Was läuft da in der Ethik?

In unseren ethischen Vorstellungen, in der bisher nur der Mensch zählte, tummelt sich neuerdings eine wachsende Zahl von Tieren. Tierethik gewinnt erfreulicherweise an Bedeutung. Über das Ende des Menschen als Krone der Schöpfung.

Albert Schweitzer, der große Theologe und Kirchenmusiker, Urwaldarzt, Friedensnobelpreisträger und Tierschützer, hat festgestellt: „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen.“

Seit Schweitzer hat sich ein bisschen was verändert. Bisweilen werden Fußböden auch von Männern „gescheuert“, und seit knapp vier Jahrzehnten läuft eine wachsende Anzahl an Tieren in der akademischen Ethik herum, an US-amerikanischen Universitäten, aber auch in Europa. Tierethik hat erfreulicherweise an Bedeutung gewonnen.

Tierethik ist jener Bereich der Angewandten Ethik, in dem vernünftig begründete normative Aussagen darüber gemacht werden, wie wir Menschen uns gegenüber Tieren verhalten sollen. Eine tierethische Perspektive bedingt, dass man sich von einer rein anthropozentrischen, also ausschließlich auf den Menschen und seine Bedürfnisse ausgerichteten Ethik verabschiedet. Man wendet sich einem Ethikkonzept zu, das auchdie nichtmenschliche Natur berücksichtigt, und zwar die nichtmenschliche Natur im Allgemeinen, empfindungsfähige, Freude und Schmerz verspürende nichtmenschliche Tiere im Besonderen.

Vor zehn Jahren sang Alf Poier beim Eurovision Song Contest: „Es sterb'n baldalle Vögel / es sterb'n bald alle Käfer / nur im Bett da liegt der Adam / und vermehrt sich mit der Eva.“ Aus Sicht einer rein anthropozentrischen Ethik, in der nur der Mensch zählt, ist ein von menschlichem Bevölkerungswachstum verursachtes Vögel- und Käfersterben kein Problem, zumindest solange es keine negativen Auswirkungen auf die Menschen selbst hat. Dagegen besitzen Vögel und Käfer in Ethikkonzepten, die die ausschließliche Orientierung am Menschen hinter sich gelassen haben und deshalb als post-anthropozentrische Ethiken bezeichnet werden können, ihren eigenen Wert und ihre eigene Würde. Wer Tiere willkürlich tötet, werihre Existenz und ihr Wohlergehen in seine Entscheidungen, Urteile und Handlungen nicht einbezieht, handelt post-anthropozentrischen Ethiken zufolge falsch oder gar moralisch verwerflich. Der US-amerikanische Trappistenmönch Thomas Merton hat das Verhalten von Menschen, die nach einer anthropozentrischen Verzweckungsmentalität leben, wie folgt charakterisiert: „Es gibt Menschen, für die ein Baum nur dann wirklich ist, wenn sie daran denken, ihn umzusägen, für die ein Tier erst dann einen Wert bekommt, wenn man es in einen Schlachthof gebracht hat.“ Ethikkonzepte dagegen, in denen alle empfindungsfähigen Lebewesen, aber auch Pflanzen und unbelebte Natur zählen, verbieten uns, die nichtmenschliche Natur vollkommen zu instrumentalisieren und nur deshalb als wertvoll zu erachten, weil sie dem Menschen unmittelbaren Nutzen bringt.

„Dead as a Dodo“ ist eine englische Redewendung, für die wir im Deutschen die Übersetzung „mausetot“ verwenden, was ziemlich inadäquat ist, weil Mäuse ja gar nicht mausetot sind. Im Gegensatz zum Dodo, der ausgerottet wurde, sind die meisten Mäusearten weit verbreitet und nicht gefährdet. Die Dodos, auch Dronten genannt, waren truthahngroße Vögel, die zur Familie der Tauben gehörten und die es nirgendwo gab außer auf der Insel Mauritius. Sie wurden im Laufe des 17. Jahrhunderts ausgerottet. Vor knapp zwei Jahrzehnten hat der „Dodo von Oxford“ mein Interesse für diese ausgestorbene Vogelart und die durch ihr Schicksal vermittelte exemplarische Botschaft geweckt. Im Naturkundemuseum Oxfords sah ich nämlich zwei der bedeutendsten Relikte des verschwundenen Dodo-Vogels: einen mumifizierten Kopf und ein Bein. Erst später entdeckte ich, dass das Naturhistorische Museum in Wien sowohl ein vollständiges Dodo-Skelett besitzt, das vermutlich aus den Resten mehrerer Vögel zusammengesetzt wurde, als auch die modernste Rekonstruktion dieses ausgerotteten Vogels.

Dodos waren flugunfähig und freundlich, zwei Eigenschaften, die ihnen nicht gerade nützlich waren, als im Jahre 1598 niederländische Seefahrer als erste menschliche Wesen auf Mauritius landeten. Die Vögel waren auf die Seeleute und auf die Ratten, Hunde und Schweine, die mit ihnen auf die Insel gelangten, schlecht vorbereitet. In einem zeitgenössischen Bericht ist zu lesen: „Da die Insel nicht von Menschen bewohnt war, fürchteten sich die Vögel nicht vor uns und saßen still, sodass wir sie ohne Mühe totschlagen konnten.“ Das taten die Menschen ohne zu zögern und mit großer Intensität. Spaß und Vergnügen standen dabei im Vordergrund, denn das Fleisch der Vögel war nicht besonders schmackhaft. Vielleicht schon 1681 oder 1683, mit ziemlicher Sicherheit aber 1693 war der Dodo ausgestorben, für immer mausetot, „as dead as a dodo“. Der Mensch rottete in weniger als hundert Jahren ein zutiefst friedfertiges Lebewesen aus, das keinen anderen Anspruch stellte, als in Ruhe gelassen zu werden.

Die Ausrottung des Dodo geschah aus menschlicher Unwissenheit und Fahrlässigkeit. Sie stellt aber auch eine Folge der bis in die Gegenwart verbreiteten Auffassung dar, der Mensch sei die Krone der Schöpfung und alle Tiere stünden unter seiner Herrschaft. Dies lehrten immerhin die großen christlichen Theologen mit Berufung auf die Bibel, allen voran Thomas von Aquin, der Doctor angelicus, der engelgleiche Lehrer, wie einer seiner Ehrentitel lautete. Zwischen Doktor Thomas und dem lieben Vieh bestand jedoch ein weiter Graben, denn nach Thomas von Aquin war nur der Mensch als göttliches Ebenbild geschaffen und mit Verstand ausgestattet worden. Der Mensch habe keine Verpflichtungen gegenüber Tieren, sondern das umfassende Recht, Tiere nach seinem Belieben zu verwenden und zu töten.

Die sich im 17. Jahrhundert anbahnende Aufklärung brachte leider keinen tierethischen Fortschritt. René Descartes beschrieb die Tiere als Maschinen oder Automaten, als Geschöpfe ohne Vernunft und ohne Seele. Immanuel Kant sprach Tieren ebenfalls keinen Eigenwert und keine Würde zu. Wie für Thomas von Aquin war für Kant Tierquälerei ethisch nur deshalb problematisch, weil sichaus der Grausamkeit gegenüber Tieren eine allgemeine Neigung zur Grausamkeit entwickeln könne, die auch vor Mitmenschen nicht haltmache.

Zwischendurch sei kurzangemerkt, dass es neben dem Dodo zwei weitere,vor relativ kurzer Zeit ausgestorbene Tierarten imWiener Naturhistorischen Museum zu sehen gibt: ein Skelett der Stellerschen Seekuh, die 1768, nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung, ausgerottet worden war, und ein Präparat des Beutelwolfes oder Tasmanischen Tigers, dessen letztes Exemplar 1936 in einem Zoo nahe Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens, starb.

Die Ausrottung des Dodo wurde durch eine Kombination aus anmaßender Geringschätzung der Tiere, menschlicher Dummheit und banaler, nicht weiter reflektierter menschlicher Bosheit verursacht. Wie wir alle täglich feststellen können, gibt es diese Phänomene nach wie vor. Für das gegenwärtige stark beschleunigte Artensterben sind neben Umweltverschmutzung, anthropogener Klimaerwärmung, der Zerstörung natürlicher Lebensräume, der Bioinvasion fremder Arten und der Jagd nach Trophäen auch die kriminellen Aktivitäten international vernetzter Banden von Wilderern verantwortlich. Deshalb scheint ein Appell an den österreichischen Staat angebracht, jene Mafiosi einzusperren, die mit exotischen Tieren und ihren Hörnern und Fellen Riesengeschäfte machen, statt konsequente Tierschützer vor Gericht zu zerren.

Zwei Jahrhunderte bevor der Dodo ausstarb, hatten die europäischen Eroberer der sogenannten Neuen Welt begonnen, die indigenen Bevölkerung Nordamerikas auszurotten. Wie der Historiker Howard Zinn darlegt, flohen auch die amerikanischen Indianer nicht, als sie Christoph Kolumbus und seinen Männern das erste Mal begegneten, sondern verhielten sich lange Zeit äußerst gastfreundlich. Kolumbus beschrieb das Zusammentreffen wie folgt: „Die Indianer sind so naiv und so freigebig, dass niemand es glauben würde, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Wenn man sie um etwas bittet, das ihnen gehört, sagen sie niemals Nein. Ganz im Gegenteil, sie sind bereit, mit allen zu teilen.“ Doch diese Freundlichkeit der indigenen Bevölkerung wurde von denEroberern mit Geringschätzung und Verachtung beantwortet, mit Völkermord, nicht mit Völkerverständigung.

Im Jahre 1776 verabschiedete der Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika die Unabhängigkeitserklärung. Darin wird festgehalten, dass alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit angeborenen, unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet seien. Im selben Jahr veröffentlichte Humphry Primatt, ein Geistlicher der anglikanischen Kirche in England, einen Textmit dem Titel „Eine Abhandlung über die Pflicht der Barmherzigkeit und die Sünde der Grausamkeit gegenüber Tieren“. Primatt tritt darin zunächst für die Gleichheit von Menschen verschiedener Hautfarbe ein und stellt fest: „Es hat Gott, dem Vater aller Menschen, gefallen, manche Menschen in weiße Haut einzuhüllen und andere in schwarze Haut. Auch wenn unmenschliche Traditionen und Vorurteile anderes vermuten lassen, so hat ein Mensch mit weißer Hautfarbe aufgrund dieser Hautfarbe trotzdem nicht das Recht, einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe zu unterdrücken oder zu versklaven, denn die Hautfarbe ist weder ein Verdienst noch ein Mangel. Ich glaube auch nicht, dass ein groß gewachsener Mensch aufgrund seiner Gestalt ein gesetzliches Recht hat, auf einem kleinwüchsigen Menschen herumzutrampeln.“

Doch Primatt geht noch einen Schritt weiter und wendet die Argumente für Gleichheit und Gerechtigkeit unter Menschen auch auf die Beziehung der Menschen zu Tieren an. Er schreibt: „Wenn also menschliche Unterschiede in Intelligenz, Hautfarbe, Gestalt und Schicksal keinem Menschen das Recht geben, einen anderen Menschen zu missbrauchen oder zu beleidigen, hat auch kein Mensch ein naturgegebenes Recht, ein Tier zu missbrauchen oder zu quälen, nur weil es weniger intelligent ist als ein Mensch.“

Einer der Hauptgründe, warum Menschen Tiere respektvoll zu behandeln haben, liegt für Reverend Primatt in ihrer Empfindungsfähigkeit: „Auch wenn das Tier sich nicht in einer Menschenstimme beschweren kann, so zeigen uns die Schreie und das Stöhnen, die es von sich gibt, wenn ihm Gewalt angetan wird, dennoch ganz klar, dass es schmerzempfindlich ist, ähnlich wie es dieSchreie und das Stöhnen eines Menschen tun, dessen Sprache wir nicht verstehen.“

Kurze Zeit später, im Jahre 1789, hat der englische Philosoph Jeremy Bentham in seiner „Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung“ fast das Gleiche gesagt: Denn nach Bentham lautet die entscheidende Frage, die das menschliche Verhalten gegenüber Tieren bestimmen soll, weder „Können Tiere logisch denken?“ noch „Können sie sprechen?“, sondern einzig und allein „Können sie leiden?“.

Auch wenn danach immer wieder einzelne tierethisch orientierte Ethiken auftauchten, hat es doch zwei Jahrhunderte gedauert, bis die Argumente von Primatt und Bentham in der philosophischen und theologischen Ethik auf breiter Basis zur Kenntnis genommen wurden. Als Pioniere der in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstandenen akademischen Tierethik sind die Philosophen Peter Singer und Tom Regan sowie der anglikanische Theologe Andrew Linzey zu nennen. Später kamen noch feministische Varianten der Tierethik wie jene von Carol Adams und Marti Kheel hinzu.

Was Primatt und Bentham vor mehr als 200 Jahren festgestellt haben, wirddurch die heutige kognitive Ethologie und Neurowissenschaft bestätigt. Eine große Anzahl von Tieren können Schmerz und Lust, in vielen Fällen auch Leid und Freude empfinden: Das gilt für Wirbeltiere wie Säugetiere, Vögel, Amphibien, Reptilien, Fische, aber sogar für einige Wirbellose, Kraken und Tintenfische etwa und – wie die Forschungsarbeiten des Belfaster Zoologen Bob Ellwood nahelegen – auch für Krebse und Krabben. Einem post-anthropozentrischen tierethischen Hochethos zufolge ist es demnach nur in Konfliktsituationen zwischen menschlichem und tierischem Leben und Wohlergehen sowie zum Wohl der Tiere selbst (tierärztliche Behandlung) ethisch erlaubt, Tieren Schmerzen zuzufügen – und zwar möglichst geringe Schmerzen – oder sie gar zu töten. Anschaulicher ausgedrückt: Kein noch so überzeugter Tierschützer ist verpflichtet, sich Spulwürmern und Kopfläusen selbstlos als Wirt zur Verfügung zu stellen. Doch jede echte Tierschützerin wird sich weigern, Fleisch zu essen, das von Tieren aus Intensiv- und Massentierhaltung stammt.

Und jeder Tierschützer, jede Tierschützerin wird sich die Frage stellen müssen, ob es angesichts des Tierleids und der durch Fleischproduktion und Fleischkonsum verursachten massiven Umweltzerstörung und vielfältigen Gesundheitsprobleme ethisch überhaupt vertretbar ist, Tiere zu essen. Immer mehr Menschen sagen auch Nein oder suchen nach Alternativen zur Verwendung von Tieren für menschliche Unterhaltung in Zirkussen und Stierkampfarenen, zurProduktion von Pelz- und Lederbekleidung, zur Vergnügungs- oder Hobbyjagd, zu Tierversuchen in der Kosmetikindustrie, der Medizin und beim Militär, zu einer nicht artgerechten Haltung von Haus- oder Kumpantieren und – last not least – zum rapide fortschreitenden Artensterben.

Auch in einer post-anthropozentrischen Ethik gibt es unterschiedliche Ansätze und schwer zu entscheidende Konfliktfälle und Dilemmata. Grundlegend jedoch ist, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und die sonstige nicht-menschliche Natur einen Eigenwert oder sogenannten intrinsischen Wert haben. Weil wir in einer vernetzten, interdependenten Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten leben, sind jene, die für den Schutz der Tiere und der übrigen Natur eintreten,auch die eigentlichen Anwälte der Menschen. Es geht nicht um isolierte menschliche Selbstverwirklichung, sondern um das Wohlergehen aller Lebewesen, darum, dass alle Wesen glücklich sein mögen, wie es in einem buddhistischen Segensspruch heißt.

In „Alice im Wunderland“ tritt ein Dodo auf. Der Autor des Buches, Lewis Carroll, lehrte im 19. Jahrhundert am Christ Church College in Oxford Mathematik und kannte den ausgestorbenen Vogel vom Naturkundemuseum Oxfords her. In „Alice im Wunderland“ findet ein Wettrennen zwischen verschiedenen Tieren statt, das vom Dodo beaufsichtigt wird. Doch ganz plötzlich erklärt der Dodo das Wettrennen für beendet undruft alle Teilnehmer zu Siegern aus: „Alle haben gewonnen“, verkündet der Dodo, „deshalb müssen auch alle einen Preis bekommen.“

Lewis Carrolls Dodo hat damit eine ethische Vorgabe geliefert, die uns auf dasökologische Gemeinwohl verpflichtet: Die Chancen des Überlebens aller und der Rettung des Ganzen steigen mit der Abkehr der Menschen von einem egoistischen Konkurrenzdenken und einem angstgetriebenen Machtstreben. Entweder gewinnen alle, Menschen und Tiere, Pflanzen und unbelebte Natur, oder keiner, wirklich gar keiner, bekommt einen Preis. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2013)

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