Das Griss um die „Presse“

„Daß auch wir in Wien eine Revolution machen werden...“ Augenzeuge der turbulenten Jahre von 1848 bis 1850: aus dem Tagebuch des Journalisten Benjamin Kewall.

Im März 2003 machte ein Angestellter des Altstoffsammelzentrums in Bad Zell, Oberösterreich, einen spannenden Fund: einen Tagebuchband, verfasst in einer für ihn unlesbaren Handschrift. Durch verschiedene Hände gelangte der kleinformatige 400-Seiten-Band zum Benediktinerpater und Melker Stiftsbibliothekar Gottfried Glaßner. Dieser erkannte, dass das Buch mit hebräischen Schriftzeichen und in Schreibrichtung von rechts nach links, aber in deutscher Sprache, verfasstworden war.

Der Melker Pater übergab das Tagebuch dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten zur genaueren Erforschung. Dort hatte ich als Historiker und Institutsmitarbeiter die Möglichkeit, im Rahmen eines Dissertationsprojekts das bis dahin anonyme Tagebuch zu transkribieren und als Buch (bei Böhlau) herauszugeben. Die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit Schrift, Sprache und Stil ließen auf einen liberal gesinnten, deutschsprachigen Juden schließen, der aufgrund seiner im Tagebuch gemachten Angaben und mithilfevon Familienlisten der „tolerierten Juden“ in Wien als Benjamin Kewall (1806–1880) identifiziert werden konnte.

Durch sein Tagebuch gewährt Kewall Einblick in sein Leben als Hauslehrer, Journalist und Beobachter der politischen Geschehnisse der Wiener Revolution und die daran anschließenden turbulenten Jahre bis 1850. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Tagebuch ließ eine Auseinandersetzung mit verschiedensten Aspekten des Lebens Benjamin Kewalls und der jüdischen Bevölkerung in Wien um die Zeit der Revolution zu. Nur einige sollen hier besonders betrachtet werden: Zunächst ist dies der konfessionelle Antisemitismus, wie er bereits im Jahr 1848 in Erscheinung trat. Daneben stehen die Ereignisse der Wiener Revolution aus der Wahrnehmung des Autors im Mittelpunkt – und endlich seine Sicht auf die Wiener Publizistik, im Speziellen auf die damals gegründete „Presse“, die Kewall als eine seiner wichtigsten Quellen für die eigene journalistische Arbeit herangezogen hat.

Dem vorhandenen Tagebuchband dürften weitere vorgegangen sein, denn der Schreiber beginnt seine erste Eintragung am 27. August 1848 mit den Worten: Ich komme nun wieder nach den im letzten Bande abgebrochenen Nachrichten über meine persönlichen Verhältnisse zu den traurigen unseres Staatslebens zurück.

„Ein kräftiges stolzes Oestreich“

In weiterer Folge nimmt er Bezug auf die 1848 in ganz Europa ausgebrochenen revolutionären Aufstände und wünscht sich dabei „ein großes kräftiges stolzes Oestreich“, „daß die Sprachverschiedenheit dem gemeinsamen Interesse unterordnen muß“. Bereits am 13. März war es in Wien zu einem Volksaufstand gekommen, nachdem Demonstranten vor dem Niederösterreichischen Landtag gewaltsam vertrieben worden waren. Das Volk hatte sich versammelt, um gegen die aus seiner Sicht durch die Politik verursachte schlechte wirtschaftliche Lage des Landes und den drohenden Börsenkrach zu protestieren. Nach einigen stürmischen Wochen erreichten die Bürger und Studenten ihre Forderungen nach Pressefreiheit und parlamentarischer Selbstbestimmung.

Benjamin Kewall, der als Hauslehrer bei dem k.k. Hofpferdelieferanten Markus Mayer Strass tätig war, hatte die Revolution zu Beginn noch freudig begrüßt. Mit Fortdauer der politischen Unruhen brachte er den Anliegen der Bürger und Studenten jedoch immer mehr Skepsis entgegen. Das neu formierte Parlament hatte nicht die von ihm ersehnte Emanzipation der Juden, das heißt deren bürgerliche Gleichstellung, gebracht. Zudem lag es in seinem Interesse, dass die politische und polizeiliche Ordnung möglichst aufrechtblieb, denn als Mitglied einer Minderheit sah er sich und seine Glaubensgenossen zunehmend Gefahren ausgesetzt. In Pressburg und Prag war es bereits zu Pogromen gegen Juden gekommen, und die antijüdische Stimmung in Wien war deutlich spürbar.

In seiner im September 1848 veröffentlichten Schrift „Immer und überall die Juden!“ formulierte er: Auch ist der alte Judenhaß noch nicht todt. Wie sollte er es auch! Hat man doch bisher in Schule, Kirche und Haus ihm immer neue Lebenskraft eingehaucht; hat doch das Volk nur immer gegen die Juden lehren, predigen und reden gehört. Ganz besonders aber – merabile et horrible dictu! – in den letzten Tagen, in den Tagen, wo Alles frei, wo Alles gleich und brüderlich ward, da ward der Judenhaß noch fruchtbarer als der Fisch, wenn auch leider nicht so stumm wie dieser. Er bringt euch hundert und hundert Gründe gegen die Juden und ihre Emanzipation vor: Und wenn ihr dagegen hundert und hundert Mal beweiset, dass diese Gründe nur sumpfige Gründe voll Irrwische sind, – wie denn das auch von jüdischer und christlicher Seite bereits geschehen ist, – hilft Alles nichts; dieser ekelhafte Bandwurm bekömmt für ein ihm abgerissenes Glied zehn andere. Nichts destoweniger muß der Kampf gegen ihn unermüdet fortgesetzt werden, da es denn doch nicht unmöglich ist, ihn ganz abzutreiben.Kewall bezieht sich dabei auf eine Metapher, die von den, wie er sie nennt, „Judenfressern“ vorgebracht worden war.

Im Kapitel „Sybillinisches“ in „Das bunte Buch“ heißt es etwa: In alle Welt zerstreut, schlingt er [der Jude] sich, bald dünner, bald breiter, immer aber in innigstem Zusammenhang in fast unerforschlichen Windungen und Krümmungen, ein Riesenbandwurm,um die Ernährungsorgane eines jeden kultivierten Staatskörpers, und wie oft man ihn auch abzutreiben versucht hat, man gewann, nicht so glücklich wie beim kleinen im menschlichen Körper, bis jetzt stets nur größere oder kürzere Stücke, nie aber den Kopf selbst. Diesen Text eines anonymen Verfassers hat Franz Stelzhamer (1802–1874),der oberösterreichische Dichter, für einen nicht näher benannten Freund 1852 herausgegeben.

Zahlreiche revolutionäre Flugblätter, die 1848 unters Volk gebracht wurden, waren gegen Juden gerichtet und erlangten in Wien Berühmtheit. Paradoxerweise wurden ihnen dabei der Ausbruch der Revolution wie deren Unterwerfung zur Last gelegt. Doch wie sahen dies die Angegriffenen selbst? Kewall und die meisten jüdischen Intellektuellen kämpften mithilfe der Wiener Publizistik dagegen an. Zwar wurden nun demokratische Ideen hochgehalten, traten nationale Ideen vor religiöse, und die Pressefreiheit wurde gefeiert. Doch besonders in Österreich wehrte sich eine klerikal geprägte Gruppe gegen diese Strukturänderungen. Sie sah ihre Werte im Schwinden und suchte nach Schuldigen.

Neben den jüdischen Intellektuellen, diesich aus Hauslehrern, Schriftstellern, Journalisten, Studenten et cetera zusammensetzten, waren die in Wien anwesenden Juden sozial und religiös weit gestreut: Tolerierte und Angestellte, Händler und Kleinhändler, Arbeiter und Dienstbotinnen, orthodoxe Juden und Aufklärer waren es, die das Bild der Wiener Judenschaft zu jener Zeit prägten. Trotz der bereits in den 1840ern in ganz Europa neu entstandenen nationalen Identitäten waren Juden noch weit davon entfernt, sich als nationale Bewegung zu definieren.

Ein großer Teil sah sich einem konfessionellen Judentum zugehörig, welches das religiöse Leben nicht mehr in den Mittelpunkt stellte. Lediglich die höchsten Feiertage (Versöhnungstage, Neujahr und Pessach) waren für sie von Bedeutung. Dies wird auch anhand von Kewalls Ausführungen deutlich. Ausgelöst durch den Lynchmord am verhassten Kriegsminister Latour, fand die Wiener Revolution durch den Einmarsch der kaiserlichen Armee unter Mithilfe von kroatischen Truppen Ende Oktober 1848 schließlich ihr Ende. Benjamin Kewall erlebte diese Tage in der Jägerzeile 66(heute: Czerningasse 13, Praterstraße 56), im Haus seines Arbeitgebers, dessen Pferdestallungen als Schutzraum für ihn und zahlreiche Nachbarn dienten. Am 19. Oktober schreibt er in sein Tagebuch: Heute ist die Stimmung wieder entsetzlich trübe, denn man wagt es sich zu fragen, was das Ende dieser langen Geschichte sein werde. Auch ist zum ersten Male heute die Lebensmittelzufuhr ausgeblieben, weil die Soldaten alle Wagen untersuchen und Waffen und Eßwaren zurückhalten, aber nicht confisciren. Die Stadt hält einen so abnormen Zustand nicht lange mehr aus. Die Briefposten werden ebenfalls zurückgehalten. Kurz: Man wird Wien durch Hunger bezwingen.

„Dreißig Individuen zu erschießen“

Den Höhepunkt erreichte die Schlacht um Wien am 29. Oktober mit dem Vorrücken der kaiserlichen Truppen über die Praterstraße in die Innere Stadt: In unserm Stalle nahmen sie alle Pferde und zerschmetterten beinahe dem alten Kutscher den Kopf... Zwei Tage später hatte sich die kaiserliche Armee durchgesetzt und sich die Revolutionäre ergeben. Nun begann die Zeit des Belagerungszustands und Standrechts, während jener Fürst Windischgrätz und General Welden die Stadt in Angst und Schrecken versetzten. Es kam zu zahlreichen Schauprozessen und Erschießungen.

Ein paar Tage später, am 7. November1848, notiert Kewall: Wien gewinnt einen immer freundlichern Anblick, und außer den ehrwürdigen, durch ihre Ehrlichkeit besonders hervorragenden Croaten und den außerordentlich vielen unausstehlichen Leutnants gemahnt nichts daran, daß wir unter militärischer Dictatur leben, obgleich ein Freund erzählte, daß in einem Hause, wo Jäger einquartiert liegen, diese gestern Mittag etwas später zum Essen kamen und dann einige Juden unter ihnen erzählten, daß sie beordert gewesen sind, dreißig Individuen im Belvedere zu erschießen. Unter den Verurtheilten sollen auch viele Glaubensgenossen gewesen sein. Es wäre in der That schrecklich, wenn solche Barbareien stattfinden sollten, und doch scheint mir etwas Derartiges nicht ganz unwahrscheinlich, da ich von allen meinen studentischen Bekannten noch keinen einzigen wiedergesehen habe. Und fährt ein paar Zeilen weiter fort: Auch „Die Presse“ erschien endlich wieder und wird ungemein stark aufgekauft. Es ist begreiflich,daß man das Erscheinen dieses Blattes als ein Zeichen der Mäßigung von Seiten des Fürsten ansieht, da seiner Proklamation zufolge alle Journale suspendiert bleiben sollten.

Neben den erwähnten ausländischenBlättern war „Die Presse“ Kewalls wichtigste Quelle, um seine politische Neugierde zu stillen. Am 3. Juli 1848 erschien ihre erste Ausgabe. Am 6. Juni 1849 notiert Kewall:„Die Presse“ hat sich im Laufe eines kurzen Zeitraumes zum gelesensten Blatte der Monarchie emporgeschwungen und der Regierungthatsächliche Beweise ihres unermeßlichen Einflusses auf die öffentliche Meinung geliefert, weshalb es nun schwer fällt, ein so gelesenes & zugleich so gesinnungstüchtiges Blatt zu verbieten. Und fügt am 5. Dezember 1849 an: Wien ist bedeutend radical geworden und unterstützt auch nur die liberalen Journale; so hat „Die Presse“ durch ihre taktvolle Opposition sechshundert neue Abonnenten am ersten dieses [Monats] bekommen und druckt gegenwärtig täglich 14 tausend Exemplare. Die schlechte Witterung verhindert die Communication in so hohem Grade, daß wir heute keine fremden Zeitungen bekommen.

Die Lücke, die die aufgrund der niedergeschlagenen Revolution geflohenen Journalisten und politischen Aktivisten hinterließen, eröffnete für Benjamin Kewall die Chance, selbst als Zeitungsmann tätig zu werden. Ab Jänner 1849 fand er eine erste Anstellung bei der „AllgemeinenOesterreichischen Zeitung“ und führt am 7. Jänner 1849 aus: Mit meinen Arbeiten ist heute ein ziemlicher Theil des Morgenblattes unsrer Zeitung ausgefüllt. Obgleich der Gegenstand nicht unintressant ist, so wird das Blatt doch wenig gelesen, weil eben Kuranda alle hiesigen Blätter überragt durch die unabhängige Stellung, die er einzunehmen gewußt. – Landsteiners „Presse“ hat einen sehr großen Leserkreis, den sie mit Recht durch ihre geistreichen Aufsätze verdient.

In den nächsten eineinhalb Jahren schrieb Kewall für weitere Wiener Journale („Der Wanderer“, „Der Lloyd“) und lieferte Korrespondenzen für einige deutsche Blätter („Augsburger Allgemeine Zeitung“, „Constitutionelle Zeitung“). Er tat dies, indem er etwa aus der „Times“ und der „Presse“ Nachrichten zusammenfasste. Eintrag vom 3. Juli 1849: Es ist in der That merkwürdig, in welcher Weise „Die Presse“ die Gunst des Publikums auszubeuten weiß. Allabendlich umlagern Hunderte Menschen das Gewölbe, um das Erscheinen des Blattes zu erwarten. Man rauft sich in der That, um nur desselben habhaft zu werden, und für einen Kreuzer wird man in der That reichlich entschädigt; denn das Blättchen enthält der Neuigkeiten in Fülle, und benütze ich es gewöhnlich noch für meine Correspondenz nach Augsburg und Berlin, um in kurzen Worten die wichtigsten Nachrichten meinem Briefe beizufügen.

Er schließt mit einer inhaltlichen Kritik an: Nur finde ich, daß „Die Presse“ häufig allzusehr servil geworden ist, was mir nicht recht zusagt; denn mir will bedünken, daß ein wenig Wahrheit noth thun würde, nach oben und unten gewisse Dinge zur Sprache zu bringen. So gefällt es mir ganz und gar nicht, daß der Kaiser so viel Vorliebe für den Krieg und den Kriegerstand zeigt. Bei dem trübseligen Zustande unsrer Finanzen werden unermeßliche Summen verschleudert, die gewiß nützlicher verwendet werden dürften. Wird es übrigens an G(elegen)h(eit) mangeln, Krieg zu führen, weil Ungarn unterjocht sein wird? Gewiß nicht! Die Lage Italiens zeigt klar und deutlich, daß hier ebenso wie in Deutschland der Boden ist, die Kämpfe durchzufechten, die der Länge nach unvermeidlich sind.

In absoluten Zahlen machten Juden in der Wiener Publizistik des Jahres 1848 nur einen geringen Teil aus. Ihr Anteil stieg in diesem Jahr dennoch beachtlich. Die Berufswahl junger jüdischer Intellektueller fiel nach Verbesserung der Rechtslage und Aufhebung des MetternichschenZensursystems auch auf die Journalistik, weil sich Freiberufe schneller für sie eröffneten. Von der Gegenseite wurden die revolutionären Journale als „Judenpresse“ abgestempelt. Einmal auf diesen abfällig gemeinten Begriff eingeschworen, ließ sich die repressive Journalistik nicht mehrdavon abbringen.

Benjamin Kewalls Eintragungen enden am 31.Mai 1850. Wie aus seinem Tagebuch herauszulesen ist, musste er zu jener Zeit auch sein journalistisches Engagement auf unbestimmte Zeit beenden. Zwei Jahre später zog er von Wien zurück in seine Heimatgemeinde Polna in Böhmen, wo er als Sohn eines Hausierers 1806 zur Welt gekommen war. Diese Rückkehr wirft einige Fragen auf, denn der Sohn eines Bündelträgers war vom Talmudschüler zum Gelehrten, vom Hauslehrer zum Journalisten aufgestiegen, um am Ende in seiner Heimatstadt ein äußerst kärgliches Leben zu führen. Gemeinsam mit seiner Schwester Maria lebte er in bescheidenen Verhältnissen bei Verwandten – zeitweise auch im Armenhaus – und starb dort am 9. November 1880. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2013)

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