben für andere riskieren, nicht nur geachtet, sondern auch gut bezahlt wären, und Menschen, die ihr Leben in der Formel 1 aufs Spiel setzen, eine Kiste Energydrinks bekämen, wie sähe eine Welt aus, in der Naturzerstörungen und das Engagement in der Rüstungsindustrie finanziell unrentabel wären? Wie effizient und erfolgreich wäre eigentlich solch eine „Leistungsgesellschaft“? Und wenn uns bei diesem Gedankenexperiment ein Unbehagen beschleicht, dann sollten wir uns zumindest fragen, warum sich manche Leistungen aller Rhetorik zum Trotz offenbar einfach nicht lohnen dürfen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2013)

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