Es war ein fröhlicher Ort

Immer noch sind rund 150.000 Menschen aus der Stadt evakuiert, die vielen „freiwillig“ weggezogenen sind gar nicht erst statistisch erfasst. Eine Reise durch Fukushima: Begegnungen mit Menschen, die nicht nur ihre Lebensorte, sondern auch ihre Hoffnung verloren haben.

Am Tag meiner Ankunft in Tokio fegt ein gelblicher Sandsturm über die Stadt. Der Himmel hat sich in den Hochhäusern verfangen. Tokio in Pastell. Die Menschen tragen Masken und eilen gesenkten Kopfes dahin. Es ist beinahe finster, mitten am Nachmittag. Eine Staubschicht senkt sich auf die Blätter der Bäume und Sträucher und auf die Steinfiguren im japanischen Garten des Hotels. Niesreiz. Der Sand kommt aus China, und er ist vermischt mit winzigen Partikeln in Bakteriengröße, die bis in die Lungenbläschen gelangen können: Feinstaub PM 2,5. PM 2,5 wird in den nächsten Wochen das mediale Thema im Land sein.

Tags darauf weckt mich um fünf Uhr früh ein Erdbeben. Es gelingt mir nicht, den Fernseher in Betrieb zu nehmen. Radio. NHK bringt Nachrichten. Nach einer gefühlten Ewigkeit eine Unterbrechung: Eine ernsthafte, dunkle Männerstimme meldet das Beben, fügt hinzu, dass keine Tsunamigefahr besteht, und verliest eine lange Liste von Orten, an denen das Beben zu spüren war, und in welcher Intensität. Es war nur leicht. Kein Mensch wird es erwähnen.

Ich breche auf nach Fukushima. Auf dem Weg zum Bahnhof tritt aus dem Nebel ein Mann auf mich zu, als habe er auf mich gewartet. Er trägt mehrere Schichten schmutziger Kleidung, Lappen um die Füße, einen Plastiksack in der Hand. Er legt eine Hand auf seinen Bauch, hält die andere, zu einer Schale gekrümmt, nach oben. Er habe heute noch nichts gegessen. Noch nie, seit ich Japan vor fast 30 Jahren zum ersten Mal betreten habe, bin ich angebettelt worden. Ich drehe mich abrupt und wortlos von ihm weg und laufe fort, bis mich der Bahnhof verschluckt hat. Der Gedanke an meine merkwürdige Reaktion wird mich die ganze Reise über verfolgen.

Auf dem leeren Sitz neben meinem reservierten Platz im Zug hat jemand ein Buch vergessen: „100 Erzählungen von 100 Menschen aus Fukushima“. Unter den Porträtierten ist auch Sachiko Sato, die ehemalige Biobäuerin aus Kawauchi-Mura, Gründerin der NGO „Fukushima Netzwerk zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität“, mit der ich ein Treffen vereinbart habe. Es wird eine ernüchternde Begegnung werden, nichts mehr zu spüren vom Elan der optimistischen Sachiko Sato, wie sie im Herbst 2011 siegessicher mit mir ins japanische Parlament marschiert war, voller Hoffnung auf den baldigen Atomausstieg in Japan. Jetzt hat sie kaum mehr Mitstreiterinnen in ihrer NGO, denn die meisten sind mit ihren Kindern weggezogen, aus Angst vor einer unbestimmten, unsichtbaren Gefahr. So habe der Kampf an Schwung verloren, bleibe vieles ungetan, weil sie es alleine nicht mehr schaffe, wird eine müde, niedergeschlagene Sachiko Sato in einem kalten Büro in Fukushima-Stadt erzählen. Bei einer Tasse Tee wird sie über die gereizte Stimmung unter den hier Gebliebenen sprechen und über die Freundschaften, die auseinandergegangen sind. Auf ihrem Laptop werde ich die ersten Bilder der schwarzen Plastiksäcke sehen, die sich am Waldesrand türmen – verstrahlte Erde in einem „provisorischen Zwischenlager“. Bald werde ich allerorts in der Präfektur auf derartige Säcke stoßen.

Die „Japan Times“ bringt die aktuelle Bevölkerungsstatistik von Fukushima: Immer noch sind 154.148 Menschen displaced, mehr als ein Drittel davon außerhalb der Präfektur. Das Wort weckt Assoziationen an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa: Displacedwaren die Befreiten aus den Konzentrationslagern, die nicht mehr in die Heimat zurück konnten oder wollten, die nirgendwo mehr hingehörten, weil es für sie auf der Welt keinen Platz mehr gab. Deplaciert sind auch die Evakuierten aus Fukushima – und die vielen, die „freiwillig“ weggezogen und gar nicht statistisch erfasst sind. Menschen, die die „selbstbestimmte Flucht“ gewählt haben, wie die Bürokraten sagen. Einige von ihnen bekommen auf meiner Reise ein konkretes Gesicht.

Ihre Geschichten ähneln einander, sind rasch erzählt und gäben doch Stoff für Romane. Mutter mit Kindern weggezogen, Vater zurückgeblieben, um zu arbeiten. Psychische und finanzielle Probleme durch den Stress der Trennung. Vater versteht die Ängste von Mutter nicht, hält ihre Flucht für eine überzogene Reaktion, weil er den beruhigenden Worten der Behörden glaubt. Streit um die tatsächliche Gefahr. Entfremdung. Scheidung. Schulischer Leistungsabfall bei den Kindern und Jugendlichen. Gewalt, Depressionen, Rückzug. Vereinzelt Fälle von Frauen, die aus der Trennung neues Selbstbewusstsein schöpfen, anderswo ein neues Leben aufbauen und genießen.

In der Präfektur Fukushima vergreisen und veröden ganze Landstriche. Die Regierung setzt alles daran, die Leute rückzuführen. Dekontaminierung ist das Zauberwort. Die Evakuierungszonen werden wieder und wieder neu eingeteilt. Nach und nach werden evakuierte Gemeinden für Rücksiedler freigegeben. Die Orte Kawauchi und Hirono sind darunter. Sachiko Sato geht nicht zurück auf ihren Biobauernhof.

Vor dem Ostausgang des Bahnhofs Fukushima sitzt ein Klavierspieler aus Bronze. Jede Stunde erklingt aus seinem mechanischen Inneren ein anderes Lied. Um 17 Uhr ist es die „Fukushima Serenade“. Eine dünn und blechern klingende, aber heitere kleine Melodie. Fukushima tut, als wäre nichts gewesen. „Besuchen Sie Fukushima!“, werben bunt bebilderte Prospekte mit den Sehenswürdigkeiten und kulinarischen Köstlichkeiten der Region im Tourismuskiosk am Bahnhof. Die Mädchen in der Stadt tragen Miniröcke, die knapp unter dem Po enden, dazu Schuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen, die unglaublichsten Kreationen. Rosa Lack ist in, auch mehrfarbige Plateaus und roter Lack in Kombination mit Kunstpelz.

In der Lobby der Billighotelkette, neben dem Aufzug, werden täglich die Schildchen mit den Radioaktivitätswerten aktualisiert. Am Tag meiner Ankunft sind es in der Lobby 0,06 Mikrosievert, in den Zimmern 0,05. Innerhalb der nächsten 14 Tage steigen die Werte um jeweils einen Prozentpunkt. Schräg gegenüber vom Hotel hat das japanische Umweltministerium eine Informationsstelle zum Stand der Dekontaminierungsarbeiten eingerichtet. „Puraza“ nennt sich das auf Japanisch, und der für japanische Ohren exotische Klang dieses Wortes weckt Bilder sonnenüberfluteter mittelalterlicher Plätze in Europa, auf denen fröhliche Menschen in Straßencafés sitzen und Cappuccino schlürfen. Im Laden langweilen sich zwei Mädchen in grüner Uniform. Einige PCs, Schautafeln mit Fotos, die Menschen bei der Dekontaminierung zeigen, Zahlen, Orte. Wann immer ich in den nächsten Tagen vorbeigehen werde, wird der Laden leer sein. Egal, mit wem ich über die „puraza“ spreche, die Reaktion sind immer ein verächtliches Schnauben und eine wegwerfende Handbewegung. Die Institution spiegelt das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten wieder: eine Einrichtung, die mit Hochglanzbroschüren und Zahlen, die niemand nachvollziehen kann, Aktivitäten für und im Sinne der Bevölkerung vorgaukelt, und der niemand vertraut.

Der Linienbus nach Fukushima-Stadt kommt abrupt zu einem Halt. Ich bin auf der Rückreise von Minamisoma, einem der sterbenden Orte in der Präfektur. Die Straße geht mitten durch die Evakuierungszone. Gerade erst hat die Sonne die Wälder rosafarben aufleuchten lassen, und schon ist es stockfinstere Nacht. Ein kleiner weißer Pick-up blockiert die Straße. Es dauert eine Weile, ehe der Bus den Pick-up passieren kann. Ein Mann läuft daneben auf und ab, ein Telefon am Ohr. Direkt vor seinem Wagen liegt ein Wildschwein reglos auf der Straße. Seit die Bauern Iitate-mura, ihr Land, ihr Dorf Iitate, verlassen haben – seit sie spät, aber doch im Frühsommer 2011 evakuiert wurden –, erobert sich die Natur das Terrain zurück. Die Wildschweine, die Kühe, die Affen, die Hunde, die Katzen, die Gräser, die Schlingpflanzen. Vor allem Wildschweine und Affen nähmen überhand, erzählen die Bauern, und tatsächlich ziehen sich Klauenabdrücke rund um die verlassenen Häuser, galoppiert ein Keiler übers brachliegende Reisfeld, turnt eine Horde Affen in der Dämmerung aus dem Wald heraus und vergnügt sich im ehemaligen Gemüsegarten der Bäuerin.

Die Wildschweine paaren sich mit den zurückgelassenen Hausschweinen, erzählen die Bauern, und dass daraus eine besonders fruchtbare Kreuzung entstanden ist. Es schießt sie keiner mehr ab, weil die Bauern nicht mehr auf die Jagd gehen, so wie früher, weil die Bauern überhaupt keine Bauern mehr sind, sondern Evakuierte und ewig Wartende; und selbst wenn sie noch jagten, was tun mit der Beute, die sich aus dem Becquerel-Dreck ernährt hat?

Das erzählen die Bauern, die tagsüber nach Iitate zurückkehren, weil sie in den Stadtwohnungen, in die sie ausgesiedelt wurden, nichts mit sich anzufangen wissen, und dass Verkehrsunfälle mit den Schweinen an der Tagesordnung sind. Der Kadaver auf der Straße ist hellbraun, relativ klein, so viel lässt sich beim Vorbeifahren erkennen, es ist eine Bache, vielleicht schon eine Vertreterin der neuen Herrscherinnen hier, im Dorf Iitate, das ein Geisterdorf ist.

Die 50-jährige Sadako Monma gehört zu denen, die „freiwillig“ weggezogen sind. Ich besuche sie in einem alten Bauernhaus, rund 20 Minuten Busfahrt von Fukushima-Stadt entfernt. Drei Kinder tollen auf dem Boden herum. In einer Ecke steht ein niedriger Tisch mit winzigen Sesseln. Eine kleine Küche, kindergerechte Toiletten, ein Klavier an der Wand. Darauf wird einige Tage später ein junger Musikstudent spielen, nur für uns beide, im kalten, einsamen Kindergarten. Der Musikstudent ist ein Freund, mit dem Frau Monma ihre Sehnsucht nach dem fernen Europa teilt. Schauen Sie sich seine kleinen Hände an, wird sie sagen und ihm einen zärtlichen Blick zuwerfen.

Rings um den Hof sind Reisfelder. Ein Vulkankegel mit einem Schneehäubchen erinnert an den heiligen Berg Fuji. Der Berg heißt Kofuji, kleiner Fuji. Sadako Monma ist hierhergezogen, weil die radioaktive Belastung gering ist. Hier ist ihr Kindergarten sicher. Aber es leben nur alte Leute da, und es ziehen keine jungen her. Es ist Bauernland, und zum Schutz der bäuerlichen Struktur besteht Bauverbot. Früher, bis zur Katastrophe, die alles veränderte, kamen 20 Kinder in ihren Kindergarten im Bezirk Watari in Fukushima-Stadt. Nach einer alten japanischen Kindergeschichte von den Riesenbohnen, die übers Haus hinaus wachsen, nannte ihn Sadako Monma „soramame no iie“ – Riesenbohnenhaus. Es war ein fröhlicher Ort.

Sie hat den Kampf gegen den „unsichtbaren Staub“, wie sie es nennt, verloren. Wieder und wieder hat sie mit Helferinnen und Helfern ihren Kindergarten, den Hof und den Garten dekontaminiert. Bis sie einsehen musste, dass die Mühe vergeblich ist, weil jeder Regen die Radioaktivitätswerte ansteigen lässt und Cäsium 137 von den Bäumen herunterspült. Nun denkt sie daran, das Riesenbohnenhaus abreißen zu lassen, weil ihr das leer stehende Gebäude nur Kosten verursacht. Wie lange sie den neuen Kindergarten mit nur drei Kindern weiterführen kann, weiß sie nicht. Seit Kurzem bekommt sie etwas Geld von Tepco, der AKW-Betreiberfirma. 71 Prozent von dem, was sie einnehmen würde, wenn so viele Kinder kämen wie früher, erhält sie als Entschädigung. Davon lebt sie. Und von der Erinnerung und einer Hoffnung, die sich nie erfüllen wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2013)

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