Die Reise zu meiner Mutter

Siehst du, jetzt bist du doch gekommen! Erster Blick auf die Ortschaft Futog bei Novi Sad, das bei den Donauschwaben Neusatz hieß.
Siehst du, jetzt bist du doch gekommen! Erster Blick auf die Ortschaft Futog bei Novi Sad, das bei den Donauschwaben Neusatz hieß.Gauß
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Ich stamme aus einer donauschwäbischen Familie. Doch eine rätselhafte Scheu hielt mich, der ich auf so viele Reisen ging, stets davon ab, in die Batschka zu fahren. Über meinen Besuch in der fernen, kleinen Welt meiner Vorfahren und einer lange zurückliegenden Zeit.

Am 23. Juli 2009 stand ich um 18 Uhr in der katholischen Kirche von Futog und sah, wie meine Mutter in der Reihe der Kommunionskinder in die Kirche einzog. Sie trug, wie alle Mädchen, ein weißes Kleid mit spitzenbesetztem Oberteil, und ihr schwarzes Haar war in einen dichten Pferdeschwanz gefasst. Durch das große Glasfenster zur rechten Seite des Altars fiel die Sonne des späten Nachmittags auf den Mittelgang, durch den die Mädchen in einer frommen Linie und neben ihnen hintereinander all die toten Knaben zum Altar trippelten, bemüht, nicht aus dem Gleichschritt zu geraten. Meine Mutter war zierlich, wie sie es bis zum Ende ihrer Tage blieb, in der Rechten hielt sie die Kommunionskerze, und in ihrem Antlitz war ein andächtiger Ernst, in den, als sie mich im Schatten des Kirchenschiffes erblickte, ein schelmisches Lächeln huschte: Siehst du, jetzt bist du doch hierhergekommen!
Es war bereits der dritte Tag hintereinander, von dem die Einheimischen sagten, es wäre der heißeste des ganzen Jahres. Vorgestern waren wir vorbei an Millionen verdorrter Sonnenblumen durch die Ebene gefahren, die die Serben Srem, die Ungarn Szerémseg nennen und die Donauschwaben, die im kalten Herbst 1944 von hier vertrieben wurden, Sirmien genannt hatten. Die Fahrt ging durch lang gezogene Dörfer, in denen gereizt manchmal ein paar Hunde aus ihrem Sommerschlaf aufschreckten, unserem Wagen eine Zeit lang hinterher liefen und dann in ratloser Wut umkehrten, und vorbei an den gut im Wald verborgenen Klöstern, in denen das Serbentum einst den langen Schlaf der Geschichtslosigkeit überdauert hat. Alle paar Kilometer wurden am Straßenrand riesige Wassermelonen angeboten, drei, vier von ihnen waren in der Mitte durchgeschnitten und lagen aufgeklappt auf den einfachen Verkaufsflächen, die anderen waren zu enormen dunkelgrünen Pyramiden gestapelt.

Der Bauer hatte im Schatten unter seinem Traktor gerastet, als wir hielten. Er stand auf und schob sogleich sein ärmelloses Unterhemd über den Bauch hinauf, als sei die gewaltige, bei jeder Bewegung sacht schaukelnde Wampe sein größter Stolz. Halb beißend, halb schlürfend verzehrten wir zu seinem stummen Wohlgefallen unsere Melonenstücke, und erst als wir fertig waren, fragte er, woher wir kamen und wohin wir wollten, und als ich ihm gesagt hatte, dass wir von Belgrad nach Novi Sad unterwegs waren, um uns diese Stadt und das Land ringsum anzuschauen, in dem meine Eltern, Großeltern und deren Großeltern geboren wurden und aufgewachsen waren, lobte er unser Vorhaben, vor allem, dass wir uns nicht scheuten, es ausgerechnet am heißesten Tag des Jahres in Angriff zu nehmen.

Meine Mutter hatte es in ihren letzten Lebensjahren gekränkt, dass ich, der ich auf so viele Reisen ging und über Volksgruppen in Kalabrien und der Lausitz, in Litauen und Mazedonien schrieb, deren Namen kaum jemand kannte, ausgerechnet das Land meiner Vorfahren, die Batschka, nie aufgesucht hatte. Eine rätselhafte Scheu hielt mich davon ab, der ich doch von der Geschichte dieser Region schon als Kind erzählt bekommen und die Namen der Dörfer und kleinen Städte, Kikinda und Palanka, Werschetz und Hodschag, Kubin und Filipowa, wie in einem Zauberspruch hersagen konnte. Vielleicht war diese ferne Welt, die meine Eltern mit sich nach Österreich genommen hatten, in meiner Kindheit zu gegenwärtig gewesen, als dass ich mich dem Schock aussetzen wollte, den es gewiss bedeutet haben würde, wenn ich selbst in Augenschein genommen hätte, wovon mir so viele Anekdoten erzählt worden waren. Was ich von früh an als Bild in mir trug, wollte ich nicht ganz anders in der Wirklichkeit vorfinden. Jetzt aber, vier Jahre nach ihrem Tod, stand ich in der Kirche von Futog, und alles war genau so, wie es mir meine Mutter erzählt und ich es mir 50 Jahre lang ausgemalt hatte.

Gestern war es noch heißer gewesen als vorgestern, und als wir die ersten Wege durch Novi Sad gingen, die Stadt, die ihre ungarischen Einwohner Ujvidék nennen und die bei den Donauschwaben Neusatz hieß, waren die Straßen und Plätze im alten Viertel nahezu menschenverlassen. Als wir auf den Trg Slobode, den Freiheitsplatz, im Herzen der Altstadt traten, schien das Monument in seiner Mitte zu flirren. Wer jetzt unterwegs war, drückte sich die Häuser entlang, um etwas vom Schatten zu bekommen, sodass Svetozar Miletic in seinem unversiegbaren Zorn ganz alleine über den Platz vor dem Rathaus gebot. Ein Denkmal wie dieses hat selten eine Stadt einem der Ihren hingestellt, schon der Sockel, auf dem es ruht, ist über zwei Meter hoch, und auf diesen ist überlebensgroß eine Figur aus grüner, nachschwärzender Bronze gesetzt, ein Mann mit mächtigem Bart, wehendem Haar, die eine Hand in Kopfhöhe zur Faust geballt, ein Volkstribun, der gerade bei der feurigsten Passage seiner Rede angekommen ist und aus seinem Metall gewordenen Zorn zu bestehen scheint. Svetozar Miletic, ein serbischer Publizist und Politiker des 19. Jahrhunderts, hatte sich ausgerechnet in der seit ewigen Zeiten von vielen Völkern bewohnten Wojwodina erhofft, dass die nationale Erhebung einer einzigen ihrer Volksgruppen, der Serben, Freiheit und Demokratie für alle bringen werde. Auf seinem Denkmal ist er geradezu karikaturistisch gefasst, Auftritt eines eifernden Wüterichs, dessen Zorn keinen anderen Anlass braucht als sich selbst.

Den Platz, zu dem auch die beiden Straßen gehören, in die er im Norden und Süden übergeht, war ich als Kind schon ausgeschritten, als ich Salzburg noch kein einziges Mal verlassen hatte, so eindringlich wurde mir von ihm erzählt: die helle serbisch-orthodoxe Georgs-Kathedrale an seinem einen Ende, der barocke Bischofspalast, die schlanke, hohe und lang gestreckte katholische Marienkirche, die erst um 1900 errichtet wurde, und ihr gegenüber das wohlproportionierte neogotische Rathaus am anderen Ende des Platzes, der gesäumt ist von den hübsch renovierten Häusern einer alten Stadt mit stolzer, bürgerlicher Tradition. In ihr hatte meine Mutter das Realgymnasium besucht, und für sie ist Novi Sad das Erlebnis der Stadt geblieben, die erste Begegnung mit einer urbanen Weltläufigkeit, in der sich ihr das Wesen aller Städte vorgeformt hatte.

Ich sah, dass vom Hauptplatz in südwestlicher Richtung die Futoska wegführt, die Straße, die an der Synagoge und dem jüdischen Friedhof vorbei hinaus nach Futog zieht, einst ein Dorf etwa 20 Kilometer außerhalb von Neusatz, die Vorstadt Futak von Novi Sad heute. Meine Mutter kam aus Futog, und dass sie in Novi Sad nicht das deutsche, sondern das serbische Gymnasium, das Drzavna zenska realna gimnazija, besuchen durfte, hatte sie ihrem Vater erst abtrotzen müssen. Endlich gab er, der es sich gar nicht anders vorstellen konnte, als dass die Donauschwaben auf ewig im Land zwischen Donau und Theiß bleiben würden, ihrem störrischen Betteln doch nach, weil sie ihn davon überzeugt hatte, dass es für einen so wohlhabenden schwäbischen Kaufmann sogar ratsam sein könnte, wenn seine Tochter die höhere Schule der Staatsnation besuchte, die seit 1918 eben die Serben bildeten.

Am Abend hatten wir gestern Lászlo Végel getroffen, den ungarischen Schriftsteller, der vor bald 40 Jahren die ungarische Literatur erneuerte, mit seiner kühnen, experimentellen Sprache, wie er sie gerade am Rande des ungarischen Sprachgebiets erschaffen konnte, als Angehöriger eines anderen Staates, umgeben von den vielen Sprachen und Dialekten, die dort gesprochen wurden. Lászlo ist ein gemütlicher alter Herr, mit weißem Haar und einem weißen Schnauzer, der aufs Erste behäbig wirkt, aber trotz seiner gedrungenen Gestalt und seiner 70 Jahre in Wahrheit etwas kindlich Zappelndes, Ungeduldiges hat. In seinem liebenswürdigen, mit kuriosen Wendungen bezaubernden Deutsch erzählte er von sehr ungemütlichen Dingen, etwa davon, dass Slobodan Milosevic dem Kosovo und der Wojwodina jene Rechte einer autonomen Region aberkannte, die diesen zu den national befriedeten Zeiten Titos garantiert gewesen waren.
In seinem Buch „Exterritorium“ berichtet er davon, wie vor 20, 30 Jahren langsam der Nationalismus seine Stadt und ihr Umland eroberte, gute Nachbarn sich misstrauisch zu beobachten und scheelsüchtig zu vergleichen begannen, wer es besser getroffen habe mit seinem Grundstück, den Behörden, den Kindern, dem Leben; und schließlich: mit seiner Nation. Lászlos 90-jähriger Mutter, die aus ihrem Dorf kaum je herausgekommen war und es nur manchmal gerade bis in die Stadt, bis nach Ujvidék, geschafft hatte, empfahlen eines Tages die Leute, mit denen sie Jahrzehnte Haus an Haus und Garten an Garten gelebt hatte, sie möge doch in ihre Heimat zurückkehren, solange ihr das noch gestattet werde; da sich viele ethnisch zu identifizieren und ihre Ethnie auf einen halluzinierten Nationalstaat zu beziehen begannen, hielten sie Ungarn auf einmal für die wahre Heimat von Lászlos Mutter, ein Land, in dem sie niemals gelebt, ja, das sie ihr Lebtag nicht gesehen hatte.

Mit Lászlo gingen wir aus der Altstadt hinaus, an die Donau hinunter, in ein Restaurant am Fluss, und abends um neun war es noch so schwül, dass sich selbst die Gelsen erschöpft in die Krüge Wein zu stürzen schienen, um raschen Tod im Alkohol zu finden. Lászlo bestellte Fischpaprikasch für alle, wie ich es von den sporadischen donauschwäbischen Festen meiner Kindheit kannte, bei dessen Verzehr es die Ärmeln hochzukrempeln gilt, weil man mit den Händen in die paprikascharfe Brühe taucht, um sich die Fischstücke zu greifen. Er erzählte, dass er hier mit Danilo Kis und Alexander Tisma gesessen war, den zwei großen Schriftstellern, deren jüdische Familien nahezu vollständig ausgelöscht wurden, als die Nationalsozialisten den Balkan eroberten, die Wojwodina dem ungarischen Staat zugeschlagen wurde und auch in Novi Sad die Pfeilkreuzler wüteten. Nur wenige Juden überlebten die Massaker in der Region selbst oder die Konzentrationslager, in die sie verschleppt wurden.
Seit 1944 fehlten in der Batschka aber auch die Donauschwaben, die 200 Jahre lang hier gelebt hatten und dann vor den Partisanen geflüchtet waren oder von ihnen in Lager gesteckt wurden, bezichtigt, es allesamt mit den Besatzern gehalten, ja diese ins Land gerufen zu haben. In Novi Sad und der ganzen Region trafen wir nur wenige und meist sehr alte Leute, die noch Deutsch sprachen; verheiratet mit Rumänen, Ungarn, Montenegrinern, Serben, hatten sie in den letzten Jahrzehnten nur wenig Gelegenheit gehabt, sich in ihrer Muttersprache zu üben. Lászlo glaubt nicht, dass die Wojwodina ihren multiethnischen Charakter wiedergewinnen oder auch nur das, was von ihm übrig geblieben ist, behaupten wird, doch er hofft es immer noch. Seine eigenen Kinder aber haben die Stadt, die Region, den Staat verlassen und leben im Ausland, in Budapest der Sohn, in Paris die Tochter, und deren Kinder werden hierher nur zurückkehren, um, so wie ich, einmal Nachschau zu halten, wo die Eltern aufgewachsen sind.

Gestern war es heißer als vorgestern gewesen, bis dahin der heißeste Tag des Jahres, und heute war es heißer als gestern. Die Kellner im Café sagten es, die Wärter im Museum, sogar der Polizist, den wir in der von Amtsgebäuden gesäumten Mihaila Pupina nach dem Weg fragten, unterließ es nicht, darauf hinzuweisen. Am Trg Galerija fanden wir drei Museen, die uns Schutz vor der Hitze verhießen, darunter die berühmte Galerija Matica Srpska.

Die Matica Srpska ist der älteste und wichtigste serbische Kulturverein. Er wurde nicht hier, sondern 1826 von Flüchtlingen und Emigranten in Budapest gegründet, zum Zwecke, die gerade erst erwachende serbische Nation kulturell zu festigen und ihr Museen, Zeitschriften, Verlage zu bieten, auf dass sie sich in ihrem politischen und nationalen Selbstbewusstsein behaupte. Es gibt fast keine Nation auf dem Balkan, deren wichtigste Kulturvereine und Institutionen nicht in Budapest oder Wien, also in den Metropolen der habsburgischen Monarchie, gegründet worden wären, und die erste Grammatik wie die ersten Wörterbücher fast aller slawischen Sprachen wurden in Wien geschrieben, von wo sie in die Städte der erst erwachenden Nationen und Nationalitäten zurückkehrten und ein, zwei Generationen später zu Waffen gegen die Herrschaft Habsburgs wurden. 1864 übersiedelte die Matica Srpska nach Novi Sad, in eine gleichfalls zur Donaumonarchie gehörende Stadt, von der der große Vuk Karadzic, der im Exil in Wien die serbische Sprache kodifiziert und ihr die verbindliche Schriftform gegeben hatte, sagte, nirgendwo sonst in der Welt lebten so viele Serben wie hier. Belgrad zählt heute fünfmal so viele Einwohner wie Novi Sad, aber damals hatten die Osmanen gerade wieder einen Aufruhr serbischer Patrioten erstickt und Tausende in die Flucht gezwungen.
Serbische Museen zu besichtigen ist ein herzergreifender Jammer. Die Armut im Lande ist so groß und der Eifer der Regierenden so kulturlos, dass sie überall verfallen und manchenorts bereits geschlossen wurden, weil die Gebäude in einem Zustand sind, dass die Exponate außer Haus gelagert werden müssen. Auch das Museum der Srpska Matica von Novi Sad hatte schon bessere Zeiten, aber auch mehr Besucher gesehen als jetzt. Herzlich wurden wir begrüßt, als wären wir seit Monaten die ersten, die das Wagnis auf sich nahmen, hierherzukommen, und weil der Angestellte am Eingang des Museums auf unseren großen Geldschein nicht herausgeben konnte, gewährte er uns mit grandioser Gebärde, die die Nichtigkeit irdischer Reichtümer abzutun schien, einen Nachlass von fast der Hälfte auf die ohnedies niedere Eintrittsgebühr. Die Führerin, eine alte Dame, mit ärmlicher Elegance gekleidet, beeilte sich, uns zur ersten Orientierung durch alle Säle und Stockwerke zu führen, um sich dann arglos zurückzuziehen und uns stundenlang vor den Kunstwerken unbeaufsichtigt verweilen zu lassen. Ich dachte an zu Hause, an ein Museum in Wien, für das ich einmal einen Katalogtext verfasst hatte und in dem mir ein Wärter durch alle Stockwerke auf Schritt und Tritt folgte, stets gewärtig, mich niederzuschlagen, wenn mich der Teufel verführte, eine hereingeschmuggelte Spraydose auf ein Aquarell Waldmüllers zu richten.

Indem es seinen reichen Fundus an Kunstschätzen ausbreitet, legt das Museum der Matica Srpska den Besuchern zugleich nahe, sich ein bestimmtes Bild von der serbischen Geschichte zu machen. Zuerst, in den Jahrhunderten, nachdem die Osmanen das mittelalterliche Königreich der Serben vernichtet hatten, konnte das Serbentum einzig in seinem Glauben an den Gott und die Heiligen der Orthodoxie überleben, deren sichtbare Präsenz die Ikonen waren. Im 18. Jahrhundert wurde auch am Balkan das welthistorisch Neue entdeckt, das Individuum, und gleich in prägnanten, lebensnah anmutenden Porträts festgehalten. Und im 19. und 20. Jahrhundert entfaltete sich, nicht anders als überall in Europa, auch in der bildenden Kunst Serbiens eine Vielfalt an Techniken und Themen, Moden und Marotten.
Dass wir in den großen Museen der westlichen Welt die ewiggleiche Parade von Kandinsky über Picasso bis zu Warhol und Beuys geboten bekommen und sich die Museen nur mehr von ihrer Architektur her unterscheiden, und oft nicht einmal von dieser, hat den Museumstourismus erst so richtig langweilig gemacht, denn der Museumstourist besucht Museen, damit er in ihnen das entdecke, was er schon von anderen Museen her kennt und bei dem er sich durch den Besuch anderer Museen hat überzeugen lassen, dass es sich um bedeutende Kunst handle, für die Museen aufzusuchen seine kulturelle Pflicht ist. Natürlich hat es weniger mit Kunst als mit politischer Macht und finanzieller Übermacht zu tun, dass in den Welt-Museen nur ein enger Ausschnitt der Welt-Kunst für diese gilt und zum Beispiel von den Jahrhunderten, in denen am Balkan auch gezeichnet und gemalt wurde, so gut wie nie etwas zu sehen ist; erst wenn die Künstler des Balkans diesen hinter sich ließen, die Nationalität wechselten und in Paris um die Wette malten, wurden sie, wie Arthur Brauner, um nur diesen einen Rumänen zu nennen, der als französischer Künstler berühmt wurde, beachtet.

Nach meiner Gewohnheit suchte ich mir auch in diesem schönen, kühlen Museum, das fast sein ganzes Personal hatte entlassen müssen, jenes eine Bild aus, das ich mir in Erinnerung behalten wollte. Mehr als dieses eine Bild habe ich noch nie in einem Museum oder einer Kirche geschafft. Es stammte aus dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, ein Selbstporträt in inszenierter, symbolisch aufgeladener Umgebung, das eine Wirtshausszene zeigt: Wir sehen den Maler, der am Tisch einer Kaschemme sitzt, die Karaffe mit fast schwarzem Wein auf dem zerknüllten weißen Tischtuch vor sich, in der einen Hand ein halbgefülltes Glas, in der anderen eine Zigarette. Von rechts hinten neigt sich ein Geiger über seine Schulter, von links betrachten aus dem dunklen Raum gespannt zwei Zecher, was mit dem Gast, der ihnen den Rücken kehrt, und dem Geiger geschehen wird. Mit dem Geiger hat es eine besondere Bewandtnis, trägt er auf seinen Schultern doch einen Totenkopf mit leeren Augenhöhlen, und statt der Finger lässt er seine Knochen, von denen alles Fleisch des Lebens geschabt ist, am Geigenhals wandern; es ist also der Tod, der hinter dem Zecher fiedelt und sich schon ganz nahe an ihn herangespielt hat.

Aber nicht dies ist das Besondere des Bildes, sondern die Miene, die der Porträtierte bei alledem macht. Sein Haarschopf ist kräftig und schwarz wie auch der Schnurrbart, er ist ein gut aussehender, vitaler Mann Mitte 40. Der Tod sitzt ihm im Nacken, doch er trinkt und raucht – und lächelt. Es ist kein Hochmut in diesem Lächeln, das weder verächtlich noch ängstlich oder abgekämpft und resigniert wirkt. Dieser Mann weiß, dass es der Tod ist, der ihm ins Ohr spielt, und er weiß, dass ihm die Stunde bald schlagen wird. Der Tod nähert sich ihm nicht hinterrücks, vielmehr kehrt er selbst ihm heiter den Rücken. Seine Heiterkeit ist es, unangreifbar noch in diesem besonderen, seinem vorletzten Moment, die mich vor diesem Bild innehalten ließ, vor diesem Bild von Stevan Aleksic, der der Enkel des berühmtesten serbischen Kirchenmalers des 19. Jahrhunderts war und 1923, zwei Jahre nachdem er dieses Selbstporträt schuf, in Modos an der heutigen Grenze zu Rumänien im Alter von 47 Jahren gestorben ist. Die Heiterkeit nährt sich aus keiner religiösen Hoffnung, nicht an einer nationalen Gewissheit oder Lehre der Welterlösung, sie hat keinen Grund als sich selbst und, vielleicht, den so oft verleugneten Geist dieser Stadt. Mann sollte die Leute vom Freiheitsplatz, auf dem ihrem Laster, dem großen Zorn, ein Monument errichtet wurde, jedes Jahr einmal in die Galerija Matica Srpska führen, vor dieses Porträt ihrer urbanen Tugend, der heiteren Gelassenheit.

Am späten Nachmittag fuhren wir nach Futog hinaus. Die Synagoge von Novi Sad, ein mächtiger Bau, wird längst als Saal für Musikveranstaltungen verwendet, auf dem jüdischen Friedhof, der sich die Futoska noch ein wenig weiter stadtauswärts befindet, konnten wir kaum neue Gräber entdecken, hier stirbt nur mehr selten ein Jude, weil kaum mehr Juden hier leben. Die Straße war viel befahren, Novi Sad franst sich wie die meisten größeren Städte an den Rändern in unansehnliche Gewerbezonen, Wohnsiedlungen, Einkaufszentren aus. Irgendwann stand am Straßenrand das Ortsschild von Futak, und wir wären die Straße, die durch hässliche Vororte geführt hatte, weitergefahren, so wenig schien dieses Futak zu versprechen.

Kaum ist man von der Durchzugsstraße abgezweigt, gerät man jedoch in eine andere, dörflich anmutende Welt, die von einer langen, geraden Straße durchzogen wird, an deren einem Ende die orthodoxe, an deren anderem die katholische Kirche steht. Von dieser Straße weg ziehen rechtwinkelig Gassen ab, die miteinander wieder über Gassen in rechtem Winkel verbunden sind – die geradezu geometrische Ordnung einer überschaubaren und, wie meine Mutter es oft erzählt hatte, von unerträglich strenger sozialer Kontrolle geprägten Welt. Die orthodoxe Kirche war hier, im habsburgischen Teil Serbiens, von der katholischen fast nicht zu unterscheiden, in der Batschka und im Banat waren viele orthodoxe Kirchen sogar schönbrunnergelb gestrichen, einzig die andere Form des Kreuzes am Kirchturm markierte ihre Zugehörigkeit zur Orthodoxie.
Neben die alte orthodoxe Kirche war vor Kurzem mitten in deren Kirchhof hinein ein protziger Neubau in byzantinischer Form gesetzt worden, sodass jetzt dicht neben der alten, in barockem Stil gehaltenen Kirche eine neue stand, die in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts im Stil des 15. errichtet wurde. Diese skurrile sakrale Architektur ist von der serbischen Synode vor einigen Jahren zur Norm erklärt worden, sodass alle neuen Gotteshäuser des Landes so tun, als wären sie lange vor der Erfindung der Moderne, als die Welt noch heil und ganz war und im Licht der östlichen Sonne erstrahlte, erbaut worden.

Die Gassen, die von der Hauptgasse abzweigten, waren von bescheidenen Einfamilienhäusern gesäumt, deren kleine Gärten intensiv genutzt wurden und in denen dicht gedrängt Bohnenstangen, Tomaten- und Paprikastauden, Apfel- und Marillenbäume standen. Ich merkte nicht, wie es geschah, aber mit einem Mal spürte ich, dass die Donau, der Fluss meiner Kindheit und aller Erzählungen, ganz nahe sein musste. Vor uns erhob sich eine kleine Aufschüttung von Erde, auf der ab und zu ein Radfahrer vorbeifuhr. Und von diesem Wall aus senkte sich eine Wiese, die am unteren Ende mit Bäumen und Sträuchern bestückt war, zum Fluss hinab, den wir keine hundert Meter vor uns fließen sahen. Alle Kinder und Jugendlichen der Gegend mussten an seinem Ufer den Tag verbracht haben, so laut war ihr Lärmen und Toben.
Kein anderes Vergnügen, hatte meine Mutter noch am Ende ihres Lebens erzählt, habe sich mit jenem messen können, das es ihr bereitete, als Mädchen die Sommertage am Ufer der Donau zu verbringen, in den Fluss zu springen, sich ein paar hundert Meter abwärts treiben zu lassen und dann wieder auf dem Wall zurückzugehen. Und der Höhepunkt des Badetages war es gewesen, wenn der albanische Eisverkäufer mit seinem Bicikel, wie die Fahrräder hießen, nachmittags vorbeikam, mit einer großen Glocke bimmelte, „Sladoled“ rief und die Kinder vom Fluss zum Wall hinaufstürmten, um sich ein Eis zu kaufen.

Die Wirklichkeit zeigt sich manchmal bereit, die Geschichten, die erzählt werden, zu bestätigen, und als wir aus dem Ort auf den Wall traten, die Donau vor uns, die vielstimmige Daseinsfreude der Kinder, die sich vergnügten, im Ohr, hielt wie bestellt ein Mann sein Fahrrad mit einem Anhänger keine zehn Meter von uns entfernt an, hob eine Glocke, begann kräftig zu bimmeln und „Sladoled“ zu rufen, worauf unverweilt vom Fluss die Kinder heraufstürmten, dahinter etwas langsamer die Jugendlichen näher schritten und nach diesen die jungen Liebespaare, die eng umschlungen gingen. Wir standen fassungslos, meine Frau, die die Geschichten vom Sommer an der Donau noch selbst von meiner Mutter gehört hatte, die Freunde Ria und Robert, denen ich auf der Fahrt durch Sirmien erzählt hatte, was mir selbst von dieser kleinen Welt und einer so lange zurückliegenden Zeit erzählt worden war, und ich.
Später, in der katholischen Kirche, nickte ich meiner Mutter in der Reihe der Mädchen zu, die zur Erstkommunion in die Kirche einzogen: Ja, jetzt bin ich doch hierhergekommen! Und wie sie mir, nur ganz kurz, um dann wieder andächtig bei ihrer Sache zu sein, zulächelte, kam mir vor, dass sie sich wieder einmal bestätigt fühlte in ihrer Überzeugung, besser zu wissen als ich, was das Richtige für mich war. Das schöne Mädchen vor Augen, das meine tote Mutter war, fasste mir jäh die Gewissheit ans Herz, dass die Zeit, mich darüber zu ärgern, unwiderruflich dahin war.

Geboren 1954 in Salzburg. Autor, Literaturkritiker, Herausgeber von „Literatur und Kritik“. 2012 ist im Zsolnay Verlag herausgekommen: „Ruhm am Nachmittag“, 2013: „Das Erste, was ich sah“. Lebt in Salzburg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2013)

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