Wie man Musik erzieht

„Mit meiner Anwesenheit zeige ich Flagge.“ Peter Eötvös über sein Leben in Budapest, das Notenschreiben für Stockhausen und seine neue Oper, die bei „Wien modern“ uraufgeführt wird: „Paradise Reloaded (Lilith)“.

Sein Debüt als Opernkomponist 1997 hat ihm gleich einen Welterfolg beschert: Mit „Drei Schwestern“ gelang Peter Eötvös die kongeniale Übersetzung von Tschechows Drama in ein höchst sinnliches Stück zeitgenössischen Musiktheaters. Inzwischen quillt sein Auftragsbuch über. Seine neueste Oper, „Paradise Reloaded (Lilith)“, ist noch gar nicht uraufgeführt – sie kommt in einer Produktion der Neuen Oper Wien, der sie auch gewidmet ist, bei „Wien modern“ heraus –, da hat er schon die nächste in Arbeit: „Der goldene Drache“ (nach Roland Schimmelpfennig) entsteht als „Reiseoper“ für das Ensemble modern in Frankfurt. Darauf folgt „Senza sangue“ (nach Alessandro Baricco), ein Einakter als Komplementärstück zu „Herzog Blaubarts Burg“ im Auftrag der New Yorker Philharmoniker, die es im Mai 2015 konzertant präsentieren; die szenische Premiere realisiert Kent Nagano an der Hamburgischen Staatsoper. Nicht zuletzt haben sich auch die Wiener Philharmoniker und das Konzerthaus ein Werk von Eötvös gewünscht: „Oratorium balbulum“ mit Texten von Peter Esterházy ist für 2016 geplant. Kein Wunder, dass sich Peter Eötvös zu seinem 70. Geburtstag im kommenden Jänner nur eines wünscht: Tage mit 72 Stunden.

Peter Eötvös, Sie sind einer der produktivsten und erfolgreichsten Opernkomponisten unserer Zeit. Wie sind Sie mit dem Medium Oper überhaupt in Berührung gekommen?

Ich war schon als Student in Budapest eingeladen, Bühnenmusik zu schreiben, später auch Filmmusik. Meine Liebe zum Theater dauert seither ununterbrochen an. Später war ich eineinhalb Jahre als Korrepetitor an der Kölner Oper, da habe ich ein bissel Bühnenluft gerochen. Dann war aber lange Zeit gar nichts – bis ich einen Auftrag von Kent Nagano für Lyon bekommen habe. Da habe ich die „Drei Schwestern“ geschrieben. Aber damals war ich schon 50.

Sie sind, nachdem Sie in Budapest Ihr Kompositionsdiplom gemacht hatten, mit einem Stipendium nach Deutschland gekommen.

Ich habe in Köln mein Diplom als Dirigent gemacht – und dann jahrelang nicht dirigiert. Es hat mich nicht interessiert. Was mich damals interessierte, war die Live-Elektronik. Beim WDR habe ich im Studio für elektronische Musik gearbeitet. Ich habe für die Komponisten, die eingeladen wurden, den Klang verwirklicht, die Geräte zusammengestellt, aufgenommen, geschnitten. Stockhausen war da, York Höller, Henri Pousseur . . .

Stockhausen war für Sie von entscheidender Bedeutung.

Ich habe von 1966 bis zu seinem Tod mit ihm zusammengearbeitet. Er war jemand, der die Zukunft baut. Das ist für mich das Wichtigste. Karlheinz hatte die Fähigkeit, weit hinauszudenken. Er hat unglaublich viel bewegt.

Wie sind Sie mit ihm in Kontakt gekommen?

Es war im Frühjahr 1966, ich hatte drei Monate Sprachunterricht am Goethe-Institut gehabt, am 5. April fing die Hochschule an. Und als ich zum Hauptgebäude kam, hing da ein Zettel: Stockhausen sucht Kopisten für die Partitur seiner elektronischen Musik. Da habe ich mich sofort gemeldet. Und er meinte: Gut, Junge, probieren wir das mal aus, und wenn es klappt, machen wir weiter. Und es hat geklappt. Die Partitur ist verlegt worden; sie sieht sehr schön aus, alles handschriftlich, wie im Mittelalter – damals gab's noch keine Computer.

Sie haben in seinem Ensemble acht Jahre Klavier und Schlagzeug gespielt, später auch dirigiert.

Es ergab sich, dass Aloys Kontarsky verhindert war, und da hat Karlheinz einen Pianisten gesucht: Kannst du Klavier spielen, Junge? – Ja, kommen Sie zu meiner Prüfung. Ich spielte Beethoven 110, auswendig. Ab da war ich Mitglied. Das war eine wunderbare Zeit. Wir haben Weltreisen gemacht, und ich begann auch zu dirigieren. 1981 habe ich dann die Premiere von „Donnerstag aus Licht“ an der Scala in Mailand geleitet.

Was haben Sie von Stockhausen gelernt?

Die grundsätzliche Einstellung, eine Sache zu erkunden wie ein Forscher im technischen Bereich. Seine Kunstauffassung war die eines Wissenschaftlers. Er hat nicht auf die Tradition gebaut wie Bernd Alois Zimmermann. Stockhausen hat gleichsam einen Vorhang vor die Vergangenheit gezogen und gesagt: Ich gehe in die Zukunft, ich erforsche, was man machen kann. Die Ergebnisse sind unnachahmlich, denn niemand kam so weit wie er. Und er war von einer unglaublichen Präzision, da war nichts Zufall. Das hat mir wunderbar gepasst. Meine Stücke klingen ganz anders, aber sie kommen aus diesem Geist: die Strukturierung durch die Vorplanung und die ständige Korrektur in der Überprüfung durch die Praxis. Ein Stück gehört erzogen wie ein Kind.

Deshalb gibt es von manchen Ihrer Opern mehrere Versionen?

Ich halte es für selbstverständlich und sogar für meine Pflicht, meine Opern bis zum idealen Zustand zu verbessern. Ich bin ein Opernkomponist, der darauf hofft, dass einige seiner Werke ins Repertoire eingehen und nach 100, 200 Jahren den Stand unserer Zeit repräsentieren können.

„Paradise Reloaded“ ist somit die neue Fassung der „Tragödie des Teufels“, die 2010 an der Bayerischen Staatsoper herauskam.

Das Stück ist sehr verändert. Es gab bei der „Tragödie“ ein dramaturgisches Problem: dass das Stück keine klare Richtung hatte, da war kein Konflikt. Das haben wir zu spät bemerkt. Aber den Text von Albert Ostermaier mochte ich sehr. Deswegen habe ich ihn gleich nach der Premiere gefragt: Bist du einverstanden, wenn ich deinen Text nehme und eine andere Oper daraus mache? Er war sehr nett und hatte nichts dagegen. Dann habe ich es mit meiner Frau mehrmals durchgelesen, und wir haben ausgewählt, was wir vom Text behalten und was wir weglassen möchten; mit diesem Reservoir haben wir begonnen, die Szenen anders aufzubauen und eine neue Geschichte zu entwickeln. Jetzt gibt es eine neue Story mit einer neuen Hauptfigur: Der Akzent liegt nicht mehr auf Luzifer, sondern auf Lilith.

Lilith ist die mit Adam gleich geschaffene und gleichberechtigte Frau – aber weder Adam noch Gott konnte ertragen, wie autonom diese Lilith war . . .

Mich fasziniert die Idee, dass das erste Menschenpaar Adam und Lilith waren – und nicht Adam und Eva, die aus der Rippe Adams geschaffen wurde. Wie hätte sich unsere Gesellschaft entwickelt, wenn Lilith die Rolle der Urmutter zugefallen wäre?

Wenn Sie eine neue Oper komponieren, wie finden Sie den Klang, der zu dem Stoff gehört?

Das ist ein Funke. Man liest einen Text und sagt: Hm . . . das höre ich. Ich kann mir vorstellen, wie ich das instrumentiere. Ich weiß sofort, wie groß das Orchester sein wird, und welches Instrumentarium ich nehme. Das ist vergleichbar mit Malern, die entscheiden, mit welchen Farben sie malen. Aber es ist natürlich noch mehr als das. Es hängt auch damit zusammen, wie viele Töne ich vertikal verwenden werde. In der Klassik war die Musik auf dreitönigen Akkorden aufgebaut, eventuell mit einem vierten Ton. Debussy hat als erster einen fünften Ton dazugenommen. Daran wurde so lang weitergebaut, bis es normal wurde, zwölf Töne gleichzeitig zu haben. Das klingt jetzt wie eine technische Beschreibung, aber darauf kommt es an, ob ich drei oder vier Klarinetten nehme oder drei Posaunen und eine Tuba.

Notieren Sie die Klangvorstellungen, die beim Lesen entstehen?

Nein, nein – das bleibt im Bauch. Aber die Klangvorstellung hängt unmittelbar mit dem Konfliktbereich des Stückes zusammen. Meine Opern sind Spielopern, klingende Theaterstücke, dramatisch, mit komischen Elementen – Komik gehört zum Drama, als Kontrast. Diese theatergebundene Vorstellung ist für mich so wichtig: Ich habe immer klare Storys, und die Anzahl der Personen ist so weit wie möglich reduziert. Früher fand ich es auch besonders wichtig, keine Helden zu haben; Helden sind nicht meine Welt. Ich bin mit Mutter und Großmutter aufgewachsen – ich kenne mich nur mit Frauen aus; da haben Sie mein großes Geheimnis.

Sie werden im Jänner 70 – wie ist das, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken?

Ich hatte immer das Glück, dass ich machen konnte, was ich machen wollte. Abgesehen von dem unglaublichen Glück, dass ich, anders als meine Eltern, keinen Krieg erlebt habe. Meine Mutter war Pianistin, ihr Vater war Geiger, ich hatte wenig Kontakt zu ihm, aber ich glaube, dass meine Begabung von der mütterlichen Seite kommt. Mein Vater war Rechtsanwalt und hatte eine traurige Geschichte. Er konnte nach Abschluss seines Studiums in den Dreißigerjahren keine Arbeit finden, also nahm er eine Stelle bei der Grenzpolizei an; er wurde nach Transsilvanien versetzt, deswegen bin ich dort geboren. Als 1944/45 die Russen kamen, hat er seine Truppe laufen lassen, weil ihm klar war, dass sie das nicht überleben würden – somit war er Deserteur. Die Familie ist auseinandergebrochen, wir haben versucht, ihn zu finden. In Dresden sind wir dann zusammengekommen, am 13. Februar 1945, drei Uhr nachmittags; am Abend wurde die Stadt bombardiert.

Die ganze Familie hat in einem Keller überlebt, Gott sei Dank. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich immer sofort eingeschlafen bin, wenn das erste Dröhnen der Flieger zu vernehmen war: Statt zu schreien, hast du die Augen zugemacht, du warst ein Wunderkind! Sie hat mir den Kopf zugedeckt, damit ich nichts sehe. Dieses Erlebnis kommt heute oft in meinen Träumen vor.

Was ist mit Ihrem Vater passiert?

Wir sind nach einer längeren Flucht 1946 nach Ungarn zurückgekehrt, und als die Kommunisten an die Macht kamen, wurde er sofort ins Gefängnis gesteckt – dass er damals Offizier der Grenzpolizei gewesen war, war in politischer Hinsicht das Schlimmste. Aber der Aufenthalt im Gefängnis war auch sein Glück, denn deswegen konnte er wiederum 1956 nichts Falsches getan haben; am Ende konnte er doch noch zehn Jahre als Rechtsanwalt arbeiten. Wir hatten erst Kontakt, als ich schon zwölf war.

Mit 14 sind Sie als Hochbegabter in Budapest an die Musikakademie gekommen.

Was ein absoluter Zufall war. Meine Mutter war am Tag vor der Prüfung im Ministerium, um irgendetwas zu erledigen, und da wurde sie gefragt: Kommt morgen der Peter? – Wieso, was ist morgen? – Morgen ist die Aufnahmeprüfung für die Hochbegabten. Hat er keine Einladung bekommen? – Da hat sich herausgestellt, dass mein Schuldirektor das nicht weitergegeben hat. Absichtlich.

Und als Sie dann die Möglichkeit bekamen, im Westen weiterzustudieren, wollten Sie unbedingt zu Stockhausen nach Köln.

Ich war die ganze Zeit informiert, weil ich in einer avantgardistischen Underground-Gruppe war, nicht unbedingt Musiker, sondern Maler und Philosophen. Das war nicht politisch gefärbt, sondern intellektuelles Interesse. Es gab immer jemanden, der reisen konnte, so haben wir gewusst, was im Westen los ist. Das ist typisch für die Sechzigerjahre. Damals war das Interesse an der Zukunft viel stärker als heute.

Bezeichnend ist aber, dass Stockhausen Sie nicht vereinnahmt hat, sondern dass Sie Ihren ganz eigenen Weg gegangen sind.

Das ist mein Charakter, dass ich mich wie eine Katze sehr selbstständig halten kann. Ich lasse mich auf keine Konflikte ein. Ich bleibe autonom. Das ist dasselbe wie jetzt in Ungarn. Ich bin in der ungarischen Kultur aufgewachsen, ich gehöre dorthin, ich empfinde die reiche, dicke Wurzel. Es ist sehr wichtig, dass man weiß, wo man herkommt; von dort kann man weitermachen.

Nach Jahrzehnten in Deutschland, Frankreich und Holland haben Sie wieder Ihren Lebensmittelpunkt in Budapest.

Wir wohnen seit fast zehn Jahren dort, und im März hat auch meine Stiftung ihren festen Platz bekommen. Sie existiert schon 22 Jahre, sie war auch rechtlich in Budapest verankert, ist dort aber noch nicht aktiv in Erscheinung getreten. Gemeinsam mit dem Direktor des Budapest Music Center haben wir jetzt aus privaten Mitteln im Zentrum der Stadt ein Haus gebaut, mit einem Konzertsaal, einem Jazzclub, einer großen Bibliothek und einem Büro für unsere Stiftung, und wir können hier Seminare und Konzerte organisieren. Diese Arbeit muss kontinuierlich sein. Bis jetzt gab es immer irgendwo in der Welt Kooperationen mit verschiedenen Instituten, die Säle und Ensembles zur Verfügung gestellt haben, und ich kam dann mit den Professoren und Studenten hin.

Und wie geht es Ihnen mit der aktuellen politischen Situation, die bei so vielen Künstlern Protest auslöst?

Ich bin vor zehn Jahren nach Ungarn zurückgekehrt, weil es damals ein europäisches Land war. Seither hat sich viel verändert, und leider gibt es dieses Doppelbild: Einerseits wurde heuer ein zweites Opernhaus in Budapest wiedereröffnet, und die renovierte Musikakademie wird im Oktober in Betrieb genommen. Andererseits haben wir Parteiprotektion statt Qualität, die progressive Kunst gilt als provokativ, und die alternative Szene arbeitet ohne Unterstützung. Aber gerade deswegen sehe ich meine Aufgabe als noch wichtiger an. Meine Stiftung soll eine Brücke zwischen Ost und West für Dirigenten und Komponisten der jungen Generation sein. Ich lebe in Budapest in einem kleinen Kreis von Schriftstellern, Musikern und Schauspielern, die auch unter den gegebenen Bedingungen auf höchstem Niveau arbeiten. Was ich als Komponist und Dirigent verdiene, lege ich in die Stiftung, das Institut ist selbstständig, weil es mein privates Institut ist. Wenn ich ein Projekt gestalten möchte, suche ich Sponsoren, und die Projekte gehen von Ungarn ins Ausland. Mit meiner Anwesenheit zeige ich Flagge. ■

Peter Eötvös: Zur Person

Geboren 1944 in Odorheiu Secuiesc, damals Ungarn, heute Rumänien. Ausbildung an der Musikakademie Budapest, später an der Kölner Musikhochschule. Von 1978 bis 1991 Leiter des Ensemble intercontemporain, Lehrtätigkeiten an der Karlsruher sowie an der Kölner Musihkhochschule. Commandeur de l'Ordre des Arts et des Lettres, Frankfurter Musikpreis.

Das Festival „Wien modern“ widmet seinen diesjährigen Schwerpunkt dem Schaffen des ungarischen Komponisten. So werden neben der Uraufführung der Oper „Paradise Reloaded (Lilith)“ ab 24.Oktober auch kammermusikalische und symphonische Werke zu hören sein. Näheres im Internet unter www.wienmodern.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2013)

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