„Finger sind nur Diener“

„Dieses Streben nach Authentizität hat vieles zunichtegemacht, was Interpretation ist.“ Der Pianist David Fray über das Zusammenspiel von Kopf und Fingern, Karriere, kammermusikalische Hoffnungen – und warum es gesund sein kann, verdammt zu werden.

David Fray, die kanadische Pianistenikone Glenn Gould meinte, Klavier spielen habe mehr mit dem Kopf als mit den Fingern zu tun. Wie sehen Sie das?

Ich könnte es nicht besser sagen. Jedenfalls sollte es so sein. Entscheidend sind der Kopf und das Ohr, die Finger sind nur die Diener der musikalischen Idee. Wenn man die Finger alleine spielen lässt, wird man vielleicht ein guter Pianist, aber sicher kein Künstler.

Wie sind Sie zum Klavierspiel gekommen?

Meine Eltern wünschten sich, dass mein Bruder und ich Klavier lernen. Sie wollten aus uns aber keine Konzertpianisten machen. Mein Bruder arbeitet heute als Rechtsanwalt.

Wann haben Sie gespürt, dass Sie das Klavierspielen zum Beruf machen könnten?

Mit meinem erfolgreichen Eintritt in das Pariser Konservatorium, da war ich 17 Jahre. Hätte das nicht geklappt, hätten mich meine Eltern sicher bestärkt, einen anderen Beruf ins Auge zu fassen.

Technisch gesehen bedeutet Musizieren Noten zu einem individuellen Leben zu erwecken, also zu interpretieren. Wie verträgt sich das mit dem, was man Texttreue nennt?

Mag sein, dass dies provokativ klingt, aber ich glaube, dieses Streben nach Objektivität und Authentizität hat vieles zunichtegemacht, was Interpretation ist. Natürlich müssen wir alles akzeptieren, was der Komponist aufgeschrieben hat. Aber zu objektiv und authentisch zu sein tötet die Kreativität. Diese Entwicklung hat mit der modernen Musik begonnen. Viele dieser Komponisten verlangen eine kompromisslos präzise Umsetzung des Notentextes. Man muss diese Entwicklung freilich als Reaktion auf das vorangegangene romantische Musizierideal sehen. Wenn man nur die Pianisten des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts als Beispiel nimmt: Ihr Spiel ist voller Freiheit, sie schaffen die Stücke quasi neu. Mit der Objektivität dagegen ist es so eine Sache. Was bedeutet Allegro, Andantino, Allegretto? Selbst wenn man dies mit den jeweiligen Notentexten in Bezug setzt, hängt es immer davon ab, was der Einzelne denkt, und was er fühlt. Ich jedenfalls ziehe Alfred Cortot sogenannten objektiven Interpreten vor.

Bleiben wir bei den Interpreten. Wenn man Ihnen beim Spielen zusieht, erinnern sie in Ihrem Habitus an Glenn Gould. Als Ihr großes Vorbild nennen Sie immer wieder Wilhelm Kempff, der aber doch in vielem sehr anders ist als Sie. Was fasziniert Sie an ihm?

Es sind viele Dinge: Kempff war nicht nur Pianist, sondern auch Organist und Komponist. Leider hatte ich nie Gelegenheit, ihn persönlich zu erleben. Aber seine Platten dokumentieren seine besondere Fähigkeit, die Erfahrungen eines Organisten mit pianistischer Freiheit und kompositorischer Improvisationskunst zu verbinden. Das erklärt die Frische, aber auch die Farbigkeit seines Spiels. Man wird nie müde, seinen Interpretationen zuzuhören.

Manche Kritiker meinen, Sie wären der aufregendste Bach-Pianist der Gegenwart. Wie gehen Sie mit einem solchen Urteil um?

Das Gesunde in unserem Beruf ist, dass einen manche Kritiker in den Himmel heben, die anderen verdammen. Man findet sich dann irgendwo in der Mitte. Ich orientiere mich weder an dem einen noch am anderen Extrem. Natürlich freut es mich, wenn jemandem mein Klavierspiel gefällt, aber noch wichtiger ist mir, dass ich verstanden werde.

Sprechen Sie zu Hause über Musik, etwa mit Ihrem Schwiegervater, Riccardo Muti?

Natürlich gibt er mir Ratschläge, aber er ist sehr beschäftigt. Es war eine tolle Chance, schon in jungen Jahren mit ihm auftreten zu dürfen. Für mich ist aber nicht so sehr bedeutend, was er und andere bedeutende Musiker über Musik sagen, da sie meist nur wenig darüber sprechen. Viel wichtiger ist für mich, ihnen beim Probieren zuzusehen. Wenn man wirklich wissen möchte, welche musikalische Vorstellung jemand hat, muss man zu seinen Proben kommen. Ich habe zahlreiche DVDs mit Probenausschnitten, unter anderem von Carlos Kleiber, Celibidache, aber auch Karl Böhm oder Jewgenij Mrawinski. Es klingt vielleicht seltsam, wenn ich nur tote Dirigenten nenne. Aber sie lebten in einer Zeit, in der – wenigstens nach meiner Meinung – anders musiziert worden ist als heute, man braucht nur an Alfred Cortot zu denken.

Oder an Arturo Benedetti Michelangeli.

Bei ihm sehe ich das anders. Er war unbestritten einer der größten Pianisten. Aber Pianisten wie er kreierten einen Perfektionismus, von dem ich üb erzeugt bin, dass er der Musik nicht guttut. Für mich bedeutet es keinen Fortschritt in der Interpretation, wenn man sich nur auf Objektivität und Perfektion konzentriert.

Sie leiten gerne Konzerte von Bach und Mozart vom Flügel aus. Ist es für Sie ein Unterschied, ob Sie unter einem Dirigenten spielen oder in der Doppelrolle Solist-Dirigent musizieren?

Ich bin überzeugt, dass ein guter Pianist auch dirigentische Fähigkeiten haben sollte. Besser gesagt: Er sollte die Mentalität eines Dirigenten besitzen. Wenn man sich nur auf den Klavierpart konzentriert, kann dies unter Umständen zu einer rein mechanischen Übung werden. Als dirigierender Solist versucht man von Anbeginn, das Stück zu gestalten und anderen seine Vorstellungen zu demonstrieren. Das geht nicht bei jedem Repertoire. Aber wenn man Klavierkonzerte von Bach oder Mozart vom Klavier aus führt, erreicht man meistens ein natürlicheres Musizieren und ein kammermusikalisches Miteinander.

Apropos: Ihr Verhältnis zu Kammermusik?

Leider komme ich kaum dazu. Ich würde auch gerne mit Sängern arbeiten, aber es ist nicht einfach, die entsprechenden Partner zu finden. Dennoch, die Hoffnung ist da. ■

David Fray: Zur Person

1981 im französischen Tarbes geboren, wurde David Fray, Sohn eines Kant- und Hegel-Forschers und einer Lehrerin mit tschechischen, polnischen und finnischen Wurzeln, gleich für seine erste Einspielung, mit Werken von Bach und Boulez, mit einem Echo-Klassik-Preis ausgezeichnet. Kultcharakter hat der Film des französischen Regisseurs Bruno Monsaingeon, der Fray bei der Probenarbeit mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen zeigt.

Am 21. September gastiert Fray im Rahmen der Globart Academy mit Bach in der Kremser Minoritenkirche.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2013)

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