Über den Entstehungsprozess der EU: Der niederländische Philosoph Luuk van Middelaarverfasste einen Traktat, der mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Auf Französisch und Englisch erschienen, findet sich für den deutschen Buchmarkt noch kein Verlag. Zufall? – Ein Gespräch.
Für den deutschen Buchmarkt ist es ungewöhnlich, dass ein Buch, das europaweit für Diskussionen sorgt, keinen Verleger findet. Luuk van Middelaars „De passage naar Europa“ ist eines jener Phänomene. Der 1973 geborene niederländische Philosoph behandelt in dem 2012 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichneten Traktat den Entstehungsprozess der EU und gibt einen Ausblick auf mögliche Zukunftsszenarien. In Frankreich erschien das Buch im Vorjahr im renommierten Verlagshaus Editions Gallimard, im Frühjahr 2013 folgte „The Passage To Europe“, die englische Übersetzung bei Yale University Press – nur im deutschsprachigen Raum fehlen die Interessenten. Was einerseits daran liegen könnte, dass van Middelaar keine Veranlagung zum Marktschreier zu haben scheint, anderseits aber auch an seiner Kernthese: Im Gegensatz zu vielen Publizisten in Deutschland (und Österreich) glaubt der Autor nicht daran, dass ein erlauchter bürokratischer Hochadel Europas Rettung sein kann. Van Middelaar setzt seine Hoffnungen vielmehr auf den viel geschmähten Rat – das Gremium der EU-Mitglieder, das zwischen den Brüsseler Institutionen und den nationalen Hauptstädten angesiedelt ist. An dieser Stelle muss man anfügen, dass van Middelaar in dieser Hinsicht nicht unbefangen ist. Seinen Lebensunterhalt verdient er nämlich als Redenschreiber und Berater des Ratspräsidenten Herman van Rompuy. Der Kraft seiner Argumente tut das allerdings keinen Abbruch.
Ihr Buch ist auf eine unterschwellige Art und Weise zuversichtlich, was die Zukunft Europas und den Fortbestand der Europäischen Union anbelangt. Sind Sie ein Optimist?
Luuk van Middelaar: Ja. In einem Zeitalter, in dem viele Menschen den Glauben an die Möglichkeit einer politisch gesteuerten Veränderung verloren haben, glaube ich noch an die Macht der Politik. Aber mein Buch ist auch deswegen optimistisch, weil ich darin jene verborgenen Kräfte beschreibe, die Europa zusammenhalten. Wer sich die letzten 60 Jahre der europäischen Geschichte mit ihren Wendungen, Dramen und Rettungen in letzter Sekunde vor Augen führt, kann zuversichtlicher in die Zukunft blicken.
Eine dieser verborgenen Kräfte, denen Sie Ihr Augenmerk widmen, ist der Rat der EU-Mitglieder, der im Niemandsland zwischen der inneren Sphäre der europäischen Institutionen und der äußeren Sphäre der Nationalstaaten schrittweise entstanden ist. Inwieweit ist die Mitgliedschaft in diesem Klub auch ein erzieherischer Prozess? Lernen die Ratsmitglieder dort, wie sie abseits der klassischen Diplomatie bismarckschen Zuschnitts miteinander umgehen können?
Die Staaten mussten natürlich erst lernen, was es bedeutet, ein Klubmitglied zu sein. Die europäischen Spielregeln und Verordnungen der inneren Sphäre waren Teil dieses Lernprozesses. Aber es geht auch um den direkten Umgang miteinander. Die Eurokrise ist da ein gutes Beispiel, denn sie fing mit dem Beinahe-Bankrott Griechenlands an. Ginge es nur nach den europäischen Verträgen, hätten sich die anderen Mitgliedstaaten bequem abputzen können. Doch dann setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Folgen dieser Pleite alle treffen würden. Es gab also eine gemeinsame Verantwortung – unabhängig davon, was in den europäischen Verträgen stand. Die gemeinsame Entscheidung, mehr zu tun als rechtlich vorgesehen, war ein sehr politischer Moment. Im Juristendeutsch gibt es die Formulierung „Gesamtheit der Mitgliedstaaten“ – wenn alle EU-Mitglieder gemeinsam handeln, aber nicht als Europäische Union, sondern als eigene Entität. Diese Perspektive eröffnet einen Ausweg aus dem Entweder-oder von EU-Institutionen und Nationalstaaten.
Hat der Klub seine Mitglieder verändert? Oder verhält es sich wie mit einer Mitgliedschaft im Fitnesscenter: Man geht hin, macht seine Übungen und geht wieder heim?
Ich glaube, dass sich seine Mitglieder nähergekommen sind, als sie es selbst wahrnehmen. Was mit einigen Bestimmungen zum freien Handel begonnen hat, besteht nun aus unzähligen Verknüpfungen. Die Idee der gemeinsamen Währung war ein Quantensprung. Die Experten wussten das vielleicht, die Politiker wussten es nicht, oder sie wollten es nicht wissen. Was wir in den letzten zwei, drei Jahren gesehen haben, ist, dass sowohl die Politik als auch die öffentliche Meinung diese monetäre Interdependenz entdeckt haben. Und sie mögen sie nicht. Es ist eine schmerzhafte Entdeckung, aber eine, mit der sie sich langsam anzufreunden beginnen. Dass das langsam vonstatten geht, ist normal. Die Schuldnerländer wehren sich gegen Reformen, die von außen aufgezwungen werden, die Gläubiger wiederum wollen nicht für faule Südländer zahlen. Es gibt aber keinen Weg zurück, die Währungsunion ist ein Faktum. Da kann man nicht mehr so leicht raus. Selbst für Großbritannien gilt das, wobei es nicht Mitglied der Eurozone ist. Wenn sich die Briten für den Austritt entscheiden, wird es richtig kompliziert werden, wie eine Scheidung nach 40 Jahren Ehe. Da packt man nicht einfach die Koffer und geht.
In Ihrem Buch vergleichen Sie diese europäische Zwischensphäre mit dem Purgatorium. Dieser Vergleich impliziert zwei Dinge: erstens, dass sie qualvoll ist, und zweitens, dass am Ende der Qualen etwas Besseres wartet. Was ist jenseits des Fegefeuers?
Eine gute Frage, auf die ich keine definitive Antwort habe. Das Paradies vielleicht? Mit dem Konzept des Fegefeuers wollte ich aus der Dichotomie ausbrechen, die in der Europapolitik allzu oft zu beobachten ist: entweder die EU als Avantgarde des Weltfriedens oder der ewige zwischenstaatliche Kampf auf Leben und Tod. Das Purgatorium impliziert einen Prozess, ein offenes Ende. Aber ich glaube, dass dieser Zustand lange anhalten wird, bis für Europa der Tag des Jüngsten Gerichts anbricht.
Sie sprechen von einem offenen Ende. Aber aus dem Purgatorium gibt es nur einen Ausgang: Richtung Himmel. Niemand sitzt im Fegefeuer, um in die Hölle geschickt zu werden.
Deswegen ist meine These eine optimistische. Das Fegefeuer ist wie eine Brücke zwischen der alten und einer neuen Welt. Aber es gibt auch Brücken wie den Ponte Vecchio in Florenz, die über Zeit zu einem eigenen Universum werden. Das ist Europa.
Anders als bei der Währungsunion in den 1990er-Jahren schreckten die europäischen Staatschefs Mitte der 1950er-Jahre vor einer Verteidigungsunion zurück. War es übermäßige Vorsicht oder ein mittlerweile verloren gegangener Weitblick?
Zunächst muss man festhalten, dass es in beiden Fällen anders hätte ausgehen können. Die Verteidigungsunion scheiterte an einem Votum des französischen Parlaments. Die Arbeiten an der Verteidigungsunion schleppten sich dahin, die französische Abstimmung fand 1954 statt, vier Jahre nach der ersten Absichtserklärung. In der Zwischenzeit hatten sich die politischen Rahmenbedingungen verändert – Stalin war tot, der Koreakrieg beendet. Die Debatte hatte die öffentliche Meinung in Frankreich gespalten. Ob die Entscheidung gegen die Union realistischer war, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall wurde die Debatte öffentlich ausgefochten. Was die Entscheidung über die Einführung des Euro anbelangt, gab es erstens massiven geopolitischen Druck ...
... wegen der anstehenden deutschen Wiedervereinigung.
Genau. Die anderen EU-Mitglieder, allen voran Frankreich, wollten Deutschland enger an die europäischen Strukturen binden. Auch die Brüsseler Institutionen strebten nach einer gemeinsamen Währung. Zweitens konnte der Euro im Gegensatz zur Verteidigungsunion als technische Adjustierung verkleidet werden. Bei Angelegenheiten von Krieg und Frieden geht das nicht. Die europäischen Bürger wurden mit dem angeblichen privaten Nutzen des Euro geködert – mehr Geld im Portemonnaie, einfachere Reisen und so weiter. Wie es sich gezeigt hat, war es eine Schönwetterstrategie. Wenn man seine Argumentation auf Resultaten aufbaut, hat man ein Problem, wenn sich diese Resultate nicht länger materialisieren. Die Einführung des Euro hätte viel stärker in die historische Perspektive des Mauerfalls und der europäischen Neuordnung eingebettet werden müssen.
Ein Zyniker könnte anmerken, dass die Schuldenkrise auch einen positiven Effekt hat: Sie schuf eine europäische Öffentlichkeit. In allen Mitgliedstaaten wird seit Jahren über die Verfassung der Union debattiert – mit besonderem Augenmerk auf die Unzulänglichkeiten.
Auch diese Entwicklung erfüllt mich mit Zuversicht. Die Europäer erfahren erstmals am eigenen Leibe, was es bedeutet, ein Mitglied dieses Klubs zu sein. Es ist nicht mehr eine Frage einer hinter höflichen Floskeln versteckten Gleichgültigkeit. Ereignisse wie der Beinahe-Bankrott Zyperns vor wenigen Monaten führen allen vor Augen, dass es da nicht nur um die Konten der Zyprioten geht, sondern auch um das eigene Sparbuch. Wer in zehn Jahren auf die jüngere europäische Geschichte zurückblicken wird, wird zwei Wendepunkte erkennen: die deutsche Wiedervereinigung und die Eurokrise.
Erleben wir im Zuge dieser Krise eine Renationalisierung der europäischen Politik?
Dieser These stimme ich nicht zu. Man sollte von einer Europäisierung der nationalen Politiken sprechen. Wer vom „Ende der Solidarität“ spricht, hat die Sache nicht verstanden. Die europäische Solidarität wird zum ersten Mal auf die Probe gestellt, bisher war sie ein abstraktes Konzept. Es ist leicht, solidarisch zu sein, wenn man nichts dafür tun muss. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Europa in der Krise gehandelt hat. Für die Hilfsprogramme haben sich Mehrheiten gefunden.
Henry Kissinger hatte sich einst darüber beklagt, dass man Europa nicht unter einer Telefonnummer erreichen könne. Lässt sich die Struktur der Union einem Outsider erklären?
Die amerikanische Kritik, die EU sei nicht imstande, die Hausaufgaben zu erledigen, stört mich. Europa funktioniert anders, wir haben viel Erfahrung mit kreativen Kompromissen, der Quadratur des Kreises. Andererseits verstehen Outsider Europa besser als wir. Für einen Brasilianer oder Chinesen liegt es auf der Hand, dass wir alle Europäer sind. Hier ist diese Erkenntnis nicht sehr weit verbreitet. Um mit Freud zu sprechen: Wir leiden immer noch am Narzissmus der kleinen Unterschiede.
Wir leiden nicht nur an ihm, wir kultivieren ihn auch.
Ja, bis hin zu den Differenzen zwischen einzelnen Provinzen. Von Herman Van Rompuy stammt das Zitat: „In Belgien bin ich ein Flame, in Europa ein Belgier und in der Welt ein Europäer.“
Ich möchte noch einmal zur europäischen Öffentlichkeit zurückkehren. Man hört immer wieder Wehklagen über ein Demokratiedefizit der EU. Was in all diesen technokratischen Debatten über die Machtbalance zwischen den Institutionen und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber dem Souverän fehlt, sind Gefühle. Hat Europa nicht vielmehr ein emotionales Defizit?
Man könnte in dem Zusammenhang auch vom Fehlen einer gemeinsamen europäischen Handlung sprechen – wir alle sind nicht Teil einer Erzählung, wir haben keine gemeinsamen Helden, kein Wir-Gefühl. Das wurde auch nicht benötigt, solange es um Produktstandards oder Landwirtschaft ging. Nun aber sind die Entscheidungen, die im Namen der Gesamtheit getroffen werden, viel gewichtiger. Es geht nicht mehr um Marktregeln, sondern die Fähigkeit, auf der globalen Bühne agieren zu können. Ohne öffentliche Unterstützung geht das nicht.
Und wie lässt sich diese öffentliche Unterstützung gewinnen?
Indem man den Bürgern erklärt, dass Europa nicht nur Brüssel ist, sondern auch die Heimat. Dass neben der Europafahne die eigene Nationalflagge weht. Wer die EU ausschließlich auf die „Ode an die Freude“ reduziert, erreicht wenig. So hört man immer wieder, dass sich das Wir-Gefühl ohne ein Außen nicht herstellen lässt.
Der gemeinsame Feind als kleinster gemeinsamer Nenner?
Es gibt die Russen, die sind aber nicht wirklich ein Thema. Und wir haben es mit den US-Amerikanern versucht, auch das kein Erfolg. Der gemeinsame Feind war eigentlich immer unsere eigene blutige Geschichte. Für die Zukunft brauchen wir mehr. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2013)