Schau, Seppl, schau!

(c) Constantin-Verleih
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Über meinen Winnetou der Kindheit. Über meinen Vater, den Enz-Bauern in Kamering im Drautal. Über mein Leben im Kino. Über das Schauen, das Kaputtschreiben und das Nicht-mehr-reden-Können.

Mitte der Sechzigerjahre kamen die Karl-May-Filme in der österreichischen Provinz in die Kinos. Als „Winnetou I“ inFerndorf auf der Leinwandflimmerte und meine Schulfreunde, die Söhne des Lehrers Emanuel Wenger, mir stolz auf der Dorfstraße berichteten, dass sie mit ihrem Vater mit dem weißen Volkswagen von unserem Heimatdorf Kamering ans andere Ufer der Drau, nach Ferndorf, fahren, um sich den „Winnetou“-Film anzuschauen, fragte ich den Lehrer, ob ich mitfahren dürfe. Bis dahin hatte ich noch nie einen Kinosaal betreten, nie eine Leinwand gesehen. Ich gingan einem frühen Nachmittag zu meinem Vater, der sich neben dem Plumpsklo in der Getreidemühle aufhielt, in stundenlanger Arbeitwieder einmal das ohrenbetäubende Mahlwerk reparierte mit den immer wiederkehrenden Fluchworten „Teufel! Teufel! Doppelteufel!“, und fragte ihn, ob ich mit unserem Oberlehrer, wie wir ihn respektvoll nannten, und mit seinen beiden Söhnen ins Kino gehen dürfe. „,WinnetouI‘ spielt!“, rief ich im Lärm der Mühle dem Vater zu.

Er reparierte weiter verbissen das Mahlwerk, gab mir aber keine Antwort. Nachdem ich ihn mehrere Male gefragt hatte, verließ ich die mit vielen vom weißen Mehlstaub beschwerten, tief herunterhängenden Spinnweben versehene Mühle, in der auf jedem Gegenstand ein zentimeterdicker Mehlfilm lag, ging an der schlampig abgedeckten Jauchegrube vorbei, setzte mich eine Zeit lang auf den hölzernen Rand des Plumpsklos mit dem breit ausbetonierten Schlund, in dem dann und wann ungeliebte neugeboreneKatzen für ewig und immer verschwanden, blätterte in der „Kärntner Kirchenzeitung“und kehrte in die Mühle zurück. Wieder bekam ich vom Vater keine Antwort, ging wieder aufs Plumpsklo und raschelte nervös in der Zeitung. Die Mühle ratterte inzwischen in regelmäßigem Ton, sie war repariert, der Vater war von oben bis unten mit Mehl bestäubt, selbst an seinen Augenbrauen hing der Staub des frisch aufgemahlenen, warmen Getreides, weiß waren auch seineschmalen, trockenen Lippen, selbst an den Bartspitzen hing da und dort als winziger weißer Punkt ein Mehlstaubpartikel. Laut rief ich in das klappernde Geräusch der reparierten Getreidemühle hinein: „Tate! Darf ich mit dem Lehrer ins Kino gehen? ,Winnetou I‘ spielt, fünf Schilling kostet es. Der Eman und der Erich kommen auch mit!“ Ich kam im Ganzen fünf- oder sechsmal bei ihm vorbei, es dauerte über eine Stunde, bis der am ganzen Körper mit Mehl bestäubte Vater nickte,aber nach wie vor keinWort sagte. Zum Schluss flehte ich nur mehr in einem jammernden Tonfall: „Tate! Tate! Tate!“

Am Abend ging ich in den Stall und bat ihn ums Kinogeld. Ich hatte Angst, dass er sein wortloses Versprechen schon wieder vergessen oder es sich überhaupt anders überlegt hatte. Er schob seinen speckigen, dunkelgrauen Arbeitshut, der wohl ein halbes Jahrzehnt nicht gewaschen wurde, nachdenklich auf seinen Hinterkopf, stand wortlos vom Melkerschemel auf, ging über den Hof, ins Haus und in die Küche und nahm aus dem obersten linken Fach der Küchenanrichte seine schwarze Brieftasche heraus, gab mir wortlos das Geld und verschwand in den Stall, hockte sich, gedankenverloren mit seinen beiden Händen den Kopf aufstützend, zur pumpenden Melkmaschine zwischen zwei Kühe.

Neben der schwarzen, abgegriffenen Brieftasche befanden sich in diesem Fachauch sein elektrischer Philips-Rasierapparat und die mechanische Wehrmacht-Alcoso-Haarschneidemaschine-Solingen, mit der er vor allem mich und meinen jüngeren Bruder alle paar Monate malträtierte. Auf der zerfledderten roten Schachtel, auf der dieseHaarschneidemaschine abgebildet war mit den mich immer bedrohenden, kleinen, den Daumen stützenden Hörnern an den Haltegriffen, stand: „Máquina para cortar el pelo.“ Die beiden älteren, auf dem Hof mitarbeitenden Brüder durften bereits zum Frisör Ripl ins Nachbardorf Paternion fahren und sich dort die Haare schneiden lassen. Wenn der Vater dann einmal sagte: „Ihr schaut's schon wieder aus wie die Beatles!“, wusste ich, was uns in den nächsten Tagen blühen würde. Den Tag und die Stunde, wann sich das Haarschneideritual abspielen sollte, bestimmte ausschließlich er. Jedes Mal, wenn er mir mit dieser oft in die Kopfhaut beißenden Wehrmachtsmaschine meine Haare scherte vom Kragen hinauf bis zur Fontanelle und an unseren Köpfen eine Hitlerjungenfrisur fabrizierte, hatte ich das Gefühl, vom eigenen Vater –von wem sonst? – geköpftzu werden, weit über ein Jahrzehnt hinaus hat ermich mehrmals im Jahr fürchterlich zugerichtet.Die Haarschneidemaschine mit denzangenartigen Handhebeln war aus zwei kammartigen Messern zusammengesetzt, von denen das untere, um Verletzungen an der Kopfhaut zu vermeiden, mit den abgerundeten Zinkenspitzen fest fixiert war und sich das darüberliegende, bewegliche Messer durch das rhythmische Zusammendrücken der beiden Handhebel hin- und herbewegte und die Haare abschnitt. Von den unablässig herabrinnenden Tränen klebten die vom Haupt herabrutschenden Haare auf meinen Wangen. Hätte ich nicht in die Schule gehen müssen, hätte ich mich aus Scham tagelang im Schlafzimmer verkrochen.

Nur einmal entstand eine heitere Stimmung, in der ich die Hoffnung hatte, dass auch wir, mein jüngerer Bruder und ich, endlich zum Frisör Ripl nach Paternion würden fahren können, als nämlich die Haarschneidemaschine nicht mehr funktionierte, der Vater das Gerät auseinanderschraubte, mit Nähmaschinenöl beträufelte, zusammenschraubte und damit neuerlich versuchte, mirdie Haare zu scheren. Als die Maschine trotzdem nicht funktionierte, warf er sie, „Teufel! Teufel! Doppelteufel!“ fluchend, in die Küchenecke, an die vor dem Herd stehende Holzkiste. Reumütig, mit hochrotem Kopf, vielleicht ein Gerät zerstört zu haben, hob er sie auf, versuchte es noch einmal, und zu meinem Schrecken funktionierte die Haarschneidemaschine wieder und ratterte über meinen Hinterkopf.

Als ich nach meinem Bettelgang in der engen, weiß bestäubten Getreidemühle das Geld für die Kinoeintrittskarte erhalten und auch den Lehrer über mein Glückslos bei frischem Mehlgeruch informiert hatte, zog ich meine schönsten Kleider an, die ich von meiner Tante und Taufpatin, der „Gote“, wie wir sie nannten, der kinderlosen Ragatschnig Tresl, neben einem silbernen Schokoladeosterlamm mit der Auferstehungsfahne aus Marzipan und einem großen Schokoladeosterhasen, einem selbst gemachten, mit Vanillestaubzucker bestreuten Marmorgugelhupf, in dem ein Zehnschillingtaler steckte, zu Ostern bekommen hatte, am Karsamstag, immer am Auferstehungstag. In der Mitte desGugelhupfes, in einem kreisrunden Loch, steckte ein gekochtes, gefärbtes Osterei mit dem färbigen Abziehbild eines die Auferstehungsfahne haltenden Jesus, der sein weißes Leichentuch um Hüften und Brust geschlungen hatte. Beim Eierpecken, wenn mein jüngerer Bruder und ich die gefärbten Ostereier in einer Ecke aufstellten und Geldstücke danach warfen, in der Hoffnung, dass sie im gekochten Ei auch stecken bleiben würden, versuchte ich, den die Auferstehungsfahnehaltenden Jesus mit dem Zehnschillingtaler ins Herz zu treffen.

Hatte ich ihn schwer verletzt oder überhaupt getroffen, sodass an der Eierschale sein Kopf und sein Gesicht zur Unkenntlichkeit zersplitterten, ging ich aufs Plumpsklo, zog meine Hose hinunter und sprach das „Vaterunser“ und das mich wieder für ein paar Stunden oder für ein paar Tage aus der Hölle erlösende „Schutzengelmeingebet“,denn ich tauchte wieder ins Höllenbild des „Katholischen Religionsbüchleins“ ein, das ich aus meinem schweinsledernen Schülerranzen zog, den mir einmal zu Ostern die Ragatschnig Tresl geschenkt hatte, mit dem Höllenbild, das mich fast ein Jahrzehnt lang beängstigte und von dem im samstägigen Religionsunterricht der Pfarrer Franz Reinthaler die Geschichte vom reichen Mann erzählte, der sich „in Purpur und feine Leinwand“, wie er wörtlich und höhnisch sagte, kleidete und alle paar Tage ein pompöses Mahl gab, während der arme Lazarus mit den Geschwüren an den Beinen, an der Türschwelle kniend, sich gerne von den abfallenden Brotbröckchen ernährt hätte. Hunde machten sich an ihn heran und leckten an seinen Geschwüren. Als der Arme starb, wurde er, so der Pfarrer vor den gebannt zuhörenden Schulkindern, von den Engeln in den Himmel hinaufgetragen, in den Schoß Abrahams. Der Reiche, der in die Hölle kam, rief in den Himmel hinauf: „Vater Abraham! Erbarme dich meiner und sende den Lazarus zu mir! Er soll seine Fingerspitze ins Wasser tauchen und meine Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesen Flammen!“ Dabei benässte der Pfarrer seine Fingerspitze und hielt vor den mit weit aufgerissenen Augen in der Schulbank sitzenden Kindern seine Hand in die Höhe und bewegte den feuchten Zeigefinger. Ein gehörnter, haarloser, roter Teufel mit spitzem Kinn, spitzen Ohren, lang gezogenen, buschigen Augenbrauen schüttete mit seiner ausgestreckten rechten Hand dem zwischen den hochzüngelnden Flammen in der Hölle liegenden reichen Prasser, um dessen Oberkörper sich eine lange grüne Schlange gewunden hatte, auch noch mit einem Becher Galle in den Mund. Etwas erhaben auf dem Höllenbild im Religionsbuch, links oben, kniete der erlöste, dankbare Lazarus vor dem gütigen Abraham und legte die Arme in dessen Schoß.

Besonders in der Zeit, als ich meinem Vater aus dem Weg gehen musste, wir uns nicht riechen konnten, ich ihn einmal, vom Friedhof kommend, hundert Meter von ihm entfernt, über die Dorfstraße Richtung Friedhof gehen sah und ich schließlich, wortlos an ihman der anderen Seite der Dorfstraße vorbeigehend, beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, ich spürte starke Kreislaufstörungen undkonnte nicht mehr geradeaus gehen, erblickte ich im Gesicht dieses Teufels immer wiederdie dämonische Seele meines Vaters.

Aber dennoch abends, wenn er bei seinemNachtmahl – er tauchte in eine Katzenschüssel einen Krapfen in den Malzkaffee – hinter dem Tisch unter dem kleinen Radio saß, in der „Bauernzeitung“ und in der „Volkszeitung“ blätterte, setzte ich mich neben ihn, las in einem Karl-May-Buch und schaute immer wieder auf sein rechtes Ohr, das mich maßlos anzog, zählte die Haare und die kleinen dunklen Punkte an der Ohrmuschel und dachte traurig daran, dass auch er eines Tages sterben würde, ich ihn nicht mehr würde riechen können nach der Stallarbeit, am Abend, beim Nachtmahl. In einem Raufhandel mit meinem jüngeren Bruder hatte ich einmal die „Volkszeitung“ zerrissen. Sie war sein allabendliches Heiligtum, in dem er nachder Arbeit, vor dem Schlafengehen, blätterte. Ich ging mit der zerrissenen Zeitung in den Stall und beobachtete ihn eine Zeit lang beimFüttern der Stiere. Als er sich wieder zwischen zwei Kühe auf den Melkerschemel setzte, trat ich vor ihn hin: „Tate! Ich habe die Zeitung zerrissen!“, sagte ich mit gebrochener Stimme und einem reumütigen Klang. Er nickte mit dem Kopf, sagte aber kein strafendes Wort, er zeigte sich zufrieden mit meiner Beichte. Ich lief mit der Zeitung über den beschneiten Hof, klebte die auseinandergerissenen Teile, so gut es ging, miteinem durchsichtigen Klebestreifen, den ich aus dem zerknitterten, hellbraunen, schweinsledernen Schulranzen nahm, zusammen und legte sie auf den Küchentisch, an seinen Sitzplatz.

Ich putzte meine braunen Lederschuhe, kleidete mich in meinen Sonntagsanzug, den ich zu Ostern von der Tresl bekommen hatte, lief mit meiner dunkelblauen, weiß gepunkteten Krawatte in den Stall und bat ihn, dass er mir einen Knoten binden möge. Nachdem er mit seinen nach Stallkot und frischer Milch riechenden Händen den Krawattenknoten zwischen den Zipfeln des Hemdkragens an meinen Adamsapfel gedrückt hatte, schaute er mich noch von oben bis unten an und setzte sich wieder wortlos zwischen zwei Kühe auf den dreibeinigen Melkerschemel. Rechtzeitig tauchte ich, in Schale geworfen, vor dem Schulgebäude auf, in dem die Lehrerfamilie gegenüber dem großen Dorfkruzifix im ersten Stock wohnte. Im Parterre des Schulgebäudes befand sich der einzige und große Klassenraum, in dem vier Schulstufen gleichzeitig unterrichtet wurden. Mit dem weißen Volkswagen fuhren wir von Kamering nach Mauthbrücken, am Elektrizitätswerk und an der Stelle vorbei, wo ich erst vor wenigen Monaten ein bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglücktes Kind, das mit Packpapier abgedeckt war, im Feld liegen sah – neben dem Packpapier sah man die Gummihosenleiter des totenKindes im Gras liegen –, über die Draubrücke, in das meinem schattseitig gelegenen Heimatdorf gegenüberliegende Ferndorf, an die Sonnseite.

Nachdem ich eigenhändig am Kinoschalter meine erste Eintrittskarte gekaufthatte, gingen wir rechtzeitig über eine breite Stiege hinauf, in den großen Festsaal des Heraklithwerkes hinein, in dem nach einer Wartezeit von mehr als einer Viertelstunde – wir waren die ersten Besucher – zu meinem Erstaunen langsam und elektrisch der Vorhang aufging. Ich hatte erwartet, dass der Filmvorführer oder die Billeteurin den Vorhang wegziehen und die Wand entblößen würden, das Wort „Kinoleinwand“ kannte ich noch nicht. Im Vorspann, bevor vom Constantin-Verleih der Hauptfilm angekündigt wurde, spielte sich auf der Leinwand eine Filmszene ab mit einem ganz langsamen Bewegungsablauf. Der neben mir sitzende Lehrer drückte seine Schulter an meine und flüsterte mir ins Ohr: „Das ist jetzt Zeitlupe!“ „Das kenn ich schon!“, flüsterte ich ihmstolz ins Ohr. Ich kannte es vom Fernsehen, aus dem Zimmer meines Großvaters mütterlicherseits, als John F. Kennedy ermordetwurde und man auf dem Bildschirm immer wieder auch in Zeitlupe den sich langsam vor und nach hinten beugenden und sich im Todeskampf schüttelnden Oberkörper des Präsidenten sah.

Einige Jahre später, als ich im Alter von 15 Jahren in Villach in die Handelsschule ging und einmal nicht – wie üblich – spätestens um halb drei Uhr nachmittags aus dem Omnibus stieg, sondern diesmal erst um halb fünf nach Hause kam, denn ich hatte um die Mittagszeit im Bahnhofskino, in dem die Kinosessel schlotterten, wenn am ersten Bahnsteig ein 200 Meter langer, Abertausende Tonnen schwerer Güterzug vorbeidonnerte, den Agentenfilm „Mister Dynamit – Morgen küsst euch der Tod“ angeschaut, in dem der verehrte Old-Shatterhand-Darsteller Lex Barker die Hauptrolle spielte, und ich nach der verspäteten Ankunft in meinem Elternhaus bei Tisch saß und mir die Mutter schnippisch die aufgewärmte Suppe servierte, ging hinter meinem Rücken die Tür auf. Der Vater erschien in seiner blauen Arbeitsmontur und mit seinen nägelbeschlagenen Goisererschuhen, mit seinem speckigen, grauen Hut auf dem Kopf, mit seiner zusammengeflickten, blauen Arbeiteruniform – er war der einzige Bauer im Dorf, der eine blaue Arbeiteruniform trug –, einen Zweitagebart in seinem von Wind, Wetter und Sonne gebräunten, spitzen Teufelsgesicht mit den zentimeterlangen Augenbrauen, hielt mir einen kotbeschmierten Hanfstrick, mit dem Kälber auf dieWelt gezogen wurden und mit dem sich die Dorfjugend im Stall erhängte, unter die Nase, sodass ich tatsächlich den Strick in einer Mischung aus Kot und Hanf riechen konnte, und sagte donnernd und zähneknirschend, aber mit ebenso gebrochener und verzweifelter Stimme: „Wenn du noch einmal so spät heimkommst! Schau ihn dir an! Schau ihn dir genau an!“ Danach drehte er sich um und verschwand zur Tür hinaus. Mit hochrotem Kopf und schlotternden Beinen löffelte ich meine Suppe aus. Die Mutter empfand ich als Verräterin, sie hätte nach der Frage nach meinem Verbleib auch eine Ausrede finden können, aber die vollkommen sprachlose Frau konnte nur sagen, was geschehen war: Es ist schon halb fünf, und er ist noch nicht aus der Schule zurück.

Es war auch die Zeit, in der mich der Vater ständig wegen meiner Beatlesfrisur als „Gammler“, „Zottel“, „Hippie“ beschimpfte, mich einen „Bettelstudenten“ nannte, da er für meinen Besuch in der Handelsschule die täglichen Omnibusfahrten zahlen musste, eine Omnibuswochenkarte, die 50 Schilling kostete, die ich mir jeden Sonntag von ihm erbetteln musste, hingegen meine anderen Brüder mit den gepflegten Haarschnitten und Frisuren eine Lehre als Handwerker absolvierten und bereits seit ihrem 14.Lebensjahr ihr eigenes Geld verdienten. Seit mir der Vater dieses mit Stallkot beschmierte Geburts- und Todeswerkzeug beim nachmittäglichen Suppenlöffeln unter die Nase gehaltenhat, weine ich auch heute noch fast bei jedem Kinofilm, selbst bei Kinderfilmen brecheich vor der Kinoleinwand zusammen und erinnere mich dabei manchmal an ein Vorarlberger Kino, das „Invalidenkino“ genannt wurde, in dem sich ein 19-jähriger Kärntner hinter der Kinoleinwand erhängt hatte. Erst als man im Kino nach mehreren Tagen den Verwesungsgeruch wahrnahm, wurde der Selbstmord entdeckt. „Tod in Cinemascope!“, schrieb damals die „Kärntner Tageszeitung“ in großen Lettern auf der Titelseite. Ich malte mir Szenen aus den Karl-May-Filmen auf der Leinwand vor, während langsam der Leichnam des jugendlichen Selbstmörders hinter der Leinwand zu verwesen begann, seine Augäpfel und seine Hoden zu Boden fielen.

Die Plakate für die Karl-May-Filme wurden von zwei Arbeitern, die ihren Lieferwagen mit Kleisterkübeln und zusammengerollten Plakaten vor das Heustadeltor stellten, auf die verwitterten und maroden Bretter der Holzwand geklebt, unweit von einem üppig Früchte tragenden Aprikosenbaum, dessen Äste sich um die Ecke zur plakatierten Heustadelwand hinbogen, den mir mein Onkel, der Ragatschnig Motl, mein Göte, geschenkt und auch eingepflanzt hatte, auf den ich, besonders während der Ernte, unendlich stolz war – der Mutter körbeweise Marillen, „meine Aprikosen“, in die Küche brachte, sie Marillenknödel kochte, Kompott und Marmelade daraus machte – und den eines Tages, als ich von der Handelsschule nach Hause kam und an der mit Plakaten beklebten Heustadelwand vorbeiging, der Vater und der älteste Bruder, der zukünftige Hoferbe, weggeholzt hatten, obwohl wir auf unserem Bauernhof nur einen kleinen Garten mit wenigen Obstbäumen hatten, ich die vom Nachbarsbaum auf den Misthaufen gefallenen Zwetschken aufsammelte, manchmal vom Nachbarbauern dabeierwischt und beschimpft wurde, weil ich die auf unseren Misthaufen gefallenen Zwetschken gestohlen hatte. „Ich reiß dir gleichden Arsch aus!“, rief der kaltblütige röm.-kath. Bauer Thonhauser mit rauer Reibeisenstimme und dem Klang seiner herrschsüchtigen, immer wieder die Dorfleute einschüchternden Kehle, der einmal meinem Vater erzählte, dass er die vielen unerwünschten neugeborenen Katzen nicht, wiees üblich war im Dorf, in einen Jutesacksteckt, mit einem Stein beschwert und inder Drau verschwinden lässt, sondern die noch blinden Katzen beim Schwanz packt und so lange am Schädel an die Stallmauer schlägt, bis sie tot sind, das Blut aus ihrem Maul tropft, das Blut über die mit Stallkot besprenkelte, gekalkte Wand rinnt und die Katzenleichen im meterhohen Misthaufenbegräbt.

Das Abholzen des Marillenbaumes vom Vater und seinem Komplizen, meinem ältesten Bruder, hatte ich als ein Komplott zweier verwandtschaftlicher Bauersleute gegen michempfunden, denn mir gehörte auf dem Hof außer diesem Aprikosenbaum nichts, garnichts, keine Gladiole und keine rosarote Fleischblume, kein Strauß Petersilie, kein Maggikraut, keine Katze, kein Hund, außervielleicht die unfassbaren, zwischen Haus und Stall durch die Luft zuckenden Schwalben und die vielen Spatzen, die sich vor dem Stall an das Hühnerfutter heranmachten, die wir mit Steinschleudern, einem eingefädelten Lederfleck zwischen einer Haselnussastgabel, verjagten, die zwischen den Hühnern, ausgestreuten Weizenkörnern und heranschießenden Steinchen hin- und hertrippelten, die wir aber nie trafen, nur verwirrten, von der einen in die andere Futterecke jagten.

Auch die Pfarrerköchin, die Maria Köhldorfer, die wir „Pfarrermarie“ nannten, hatte mitbekommen, dass ichKarl-May-Bücher lese. An einem Weihnachtsabend,nach der Christmette in der eiskalten Kirche, nachdem wir mit schlotternden Beinen „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ gesungen hatten – wir trugen die eingeweidegrauen, langen Unterhosen, die wir zur Bescherung bekommen hatten –, gab mir die Pfarrermarie vor dem schmiedeeisernen Friedhofstor ein Paket und sagte: „Versteck's, versteck's nur schnell!“ Die Dorfleute sollten es nicht sehen. Mit dem Päckchen unter dem Anorak ging ich die beschneite Dorfstraße hinauf, watteweicher Schnee knirschte unter meinen Fußsohlen. Im ersten Stock der Bauernhäuser, wo die Vorhänge am Heiligen Abend nicht zugezogen waren, sah man die Wipfel und die obersten Zweige mit Wachskerzen beleuchteter, mit Lametta und Engelshaar geschmückter und mit Süßigkeiten behängter Christbäume. Lautlos fiel zentimeterhoch auf den Stromleitungen liegender Schnee wie ein weißes Band, das in der Luft zerstob, von den Stromleitungen. An der Hausmauer klopfte ich den Schnee von den Schuhen, der sich zentimeterdick unter den Sohlen der nägelbeschlagenen Schuhe gesammelt hatte. In der Küche griff ich in meine Jackentasche und streute eine Faust voll knisternd aufrauchender, schnell schmelzender, farbiger Weihrauchkörner auf die heiße Herdplatte, die ich in der Sakristei heimlich eingesteckt hatte. Ich setzte mich hinter den Küchentisch, beim Herrgottswinkel, der immer mein Platz war – diefarbigen Lupinen krümmten sich im Herbst unter dem Herrn der genagelten Knochen hinter meinem Rücken –, und schnürte das Päckchen auf, nahm „Im Sudan“ und„Durchs wilde Kurdistan“ aus dem knisternden, grünen Weihnachtspapier, auf dem goldene und silberne, körperlose, trompetende Engelsköpfe mit Flügeln abgebildetwaren. Ich öffnete die Bücher, steckte meine Nasezwischen die Seiten undroch lange daran.

Und es war auch aneinem Winterabend, als es draußen schneite, nurmehr der Vater und ich alleine in der Küche waren, der Knecht auch schon seine Bude aufgesucht hatte, der Vater auf dem noch warmen Sparherd hockte und die Zeitungsflügel des „Kärntner Bauern“ ausgebreitet hielt, als ich in „WinnetouIII“ auf die lange Todespassage stieß, der sterbende Winnetou die Hände von Old Shatterhand an die blutige Brust zog und flüsterte: „Schar-lih, nicht wahr, nun kommen die Worte vom Sterben?“ Als dann vom Ave-Maria, das Winnetou noch hören wollte, der letzte Ton verklungen war, er nicht mehr sprechen konnte, Old Shatterhand sein Ohr ganz nahe an seinen Mundlegte und der Häuptling der Apachen flüsterte:„Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Leb wohl!“, ein Blutstrom aus seinem Mund quoll, Winnetou noch einmal die Hände seines Freundes drückte und schließlich die Glieder von sich streckte, da weinte ich vor meinem nichts ahnenden Vater so bitterlich, dass sichauf dem Fußboden der Küche eine kleine Lache mit schmutzverschmierten Tränen bildete.

Selbst im Alter von 15 Jahren schaffte ich es noch nicht, von den Karl-May-Büchern loszukommen. Ich ging bereits in Villach in die Handelsschule, fuhr dann und wann nach Spittal an der Drau und begann in der Buchhandlung Baldele die gebundenen Karl-May-Bücher zu stehlen, bis ich einmal, bevor ich wieder mit einem Buch unter Pullover und Hosenbund die Buchhandlung verlassen wollte, das ganze Personal, mich beobachtend, in Reih und Glied hinter der Verkaufsbudel neben der Kasse stehen sah und spürte, dass man jetzt auf den Augenblick wartete, bis ich mit einem Karl-May-Buch auf die Straße hinaustreten würde. Ich stellte das Buch ins Regal zurück und betrat die Buchhandlung jahrelang nicht mehr.

Ein paar Jahre später, als ich mein Heimatdorf Kamering verließ und nach Klagenfurt zog und mir vornahm, da ich die Handelsschule nicht abgeschlossenen hatte, die Abendhandelsakademie zu besuchen, um dieMatura nachzuholen, und in der Villacherstraße111 ein kleines Zimmer mit Waschbecken bezog, ereilten mich die Karl-May-Bücher ein letztes Mal, denn ich verdiente beim Eduard-Kaiser-Verlag meinen Lebensunterhalt in der Stadt, wo ich an der Produktion von Karl-May-Büchern teilnahm und die Maschine bediente, in der die Bücher geleimt wurden, mir beim Bedienen der Maschine der weiße, klebrige Leim über den Handrücken rann und meine Fingernägel verschmierte. Paketweise trug ich die fertigen, noch stark nach frischem Leim riechenden Bücher in mein Zimmer und stellte sie ins Regal, inzwischen neben den „Abschied von den Eltern“ von Peter Weiss, dem „Wunschlosen Unglück“von Peter Handke, „Licht im August“ vonWilliam Faulkner.

Wiederum Jahre später, als ich nach der Niederschrift mehrerer Romane im Alter von 29 Jahren die Sprache verloren hatte, mich als sprachloses Elendshäufchen empfand, das zurückgefallen war in die Sprachlosigkeit seiner katholischen Dorfkindheit, und nach mehreren elend-luxuriösen, mit Literaturpreisen ausgestatteten Schriftstelleraufenthalten in Berlin, Paris, Wien, Rom und Venedig vor Einsamkeit, Verlorenheit und Sprachlosigkeit zu verkümmern drohte, inParis Tag für Tag am Ufer der Seine stand und an Paul Celan dachte, der dort in dieFluten gegangen war – an welcher Stellewohl?, dachte ich immer wieder, das Seineufer entlanggehend –, und reumütig zu meinem Vater in mein Geburtsdorf Kamering zurückkehrte, in der Hoffnung, dass ich in dem Dorf, das ich, wie die Leute sagten,„kaputtgeschrieben“ hatte, meine Sprachewürde wiederfinden und eine Heimkehr des verlorenen Sohnes würde schreiben können, wollte ich meinen Vater einmal verführen, damit er mit mir ins Kino gehe, mit dem Omnibus nach Villach zu fahren, auch er hatte keinen Autoführerschein, und ihm den Film „Auf Wiedersehen, Kinder“ von Louis Malle im Stadtkino zu zeigen. Auch in der Hoffnung wollte ich mit ihm ins Kino gehen, dass er mir dann wieder vom Krieg erzählen und ich wieder alles aufschreiben würde. Aber er speiste mich mit einer deutlichen Handbewegung seiner krallenartigen Finger und mit den Worten ab: „Das ist nur Augenschmaus! Ich war schon 70 Jahre nicht mehr im Kino. Ich geh nicht mehr ins Kino!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2013)

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