Alles nur eine Frage der Abnäher

Ältere Dame wollte sie auf dem Theater nie sein. Im Film aber machte sie aus den komischen Alten Respekt heischende Damen. Adele Sandrock, Schauspielstar und Muse bedeutender Männer, zum 150. Geburtstag.

In der Pfingstbeilage der „Neuen Freien Presse“ vom 19. Mai 1907 erschien die Erzählung „Der tote Gabriel“, in der von einer berühmten Burgschauspielerin, Wilhelmine Bischof, gefeierter Interpretin der „Medea“ (Grillparzer) und der „Fedora“ (Sardou), die Rede ist. Ihretwegen hat sich Gabriel, der junge Autor, dessen erfolgloses Stück sie uraufgeführt hatte, dessen Geliebte sie war und den sie betrogen hatte, umgebracht. Es ist dies eine der weniger bekannten Erzählungen jenes Arthur Schnitzler, von dem ganz Wien wusste, dass er einst – es war 13, 14 Jahre her – der Geliebte Adele Sandrocks war, die alle Leser in der Figur der Wilhelmine Bischof wiedererkannten. Auch sein erstes Stück, „Das Märchen“, war 1893 durchgefallen, obwohl die schon berühmte Sandrock die Hauptrolle gespielt hatte; auch er war von ihr betrogen worden. Nur umgebracht hatte er sich nicht. Eine ironische Reminiszenz, eine Satire auf die Diva, eine erotische Petitesse aus der Sicht des Nachfolgers Gabriels als Geliebter der großen Künstlerin, der im wirklichen Leben Felix Salten hieß.

In derselben Pfingstbeilage erschien ein Essay von George Bernard Shaw über die glanzvollsten Schauspielerinnen der Zeit: Sarah Bernhardt und Eleonora Duse, ein Vergleich, den er zugunsten der Duse ausgehen ließ. Shaw dürfte Adele Sandrock nicht gekannt haben, siehat auch keine seiner Rollen je gespielt. Doch in Wien wurde sie neben die Französin und die Italienerin gestellt. Sie selbstmaß sich an den Kolleginnen, ließ sich in deren Pose als Kameliendame fotografieren und ahmte die Bernhardt auch darin nach, den Hamlet als Hosenrolle zu geben. Doch 1907, als Schnitzlers Novelle erschien, war ihr Stern verblasst.

Wenn heute im kollektiven Gedächtnis gekramt wird, kennt man Adele Sandrock noch aus den Filmen der Dreißigerjahre. In Wien wohl doch auch noch als eine, die in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts hier Furore machte. Es waren wenige Jahre – ihre auf dem Theater erfolgreichsten –, in denen sie in Wien im Ranking der weiblichen Theaterstars an oberster Stelle stand: im Deutschen Volkstheater von 1889 bis 1895 und im Burgtheater von 1895 bis 1898. Als „Erste Heroine“ spielte sie die großen Rollen der Weltliteratur, von Shakespeares Cleopatra und Lady Macbeth bis zu Maria Stuart und Adelheid (im „Götz von Berlichingen“). Immer vom Publikum und der Kritik umjubelt. „Ihre Adelheid“, schrieb Hermann Bahr, „ist nicht eine böse Frau: Sie ist das Böse als Frau“, „in jeder Geste, jedem Schritte lodert das Schicksal“. Und ebendieser über ihre Grillparzer-Medea: „In dieser Rolle ist sie von einer Größe, die in unserer Zeit auf der deutschen Bühne noch nicht gesehen worden ist.“

Dazu ist zu sagen, dass Adele Sandrock nicht nur einen Nerv des Publikums getroffen, das ihre Gestaltung als modern empfand, sondern dass sie tatsächlich etwas Neues auf die Bühne gebracht hatte: Statt des rhetorischen Pathos, mit dem ihre Vorgängerin Charlotte Wolter jahrzehntelang das Wiener Publikum des alten Burgtheaters am Michaelerplatz hingerissen hatte, kultivierte sie einen Enthusiasmus des „echten Gefühls“, den sie als „ungekünstelt“ bezeichnete, obwohl er das genaue Gegenteil war: kalkulierte Nervosität, massive Präsenz des deklamierten Ausdrucks. Damit kam sie vor allem im neu erbauten Burgtheater an, das anstelle des gepflegten Konversationstons und der kontrollierten Ausbrüche, wie sie im alten Haus üblich waren, eine gewaltige, ja, geradezu dröhnende Darstellung verlangte, um über die Rampe zu kommen und überzeugen zu können.

Adele Sandrock war sich ihrer Wirkung bewusst, nicht jedoch ihrer mentalen Möglichkeiten. Dass sie anfangs auch die Luise Millerin, die Emilia Galotti spielte statt die Lady Milford oder die Gräfin Orsina, die ihrem Temperament und ihrer – wie es schon früh hieß: junonischen – Konstitution eher entsprochen hätten, war der Überzeugung geschuldet, dass ihr alle schauspielerischen Mittel zu Gebote stünden. Eine Zeit lang ging das gut, weil es einen neuen, „modernen“ Stil etablierte, der notwendig war, um den Vorwurf der Unbespielbarkeit der Bühne des neuen Burgtheaters zu entkräften. Es gelang, wenn auch auf Kosten des alten Ensemblegedankens. Adele Sandrock hat sich nie als Mitglied eines Ensembles gefühlt. Ebenso wenig wie Friedrich Mitterwurzer oder Joseph Kainz. Das waren Stars, die sich nicht einordneten, die sich von keinem Regisseur etwas sagen ließen, die kein Miteinander kannten, sondern die die anderen überstrahlten. Adele Sandrock nahm das als selbstverständlich an. Es kamen für sie nur tragende Rollen infrage, in denen sie überragen konnte. Verwunderung darüber, dass sie sich auch Rollen des sentimentalen Rührstücks aussuchte, ist unangebracht. Nicht das Drama oder der Stücktyp zählte, nicht die literarische Qualität, sondern die theatralische Wirkung, die sie damit auf der Bühne erzielen konnte.

Die Isolierung der Rolle aus dem dramaturgischen Zusammenhang war das bestimmende Element dieses Spielstils. Nur so war das Gastieren der Stars mit ihren Rollen überall auf der Welt möglich. Ein „Star“ ließ sich nicht dazu herab, Nebenrollen zu spielen. Einordnung oder Unterordnung waren nicht denkbar. Der Auftritt konnte nicht nebenbei, mit andern, erfolgen. Genau daran ging Adele Sandrock zugrunde. Der dramatische Stil hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts geändert. Der Ensemblegedanke kehrte zurück. Hinzu kam die Schwierigkeit, dass sie die ewig Jugendliche sein wollte. Mutterrollen? Unvorstellbar. Jüngeren Damen den Vortritt zu lassen? Eine Zumutung. Das waren nicht Kolleginnen, das waren Konkurrentinnen, die sie verdrängen wollten. Andiesem Umstand zerbrach ihre Karriere. Die halb so alte Lotte Medelsky, ein„Kind“ von 18 Jahren, bekam die Rolle der „Jungfrau von Orleans“, wurde als Schnitzlers Christine in„Liebelei“ eingesetzt, die doch als Rolle der Sandrock gehörte, die sie uraufgeführt hatte. Die Sandrock verließ das Burgtheater und war damit heimatlos, auf Gastspiele angewiesen. Max Reinhardt, der sie in Berlin engagierte, verlangte selbstverständlich auch, dass sie kleinere Rollen, sogar Mütter, übernahm. Das kam für sie nicht infrage.

Ihre Anmaßung wurde bestraft, sie geriet in Not, musste tingeln. Ihre Zeit war zu Ende. Das hohe Pathos, das sie kultiviert hatte, war hohl geworden. Ihr Dröhnen war kurios. Das rollende „R“ machte lachen. Genau das war das Problem und wurde ihre Chance.

Sie hatte sich nie an die sogenannten Rollenfächer gehalten. Als Hauptrollenspielerin hatte sie keinen Unterschied zwischen dem Fach der „Naiven“, der „Femme fatal“, der Intrigantin, der Heldin gemacht. Nur „Alte“ waren nicht drin. Das Rollenfach der„komischen Alten“ war in der Regel eine logische Entwicklung im Theaterleben der Soubretten und Komikerinnen, wenn sie in die Jahre kamen. Aber nicht der Heroinen. Die wurden Heldenmütter und tragischeGreisinnen. Adele Sandrock vollbrachte den Sprung ins komische Fach. Aber sie wurde keine „komische Alte“. Der Film machte es möglich. Und ihre Einsicht, auch Nebenrollen nicht zu verschmähen, in der Selbstgewissheit, dass sie sie zu Hauptrollen machte. Und das gelang. Die Filme wurden von ihren Rollen abhängig. Autoritär entschied sie als Mutter, Tante, Großmutter, Schwiegermutter über alle „Mitwirkenden“, die von ihr dominiert und kujoniert, schikaniert und zu ihrem Glück gezwungen wurden.

Von Gisela Werbezirk gibt es die Anekdote, dass sie in untergeordneten Filmrollen in Hollywood, etwa als Dienstmädchen, alle andern an die Wand spielte – was niemand je erfuhr, weil die Szenen herausgeschnitten wurden. Sie hätten das dramaturgische Gefüge zertrümmert. Das haben Komiker und Komikerinnen so an sich. Deshalb haben die weisen Operettenlibrettisten sie für den dritten Akt aufgespart. Da konnten sie nichts mehr kaputt spielen, sehr wohl aber das Geschehen ablenkend hochreißen und Stimmung machen fürs unweigerliche Happy End.

Die Filme, in denen Adele Sandrock mitwirkte, waren ihre Filme. Garantierte Kassenschlager. Als Junge hätte sie die nun praktizierte Selbstüberwindung nicht gepackt. Ältere Dame wollte sie auf dem Theater nie sein (mit Ausnahme der berühmten Übergangsstationen „Liebestrank“ und „Bunbury“ in den Zwanzigerjahren). Im Film aber machte sie aus den komischen Alten Respekt heischende Damen. Denn Dame blieb sie. Sie bekam keine Lust am Ordinären wie etwa Bette Davies in „Pocketful of Miracles“ („Die unteren Zehntausend“). Sie brachte auch alle ihre kostbaren Roben aus der Glanzzeit mit. Alles nur eine Frage der Abnäher.

Ihre gravitätischen, herrschsüchtigen, unduldsamen, dominanten Herrinnen – „alles hört auf mein Kommando“ – gehörten einer scheinbar vergangenen Zeit an, behielten aber ihre Geltung und unnachgiebige Gegenwärtigkeit. Das war „gute alte Zeit“, die sich in der neuen Zeit behauptete. Herrschaft ohne Wimpernzucken. Die Augen werden gerollt, der Mund bleibt verkniffen. Kaum ein Lächeln, nie ein Lachen. Doch sie weiß, sie ist „eine heitere Schauspielerin“. Das Gesicht: die starre Maske einer Respektsperson. Die Ungerührtheit Buster Keatons, aber in den Tonfilm hinübergerettet. Nie verliert sie ihre Würde. Sie behauptet die Berechtigung des Alters in der Welt der Jungen, die sie nicht mag, denn „sie drängen uns aus dem Leben“ („Töchter ihrer Exzellenz“, 1934). Ja, sie war auch einmal jung, aber „ich erinnere mich nicht mehr daran“. Ob sie sich einer Schönheitsoperation unterziehen wolle („Der Herr ohne Wohnung“, 1934)? „Das überlasse ich denen, die es nötig haben.“ Gewiss war es „zu meiner Zeit“ („Rendezvous in Wien“, 1936) besser, aber es ist nicht einzusehen, dass diese Zeit wirklich vergangen sein soll. Sie rettet das Alte, das sie wie ihr Publikum für gut hält, in die Gegenwart herüber. Ein zerklüfteter Fels im Sturm einer neuen Zeit. Wo sie steht, ist oben. Was sie sagt und tut, hat Gewicht. Auch wenn sie bekennen muss: „Ich habe eine Schlacht verloren“ („Die englische Heirat“, 1934), sie bleibt obenauf.

Kleist und seine Vorläufer Molière und Plautus haben in der Behandlung des Amphitryon-Stoffes einen Fehler gemacht. Sie haben Juno vergessen. Das hat Reinhold Schünzel in seinem Film „Aus den Wolken kommt das Glück“ von 1936 für alle Zeiten korrigiert. Wenn Juno die Augen aufreißt, als sie durch die Fernlupe ihren Herrn Gemahl wieder einmal auf Abwegen sieht; wenn sie Alkmene zurechtweisen will und sich dabei doch unversehens in Diskussionen über die neueste Mode verstrickt – das ist nicht zum Lachen. Das ist furchterregend. Aller männlicher Charme, alles maskuline Muskelspiel werden zuschanden vor der starren Unerschütterlichkeit und Rechtsgewissheit der Hüterin des Herdes.

Adele Sandrock – eine Ikone der Komik. Aber keine komische Ikone. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist's nur ein Schritt – aber umgekehrt zieht sich's. Adele Sandrock hat dieses Wunder vollbracht. Ihre Lächerlichkeit schafft den Schritt ins Erhabene und bleibt – über alle Beliebtheit und Verehrung hinaus – ein ungefährdetes Ereignis. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.