Fremd sind wir eingezogen

THEMENBILD:  WANDERN / SOMMER /
THEMENBILD: WANDERN / SOMMER /APA/BARBARA GINDL
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Der Mensch wandert, seit es ihn gibt. Wandernd erst ist er zum Menschen geworden. Homo sapiens, Homo migrans: eine sehr bewegte Kulturgeschichte.

Die „Festung Europa“ werde, sohört und liest man, regelrecht belagert. Tausende, vermutlich sogar Hunderttausende Afrikanersuchen unablässig nach Mitteln und Wegen, wie sie etwa von Marokko ausnach Spanien oder von Libyen auf die italienische Insel Lampedusa gelangen könnten.

Dass Menschen, von Afrika kommend, nach Europa auswandern wollen, ist nicht neu. Mehrfach ist das in großem Stil auch gelungen. Zuletzt – das ist menschheitsgeschichtlich noch nicht lange her – vor 40.000 oder auch schon 70.000 Jahren. Die Afrikaner, die sich damals nach Europa aufgemachthaben, das waren wir, der sogenannte moderne Mensch, der Homo sapiens sapiens. Und wir haben andere Afrikaner, die damals wenigstens schon 200.000 Jahre in Europa ansässig waren, verdrängt: die Neandertaler (uns nahe verwandt und längst nicht so primitiv, wie manche von uns glauben).

Wir Europäer, die wir uns heute des afrikanischen Zuzugs zu erwehren versuchen, sind – wenn unsere Hautfarbe das auch nicht mehr vermuten lässt – selber Afrikaner. Immer noch. So wie alle Menschen überall auf der Erde. Diese Behauptung ist keineswegsso kühn, wie es scheint:Die Beschaffenheit unseres Körpers entsprichtdem warmen Klima in Afrika. Nackt könnten wir in kälteren Gegenden nicht überleben, wir mussten dafür die wärmende Kleidung erfinden. Nur so konnten wir in all die Weltgegenden vordringen, für die unser afrikanischer Körper eigentlich gar nicht gemacht ist.

Der Mensch wandert, seit es ihn gibt. Wandernd erst ist er zum Menschen geworden. Unser im Vergleich zu den übrigen Primaten so großes Gehirn hat nur deshalb an Volumen derart zunehmen können, weil unsere Vorfahren – anders als etwa unsere „Cousins“, die Schimpansen – immer stärker auch tierische Nahrung in nennenswerten Mengen zu sich nahmen. Ohne bestimmte Phosphorverbindungen, zu denen wir (was Vegetarier nicht gerne hören) nur durchs „Fleischfressen“ kommen können, hätte unser Gehirn, sagt uns die Wissenschaft, seine heutige Größe nicht erreichen können.

So lange sie die Kunst der Jagd noch nichterfunden hatten, konnten unsere Vorfahren an größere Portionen Fleisch nur herankommen, indem sie in der afrikanischen Savanne hinter den jahreszeitlich wandernden Großwildherden herzogen. Da blieb immer wieder ein krankes oder schwaches Tier zurück, da waren immer wieder auch die Reste einer Raubtiermahlzeit zu finden... Als Jäger (undSammler) hing das Leben des Menschen dann ganz wesentlich von seiner Mobilität ab, seiner Bereitschaft und Fähigkeit, dasWild auch über weite Strecken hin aufzuspüren und zu verfolgen.

Äußere Umstände, etwa durch Klimaveränderungen verschlechterte Lebensbedingungen, werden zum Immer-weiter-Wandern beigetragen haben. Und wohl auch die simple Neugier, wie die Welt wohl hinterm Horizont aussehen mag, ob dort vielleicht das Gras noch grüner ist und die Tiere noch fetter sind. Über tausend odermehr Generationen hinwurden dabei gewaltigeStrecken zurückgelegt. Vor15.000 Jahren hatten unsere Vorfahren Asien durchquert und waren überdie damals – in einer Eiszeit – trockene Beringstraße nach Amerika gelangt. Seit dem zehnten vorchristlichen Jahrtausend,von der „Neolithischen Revolution“ an, durch die Erfindung des Ackerbaus, ist der Mensch, die Menschheit, dann sesshaft geworden. Viele sahen und sehen darin den vielleicht bedeutendsten Fortschritt der Menschheitsgeschichte. Erst vom Zwang zum Herumwandern befreit, habe der Mensch so etwas wie Zivilisation entwickeln können. Andere sahen und sehen das als jene „Vertreibung aus dem Paradies“, die in vielen Mythen thematisiert wird. Aus dem freien selbstbestimmten Jäger sei der an ein Stück Land gefesselte Bauer geworden, der „im Schweiße seines Antlitzes sein Brot essen“ müsse, wie es in der Bibel heißt. Es sind damals allerdings nicht alle Menschen sesshaft geworden. Viele blieben (in manchenTeilen der Welt fast bis in unsere Gegenwart herein) Jäger und Sammler. Viele aber nützten die neben dem Ackerbau zweite große Errungenschaft der „Neolithischen Revolution“, nämlich die Domestizierung bestimmter Tiere, um weiterhin im Herumziehen zu leben, als Viehnomaden. Lange Zeit haben die Sesshaften (die sich in allen historischen Fragen die Deutungshoheit anmaßen) die nomadische Lebensweise als eine Vorstufe zur Sesshaftigkeit sehen wollen, tatsächlich aber waren das offenbar über die Jahrtausende hin zwei gleichberechtigte und gleichwertige Existenzformen. Bruce Chatwin, der englische Schriftsteller, der noch im 20. Jahrhundert ein nicht sesshaftes Leben erprobte, hat in den alten Ägyptern den radikalen Prototyp der Sesshaften ausgemacht, weil sie sogar im Tod noch sesshaft und behaust sein wollten. Man müsse, schlug Chatwin vor, zwischen einer Kultur der Pyramiden und einer Kultur des Lagerfeuers unterscheiden.

Konfliktfrei war das Zusammenleben zwischen den Sesshaften und den Nomaden nur selten. In manchem Teil der Welt gab es bald keinen Flecken fruchtbaren Landes mehr, dennicht ein Sesshafter als seinen Besitz betrachtete und als solchen verteidigte. Die anderen, die Nomaden, mussten in die für den Ackerbau nicht nutzbaren Gegenden ausweichen, in die Wüsten und Halbwüsten etwa. Vondort aus überfielen sie freilich, wenn sie nur konnten, die allmählich immer wohlhabenderen Dörfer und Städte. Doch kam es auch zu friedlichem Austausch. Die Sesshaften entwickelten bald die ersten arbeitsteiligen Produktionsweisen, und die so entstehendenHandwerkserzeugnisse waren auch für Nomaden begehrenswert, die ihrerseits Milchprodukte oder Leder anzubieten hatten. Und wenn ein Nomadenclan einen anderen traf, der von wiederum einem anderen exotische Kostbarkeiten erworben hatte, die er nun feilbot, dann dürfen wir darin die Anfänge des Fernhandels sehen.

Naturgemäß wissen wir, was die Frühgeschichte angeht, mehr über die Sesshaften als über die Nomaden, weil diese halt weniger hinterlassen haben, was die Archäologen ausgraben könnten. Aber aus den Patriarchenerzählungen der hebräischen Bibel erfahren wir manches über das Nomadenlebendes zweiten vorchristlichen Jahrtausends im Nahen Osten. Abram, später Abraham genannt, stamme, heißt es, aus Ur, einer sehralten Stadt, am Unterlauf des Euphrat gelegen, im südlichen Mesopotamien. Wie der Clan, dem Abraham angehört, vorher gelebt hat, erzählt die Bibel nicht. Es könnten Halbnomaden gewesen sein oder Händler oder auch sesshafte Bauern, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa infolge politischer Veränderungen, zu einer nomadischen Lebensweise entschlossen haben. So ein Wechsel der Lebensform ist tausend Jahre später den Hebräern noch durchaus vertraut. Die Bibel erzählt: Abram habe eines Tages mit seinem Vater Terach, seiner Frau Sarai (später Sara genannt), mit seinem Neffen Lot und dessen Frau die Stadt Ur verlassen. Zuerst zieht die Sippe nach Haran (an der heutigen syrisch-türkischen Grenze). Dort lässt man sich nieder.

Als Abram nach Terachs Tod zum Clan-Chef wird, bricht man mit Kleinviehherden, Ziegen und Schafen, wieder auf. Diesmal wendet man sich nach Süden und gelangt in ein Land, das bald Kanaan und viel später Palästina heißen wird. „Ein herumirrender Aramäer war mein Vater“, sagen die Hebräer 800 oder 1000 Jahre später über Abraham, den sie als ihren Ahnherrn betrachten. Man darf sich Eselsnomaden vorstellen, die in Zelten wohnen, von Weideplatz zu Weideplatz und manchmal bis weit hinunter in den Süden ziehen, bis Ägypten gar. Der Reichtum solcher Clans hängt von der Fruchtbarkeit der Tiere ab, seine Stärke von der Fruchtbarkeit der Menschen. Abrahams Herde vermehrt sich so stark, dass er sich bald von seinem Neffen Lot trennen muss, weil das Land Kanaan, wie es heißt, zwei so große Herden nicht ernähren kann. Abraham ist ein durchaus mächtiger Mann, verkehrt mit den Königen der kanaanitischen Stadtstaaten auf Augenhöhe. Er legt wandernd in seinem – zugegeben – überlangen Leben (er soll 175 Jahre alt geworden sein) etliche tausend Kilometer zurück. Als seine Frau stirbt, erwirbt er von den Hethitern ein Grundstück, um eine Grabstelle zu errichtet, dort wird er schließlich auch selbst bestattet.

Der biblische Gott liebte, zumal in seinen Anfangsjahren, die nomadisierenden Viehzüchter mehr als die Ackerbauern. Als die beiden Söhne von Adam und Eva ihm opferten, da sah er das Opfer des Schafzüchters Abel gnädig an, jenes des Bauern Kain aber nicht (woraufhin, wie uns die hebräische Bibel erzählt, der Kain den Abel erschlug). Als Gott der Herr sich einen suchte, der zum Stammvater eines Volkes werden sollte, mit dem er einen Bund zu schließen gedachte, da fiel seine Wahl mit Abram/Abraham zwar auf einen offenbar in der Stadt Ur Sesshaften, aber er verlangte von ihm, dass er fortziehe aus der Stadt. Als die Nachkommen des Abraham etliche Jahrhunderte später das Nomadisieren aufgaben, da wollte ihr König David seinem Gott einen Tempel bauen, was dieser ihm aber untersagte, denn er wollte wie in den nomadischen Zeiten zuvor in einem Zelt verehrt werden. (Dem Sohn Davids, Salomo, gestattet der biblische Gott dann freilich – warum eigentlich, das bleibt unklar – den Bau eines steinernen Tempels.)Zwei Weltreligionen sindaus nomadischen Wurzeln erwachsen: Nicht nur die Juden, auch die arabischen Muslime sehen inAbraham ihren Stammvater. Und das Christentum ist im Herumziehenentstanden. Jesus war ein Wanderprediger. Sein wirkungsmächtigster Verkünder, der Apostel Paulus, für viele der eigentliche Erfinder des Christentums, soll auf seinen Missionsreisen an die 16.000 Kilometer zurückgelegt haben. (Übrigens: Buddha, den manche von uns sich vor allem unter einem Baum sitzend und meditierend vorstellen, hat auf seinem Weg zur Erleuchtung auch geografisch beachtliche Wegstrecken zurückgelegt.)

Aus kleinen Ansiedlungen wurden Städte,dann Stadtstaaten, und aus diesen entstanden die ersten „Reiche“, auf der anderen Seiten formierten sich nach der Domestizierung des Pferdes die ersten Reitervölker. Das wird, wie der Staatsrechtler Roman Herzog es formuliert hat, zu einem fundamentalen Thema der frühen Geschichte: „die Raublust der Nomaden und die Angst der sesshaften Völker vor ihnen in weiten Teilen der Welt“. Mesopotamien beispielsweise war gegen die Einfälle der Nomaden praktisch nicht zu schützen. „So kam es“, schreibt Herzog, „immer wieder zu Einbrüchen, vor allem semitischer Stämme, denen die Bevölkerung nur mit ihrer fast unerschöpflichen Integrationskraft begegnen konnte.“ Im alten China versuchte man, das Reich mit einer gewaltigen Mauer gegen die Einfälle räuberischer Nomaden zu schützen.

Das Thema bleibt über ein paar tausend Jahre hin aktuell. Die nach Europa vorstoßenden Hunnen lösen, sehr vereinfacht gesagt, die großen spätantiken Völkerwanderungen aus und tragen so zum Ende des Weströmischen Reiches bei. Die Awaren dringen im Frühmittelalter bis Mitteleuropa vor, auch die Magyaren. Im 13. Jahrhundert unterwerfen die Mongolen erhebliche Teile Nord- und Mittelasiens, greifen russische Fürstentümer an und überrennen Europa bisnach Brandenburg, Mähren, Niederösterreich und an die Adria. – Das Pferd als Reit- und Zugtier veränderte das Wanderverhalten des Menschen von Grund auf. (Daran denken wir kaum noch: Über fast 5000 Jahre hin, bis in unser 19. Jahrhundert, war das Pferd dem Menschen unentbehrlich, wenn es größere Strecken zurückzulegen galt.) Man vermutet heute, dass die Reiterei in der südrussischen Steppe erfunden wurde. Und eben hier nahm eine gewaltige Migrationsbewegung ihren Ausgang, über die wir im Detail nicht viel wissen, deren Folgen wir aber kennen. In (vermutlich) vielen Wellen wanderten (vermutlich) berittene Menschen nach Osten bis an die Westgrenze Chinas und bis in den äußersten Westen Europas, und in all diesen Ländern werden heute noch miteinander verwandte Sprachen gesprochen, die „indoeuropäischen“.

Immer wieder verlassen in Frühgeschichte und Antike kleinere und größere Bevölkerungsgruppen und gar ganze Völker ihre Siedlungsgebiete und gelangen dabei gelegentlich in Weltgegenden, die sie kaum vom Hörensagen kannten (die Vandalen etwa, ein ostgermanischer Stammesverband, kommen über Gallien und Spanien bis nach Nordafrika). Oder es werden Armeen in Bewegung gesetzt, oft über sehr weite Strecken hin (das Heer Alexanders des Großen legt in knapp zehn Jahren an die 26.000 Kilometer zurück). Fast immer ist Landgewinn das Ziel. Land gehört dem, der es erobert und dann verteidigen kann. Cäsar überfällt und erobert Gallien – einfach weil er dazu imstande ist. Der Eroberer ist hoch angesehen und wird gepriesen. Das gilt in Europa bis in die Völkerwanderungszeit hinein.

Dann wird man unter dem Einfluss des Christentums ein wenig zimperlicher, auch verlogener. So muss von nun an, wer fremdes Land erobern will, dies mit der Behauptung verbinden, er tue das vor allem, um den dort lebenden Menschen die frohe Botschaft des Christentums zu bringen. So werden große Teile Osteuropas erobert, so argumentieren ein paar Jahrhunderte später im Zeitalter des Kolonialismus europäische Mächte ihren Anspruch auf die Beherrschung der ganzen Welt. Wenigstens religiös grundiert sind auch die Motive, die in den „Kreuzzügen“ Menschenmassenzu (wie man es einmal genannt hat) „bewaffneten Wallfahrten nach Jerusalem“ aufbrechen lassen. Und mit Religion, nämlich dem Streit der christlichen Konfessionen untereinander, hat auch der Dreißigjährige Krieg zu tun, in dessen Verlauf schwedische Heerscharen bis nach Mitteleuropa kommen. Hitler kehrte übrigens wieder zur ehrlich-brutalen Rhetorik von einst zurück, er redete ganz unumwunden davon, dass im Krieg gegen Russland für den deutschen Herrenmenschen „Lebensraum im Osten“ erobert werden sollte.

So groß auch die Wanderlust des Menschen zu allen Zeiten war, für sich allein war sie wohl nur Motiv für individuelles Wandern. Dass große Menschengruppen sich in Bewegung setzten, das hatte vermutlich immer auch andere Gründe. Wenn wir heute an Migration im großen Stil denken, fallen uns zuerst die Flüchtlingsströme ein, wie sie sich aktuell etwa von Syrien aus in etliche Nachbarländer ergießen. Aber es gibt noch andere Beispiele dafür, dass Menschen ihre Siedlungsgebiete nicht aus freien Stücken verließen. Die alten Assyrer erfanden, so viel wir wissen, die Deportation als Herrschaftsinstrument. Als sie im achten vorchristlichen Jahrhundert den hebräischen Nordstaat Israel erobern, verfrachten sie Teile von dessen Bevölkerung in andere Teile ihres Reiches (wodurch zehn von den zwölf israelitischen Stämmen aus der Geschichte verschwinden). Der hebräische Südstaat Juda wird gut 130 Jahre später von den Babyloniern erobert, die judäischen Eliten werden ins für die Entstehung der jüdischen Religion so bedeutsame „babylonische Exil“ verschleppt. – Immer wieder mussten im Verlauf der Geschichte bestimmte Bevölkerungsgruppen ihre Heimat aus religiösen Gründen verlassen. Als im Jahr 1492 die Mauren aus Spanien vertrieben waren, da zwangen die „katholischen Könige“ alle Juden,die den christlichen Glauben nicht annehmen wollten, zur Auswanderung;sie fanden Aufnahme inden Niederlanden und mehr noch im Osmanischen Reich. In unseren Breiten wurden im Zug der Gegenreformation nicht wenige Protestanten vor die Alternative gestellt, wieder katholisch zu werden oder auszuwandern.

Zur vielleicht größten „Umsiedlungsaktion“ der Geschichte entwickelte sich nach der „Entdeckung“ Amerikas der transatlantische Sklavenhandel. Die Zahl der Afrikaner, die in die beiden Amerikas verschleppt wurden, ist nicht bekannt, vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens zehn Millionen aus. Zum Jahrhundert der Deportationen und der Vertreibungen wird schließlich das 20., Hitler und Stalin haben ihren wesentlichen Anteil daran, doch nicht sie allein.

Sesshaft waren und sind sehr, sehr viele Menschen, die Menschheit als Ganzes war es nie. In einer bestimmten Gegend waren die bestimmten Menschengruppen auch immer nur für eine bestimmte Zeit sesshaft. Keiner von uns kann sagen, er lebe dort, wo seine Vorfahren immer schon gelebt haben (das gilt nicht nur für prähistorische, sondern sehr wohl auch für historische Zeiten, sogar für die vergangenen paar Jahrhunderte). Jeder von uns ist – wenn nicht ohnehin selbst Zuwanderer – der Nachfahre von Zuwanderern.

Der Homo sapiens ist ein Homo migrans. Migration ist eine Grunderfahrung des Menschen, Teil der Conditio humana. Wenigstens als Individuum hingehen zu dürfen, wo immer man wollte, das war denn auch lange Zeit ein Grundrecht freier Menschen. (Im Gegensatz dazu: Unfreie Bauern waren „an die Scholle gebunden“.) Von manchen Menschen, Handwerksgesellen etwa, erwartete man sogar, dass sie für eine Weile auf Wanderschaft gingen.

Die Staatsgrenze als Hürde und Mauer sei eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, meint die Literaturwissenschaftlerin Wiebke Sievers und erläutert das am Beispiel von Elias Canetti, der 1905 in Rustschuk im Fürstentum Bulgarien geboren wurde und 1911 mit seiner Familie nach Manchester zog. Nach dem Tod seines Vaters lebte er mit seiner Mutter und seinen Brüdern in Wien, von 1916 an in der Schweiz. Drei Jahre lang ging Canetti dann in Frankfurt zur Schule und kehrte zum Studium nach Wien zurück. Aus der Tatsache, dass er später in seiner Autobiografie nichts davon schreibt, dass bei all diesen Übersiedlungen hohe behördliche Hindernisse zu überwinden gewesen wären, schließt Wiebke Sievers, dass Staatsgrenzen für die Migration in Europa vor dem Ersten Weltkrieg kaum von Bedeutung waren.

Dass jeder am besten dort bleiben solle, wo er geboren ist, und sein Glück woanders nur dann suchen dürfe, wenn die dort Wohnenden ausdrücklich damit einverstanden sind, diese Forderung ist also recht neu in der Geschichte. Und sie wird auch nur an einen Teil der Menschheit gestellt. Wir, die wir im reichen Teil der Welt leben, können, wenn uns die Wanderlust überfällt, fast überallhin reisen, und in vielen Ländern sind wir auch als Auswanderer mehr oder weniger willkommen. Den globalen Armenhäuslern aber, die alle guten Gründe hätten, ihr Auskommen woanders zu suchen, haben wir die „Bleib gefälligst, wo du bist!“-Doktrin aufgezwungen. Das müsse so sein, sagt man, es gehe nicht anders, wir könnten sonst unseren Reichtum nicht ungeschmälert genießen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2013)

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