Wie viel Reform braucht der Islam?

„Mit der Berufung auf ,Allah‘ versklavt man die Menschen mental und betreibt eine regelrechte Volksverdummung.“ Amer Albayati, Mitbegründer der Initiative Liberaler Muslime Österreich, über Islamismus, Parallelgesellschaften und die Notwendigkeit, sich zu wehren.

Amer Albayati, laut einer jüngsten Meinungsumfrage hat rund die Hälfte aller Deutschen Angst vor dem Islam. In Österreich werden die Dinge nicht wesentlich anders liegen. Ist diese Angst berechtigt oder Ausdruck eines Ressentiments?

Die Ressentiments in Europa und in Österreich gegenüber dem Islam haben vor allem zwei Gründe: Einerseits wissen im Allgemeinen die Menschen zu wenig über den Islam, und andererseits ist die Integration der Muslime weitgehend gescheitert. Aus diesen Gründen entstehen die Vorurteile und die Ängste vor „Überfremdung“. Frauendiskriminierung, Zwangsehen, Ehrenmorde, Homophobie, Integrationsverweigerung und die damit verbundenen Parallelgesellschaften schüren die Skepsis gegenüber dem Islam.

Die wachsende Zahl der Muslime in Europa verstärkt diese negativen Einstellungen gegenüber Muslimen. In den nächsten Jahren werden die Konfrontationen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Muslimen zunehmen, insbesondere wenn Prediger der Muslimbrüder sowie die radikalen Islamisten die Nichtmuslime öffentlich als „Affen“ und „Schweine“ bezeichnen und gegen die Ehe mit Christen und Juden hetzen. Viele Hassprediger sagen: „Allah, lass den Islam und die Muslime über ihre Feinde – darunter Juden und Christen – siegen, vernichte sie, verwitwe ihre Frauen und mache ihre Kinder zu Waisen.“

Darüber hinaus ist der Öffentlichkeit der Verbreitungsgrad und die Wirkung islamistischer Medien in Europa wenig bekannt. Fest steht aber: Zahllose Portale und Websites sowie Fernsehsender und Zeitungen verbreiten offen ein radikal islamistisches Gedankengut. Ihr Einfluss auf in Europa lebende Muslime wird unterschätzt. Mehrere österreichische radikal-islamistische Websites verbreiten Hass, greifen ungehindert Andersdenkende an und verteufeln die Symbole des Christentums und des Judentums. Die Autoren werden nicht nur nicht rechtlich verfolgt, sondern genießen öffentliche Anerkennung. Ihnen kommt eine falsche Integrationspolitik und die Unterstützung durch viele Parteien zugute.

Diese Einstellung findet sich auch in der katholischen und protestantischen Kirche. Damit wird der radikale, salafistische Islam in Österreich und in Europa salonfähig. Vor dieser Realitätsverweigerung, vor dieser Blindheit unserer Politiker und Kirchenleute kann nicht genug gewarnt werden. Diese Haltung ist unverantwortlich und birgt für Österreich und für Europa ein großes Gefahrenpotenzial.

Ist der Mehrheitsislam in Europa mit Demokratie und Rechtsstaat vereinbar?

Nein. Darüber hinaus sind die älteren Muslime in nicht demokratischen Gesellschaften aufgewachsen, während die Jüngeren zwischen den Werten einer Demokratie, die ihnen in der Schule vermittelt wird, und den patriarchalen Normen ihrer Elternhäuser schwanken und die Orientierung verlieren. Aus diesen Gründen wird der Extremismus noch stärker werden.

Weshalb lehnen Sie und die liberalen Muslime die Scharia ab?

Für uns sind Gott und der Koran die Hauptquelle unseres Glaubens. Die Scharia hingegen ist ein Konstrukt der Rechtsgelehrten.

Sollte nach Ihrer Meinung der Koran in seinem historischen Kontext gesehen und einer heutigen Interpretation zugänglich gemacht werden?

Ja, auf jeden Fall. Die Sprache des Korans stammt aus einer weit zurückliegenden Zeit, deshalb muss der Koran für die heutigen Verhältnisse interpretiert werden.

Bedarf der Islam einer grundlegenden Religionsreform, um sich in Europa integrieren zu können?

Mit Sicherheit, deshalb dürfen wir den Islam nicht den konservativen und radikalen Islamisten, das heißt den religiösen Analphabeten, überlassen.

Ist der Islam an der Moderne gescheitert?

Ganz klar. Die größte Gefahr geht von den Muslimbrüdern aus. Der Gründer, Hassan al-Banna, bewunderte die Nationalsozialisten. Sein Stellvertreter, Amin al-Husseini, arbeitete mit den Nazis bei der Vernichtung der Juden zusammen und stellte muslimische SS-Einheiten auf.

Die Muslimbruderschaft ist die Mutterorganisation des politischen Islam. Diese radikal islamische Vereinigung versucht, die Regierung ihrer jeweiligen Heimatstaaten abzulösen und einen islamischen Gottesstaat auf der Grundlage der Scharia zu errichten. Sie ist die ideologische Triebfeder für Extremisten und Terrororganisationen überall auf der Welt.

Osama bin Ladens Stellvertreter, Ayman al-Sawahiri, war ebenfalls ein Muslimbruder, der die Hamas – die als politischer und terroristischer Arm der Muslimbruderschaft agiert – aufforderte, jegliche politische Lösung in der Palästina-Frage abzulehnen. Er verlangte von allen Muslimbrüdern, den Jihad so lange fortzusetzen, bis alle Länder in Europa – von Tschetschenien bis Spanien – befreit und unter einem Kalifat vereint seien.

Während eines Gerichtsprozesses in den Vereinigten Staaten gegen die „Holy Land Foundation“, die der Muslimbruderschaft nahesteht, tauchte ein Dokument auf, in dem die Strategie für den Westen dargelegt wurde. Es gehe um einen „Gesellschaft-Jihad“, bei dem die westliche Zivilisation von innen heraus vernichtet werden solle. Und es sei die Pflicht eines Moslems, sich diesem Jihad anzuschließen, wo immer der Gläubige sich auch befinde – bis Allahs Religion über alle anderen Religionen gesiegt habe.

Islamisten – auch die in Nadelstreifen – wollen totalitäre Gottesstaaten errichten und unterscheiden sich von islamistischen Terroristen nur durch die Wahl ihrer Mittel. Deshalb ist es eine der wichtigsten Aufgaben, Alliierte der Islamisten in Österreich und Europa zu erkennen und als Gegner unserer demokratischen, freiheitlichen Rechtsordnung zu entlarven.

Ist der radikale Islamismus der dritte Totalitarismus?

Es gilt festzuhalten, dass sich islamische Regime als Stellvertreter Gottes verstanden und verstehen. Mit der Berufung auf „Allah“ versklavt man die Menschen mental und betreibt eine regelrechte Volksverdummung. In den islamischen Ländern ist eine steigende Tendenz der Radikalisierung und einer Instrumentalisierung des Islam für politische Zwecke festzustellen. Vor allem junge Menschen sind das Ziel dieser religiösen und politischen Radikalisierung.
Ist die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) die legitime Vertretung der Muslime in Österreich?

Nein. Juristisch gesehen darf die Islamische Glaubensgemeinschaft die Muslime in Österreich nicht vertreten, sie hat darauf keinen Monopolanspruch. Trotzdem wird die Glaubensgemeinschaft von der Politik als offizieller Partner behandelt.

Wer sind die liberalen Muslime, weshalb werden sie vom Staat Österreich nicht anerkannt?

Weil die Politik Saudi-Arabiens, Katars und der Türkei unsere Anerkennung politisch verhindert, wobei die Petro-Dollars keine geringe Rolle spielen. Diese politische Heuchelei muss in Österreich und Europa endlich aufhören, sonst sieht die Zukunft wenig rosig aus. Während wir liberale Muslime in Österreich keinerlei Unterstützung und offizielle Anerkennung bekommen, erfreuen sich radikale Islamisten dieser Privilegien. Nur wir Liberale stehen bedingungslos zum Rechtsstaat, zu Demokratie, Frauenrechten, der Trennung von Staat und Religion sowie der Ablehnung der Scharia.

Müssen Religionen mit den Werten der europäischen Gesellschaften kompatibel sein, damit sie staatlich anerkannt werden können?

Auf jeden Fall. Der Rechtsstaat und die Religionsfreiheit setzen die Trennung von Staat und Religion sowie die Anerkennung der Werte einer liberalen Gesellschaft voraus. Religion ist die Privatsache der Menschen.

Ist der Multikulturalismus am Islam gescheitert?

Da die radikalen Islamisten sowohl die Demokratie als auch jegliche Integration ablehnen, ist eine Kluft innerhalb der Gesellschaft entstanden. Bei vielen Muslimen ist auch der Wille, diesen Zustand zu ändern, nicht vorhanden.

Wie gefährlich sind die radikalen Islamisten?

Sehr gefährlich, aber niemand von offizieller Seite möchte das wahrhaben, und deshalb wird sich die Politik ihnen gegenüber nicht ändern.

Was müssen die europäischen Institutionen und Politiker unternehmen, um einen liberalen Islam zu unterstützen?

Sie müssten zuerst den radikalen Islam stoppen und ihm den ideellen und materiellen Nährboden entziehen.

Müssen die Einwanderungsgesetze geändert werden – und sollen radikale Islamisten ausgewiesen werden, selbst wenn sie einen europäischen Pass besitzen?

Sicher. Wenn sie unter diesen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht leben möchten, warum sind sie dann hier? Die Muslime müssen am politischen und gesellschaftlichen Leben partizipieren.

Wird sich ein liberaler Islam in Europa durchsetzen?

Sehr schwer, aber mit der Zeit wird man verstehen, dass die bestehende Islamische Glaubensgemeinschaft aufgelöst werden muss, weil sie keine rechtliche Grundlage hat. Dann können die liberalen Muslime zum Zug kommen und sich für ein demokratisches Österreich und Europa engagieren. Aber noch gilt: Märtyrer und Jihadisten sind ein Vorbild für viele muslimische Jugendliche in Österreich und Europa. Aktuelle Beispiele sind Boston, London, Paris, wo angeblich nette junge Moslems zu blutigen Terroristen werden. Der sofortige Eintritt ins Paradies mit vollbusigen und glutäugigen Huris, schönen Frauen, erwartet jeden Muslim, der im Kampf für den Islam stirbt. Mit solchen Versprechungen werden junge Moslems zum Töten unschuldiger Menschen verführt. Der Westen bekämpft nur die Symptome, aber nicht die Ursache des radikalen Islamismus. Das ist realitätsfremd und mehr als blauäugig. Die liberale Demokratie und der Rechtsstaat stehen auf dem Spiel. Dies gilt auch für den Kampf gegen den Rechtsextremismus. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2013)

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